Berlin

Schikane und Hoffnung - Aktuelle Nachträge zur Charlottenburger Tragödie

„Charlottenburger Tragödie” lautete unser Beitrag in SIGNAL 6/2003. Das hat sich 2004 wie erwartet fortgesetzt. Und doch gibt es jetzt Zeichen von Hoffnung


IGEB S-Bahn und Regionalverkehr

1. Mär 2004

Zur Erinnerung: Seit 14. Dezember 2003 können die Fahrgäste die unterbrochene S-Bahn-Strecke zwischen den Bahnhöfen Zoologischer Garten und Charlottenburg nicht mehr mit dem RE 1 umfahren. Geblieben ist neben dem Schienenersatzverkehr (SEV) per Bus lediglich der hart erkämpfte stündliche Halt des RE 3 und ein reduziertes Angebot bei der RB 10: Morgens fahren drei Züge über Charlottenburg hinaus zur Friedrichstraße, nachmittags starten drei in Friedrichstraße zur Fahrt über Charlottenburg nach Nauen. Aber in der jeweiligen Gegenrichtung werden keine Fahrgäste mitgenommen, die Züge fahren leer. Das erinnert an den in jedem Verkehrsbetrieb gern gehandelten Spruch: Wenn da nicht diese Fahrgäste wären, würden wir pünktlich und störungsfrei fahren.

Besonders ärgerlich ist, dass die DB den RE 6 von Neuruppin - Falkensee kommend nicht noch bis zum 18. April nach Jungfernheide fahren lässt, sondern seit 14. Dezember wieder in Charlottenburg endet. Frech ist, dass dieser Unfug auch noch als Umsetzung von Fahrgastwünschen verkauft wird. Es mag ja sein, dass einige in Charlottenburg nun wieder am für sie richtigen Bahnhof ankommen. Aber die Mehrzahl will weiter fahren. In Jungfernheide ging das hervorragend, entweder mit der Ringbahn oder der U 7. In Charlottenburg aber kommt der RE 6 zur Minute 48 oder 50 an, nachdem der RE 3 zur Minute 44 abgefahren ist. In der Gegenrichtung startet der RE 6 kurz vor der Ankunft des RE 3. Und seit 6. Januar ist mit der Schließung des Bahnhofsausgangs zum Stuttgarter Platz für die RE 6-Fahrgäste auch die U 7 nur noch mit langem Fußweg oder mit Busfahrt erreichbar.

Extrem schlechte Information. Zum Fahrplanwechsel am 14. Dezember 2003 wurden alle Hinweise auf den S-Bahn-Ersatzverkehr per Bahn abgebaut. Foto: Frank Böhnke

Doch nun kommt das unerwartete Kapitel Hoffnung. Das zwischenzeitliche Halten von RE 1 und RE 3 hat den Druck auf die Bahn verstärkt, den seit Jahren vom Senat bestellten Halt in Charlottenburg dauerhaft anzubieten. Genau das hatten die Bahnmanager befürchtet und sich deshalb lange und heftig gegen den Wunsch von S-Bahn GmbH und Senatsverwaltung gewehrt, welche sogar alle RE-Züge als S-Bahn-Ersatzverkehr halten lassen wollten. Das gelang bekanntlich nicht. Aber die aktuellen Verhandlungen über einen neuen Verkehrsvertrag Senat/DB zeigen, dass die Senatsverkehrsverwaltung den Grundsatz „Wer bezahlt, der entscheidet." offensichtlich endlich beherzigt und dass DB Regio verstanden hat, dass es nicht länger damit getan ist, mit dem Verweis auf Sachzwänge einer inhaltlichen Diskussion auszuweichen, wie oft denn nun in Berlin sinnvollerweise gehalten werden soll. Mehr als dürftig ist, dass die Bahn am häufigsten mit den durchfahrenden brandenburgischen Fahrgäste argumentiert, obwohl die Brandenburger zu über 90 Prozent in Berlin aus- und einsteigen und ebenso von zusätzlichen Halten profitieren würden wie die Berliner Fahrgäste.

Sehr viel sachlicher war eine Diskussion zu diesem Thema, die am 21. Januar in der Volkshochschule Charlottenburg geführt wurde. Die Bezirksstadträte Bernhard Skrodzki und Martina Schmiedhofer hatten zu einem Runden Tisch zwecks Beibehaltung dauerhafter RE-Halte in Charlottenburg eingeladen. Nach dem Vortrag aller bekannten Abwehrargumente überraschten Frau Wagner vom VBB und Herr Kropp von DB Regio mit der Ankündigung, man wolle sich intensiv für eine Beibehaltung des RE 3-Haltes über den 18. April hinaus einsetzen. Ein kleines Hintertürchen ließen sie sich allerdings offen: Man wisse ja nicht, ob DB Netz da mitmacht. (Sollte es zur Ablehnung durch DB Netz kommen, könnten sich die Kritiker der heutigen Bahnstruktur erneut bestätigt fühlen.)

Außerdem schlugen Frau Wagner und Herr Kropp vor, die gesamte Debatte um RE-Halte in Berlin auf eine solide Grundlage zu stellen, indem hierzu ein Gutachten angefertigt wird. Die Bahn plagt bekanntlich seit langem der Albtraum, dass zum Beispiel der RE 1 künftig bei seiner Fahrt zwischen Potsdam und Erkner in Berlin neun Mal halten muss: Wannsee, Charlottenburg, Zoo, Hauptbahnhof-Lehrter Bahnhof, Friedrichstraße, Alexanderplatz, Ostbahnhof, Ostkreuz, Köpenick.

Grundsätzlich befürwortet der Berliner Fahrgastverband IGEB eine solche Untersuchung; dennoch ist Vorsicht geboten. Bekanntlich kann man Vorgaben und Interpretation der Ergebnisse zumeist so gestalten, dass das bewiesen wird, was man erreichen möchte.

Hoffnung: Nach vielen Protesten hält der RE 3 in Charlottenburg auch jetzt noch und voraussichtlich sogar über den 18. April 2004 hinaus. Foto: Frank Böhnke

Ein Beispiel: Angenommen, in den Charlottenburg ohne Halt durchfahrenden RE-Zügen säßen täglich 10.000 Fahrgäste, die durch einen Halt je vier Minuten Reisezeitverlängerung erleiden würden. Demgegenüber gäbe es bei einem Halt in Charlottenburg nur 500 Einbzw. Aussteiger, die ohne Halt eine Reisezeitverlängerung von je 15 Minuten erleiden. Das bedeutet: Die Summe der verlängerten Reisezeiten beträgt beim Halten 40.000 Minuten täglich, beim Durchfahren nur 7 500 Minuten. Es spricht also alles für Durchfahren. Oder nicht? Es könnte nämlich sein, dass durch die vier Minuten Reisezeitverlängerung nur wenige oder gar keine Bahnkunden verloren gehen, durch die 15-Minuten-Tortur aber viele genervte Bahnkunden abspringen bzw. neue nicht gewonnen werden können.

Die „Charlottenburger Tragödie" ist also noch nicht zu Ende, aber sie hat Impulse zum Nachdenken und Umdenken gegeben. Ob es am Ende sogar noch ein „Happy End" gibt, wissen wir erst, wenn dem Denken das Handeln folgt.

IGEB S-Bahn und Regionalverkehr

aus SIGNAL 1/2004 (Februar/März 2004), Seite 15