Berlin
Survivalreports aus der Welt des Absurden.
1. Mai 2004
Sie sitzen relativ gemütlich in der U-Bahn und beobachten die einsteigenden Fahrgäste. Plötzlich fallen Ihnen zwei bis sechs wenig vertrauenerweckende Gestalten auf, die sich auffällig unauffällig auf mehrere Türen verteilen und spontan den Wagen betreten. Aus dem nicht selten zweifelhaften Äußeren schließen Sie auf obdachlose Straßenmusiker oder Verkäufer von bewusstseinserweiternden Substanzen. Also kein Grund zur Beunruhigung.
Falsch! Denn Sie werden soeben passiver Teilnehmer einer Fahrkartenkontrolle. Und jetzt sollten Sie sich wirklich Sorgen machen.
Mit der Verpflichtung von externen Honorarkräften für die Fahrkartenkontrollen („Feststeller") hat die BVG wieder einen beschäftigungspolitischen Coup gelandet: Studenten und Arbeitslose werden von „Agenturen" und „Sicherheits-Service-Unternehmen" angeheuert und als 'Ich-AGs'( d. h., als Kontrolleure auf Provisionsbasis, auf die nichtsahnenden, aber mittlerweile alles befürchtenden Fahrgäste losgelassen.
Das geschieht bevorzugt im Bahnbereich der BVG, denn beim Bus ist ja jetzt dank Vordereinstiegs stets eine hundertprozentig korrekte und lückenlose Kontrolle sämtlicher Fahrgäste und Fahrausweise natürlich selbstverständlich, gell? Ist zwar ein Irrtum der BVG-Vorstandsetage und des BVG-Personalrates, aber dazu an anderer Stelle mehr (unter anderem auch im »Stadtverkehr«, Heft 4/2003, Seite 49).
Da die Kontrollteams bevorzugt aus angelernten und durch Provisionszahlungen nach Fangquote „scharfgemachten" Leuten bestehen, verlaufen auch die Kontrollen teilweise — nun, sagen wir mal - willkürlich und nicht immer auf dem Boden von Grundgesetz, freiheitlich-demokratischer Grundordnung und VBB-Tarifbestimmungen. Insbesondere die Umstände der Bezahlung der Kontrollkräfte führen dazu, dass der Ermessensspielraum, den die Kontrolleure ja haben, inzwischen grundsätzlich zu Ungunsten der Fahrgäste ausgelegt wird. Und manchmal wird auch ein bisschen nachgeholfen, um „Schwarzfahrer zu erwischen".
Nachdem sich gewiefte Kontrolleure bevorzugt auf U-Bahnhöfen in der Nähe von Fahrkartenautomaten postiert hatten, um Leute vor dem Kauf einer Fahrkarte „ohne" zu erwischen, hat sich dieser Trick nach Berichten in den Medien über diese Praxis jetzt offenbar zur Straßenbahn verlagert. Ein Schwerpunkt scheint die Straßenbahn-Linie 20 zu sein. Die Kontrollteams stellen auf dieser Linie jeden einsteigenden Fahrgast erstmal unter Generalverdacht. Friedrichshain ist ja bekanntlich eine kleinkriminelle Hochburg.
Am 3. Januar 2004 zum Beispiel benutzten Herr S. und Frau I. diese Linie ab S-Bahnhof Warschauer Straße (Zitate aus der Beschwerde kursiv). „Sofort, noch bevor die Straßenbahn losfuhr, stellte sich einer der Männer direkt in den Gang und sprach einen Fahrgast zur Fahrausweiskontrolle an. Da der Kontrolleur uns den Weg zum einzigen Automaten versperrte, sprach ich ihn an, dass er uns bitte vorbeilassen möge, um einen Fahrausweis zu lösen." Der Feststeller weigerte sich. Soweit, so schlecht. Ein besonderes Highlight ist aber die tarifliche „Begründung", die nun folgte und die auch ein Licht auf den Ausbildungsstand dieser Leute wirft: Der Kontrolleur erklärte, „wir wären nicht befugt, ohne Fahrausweis in eine Bahn einzusteigen." Von Herrn S. befragt, wozu sich dann eigentlich in Straßenbahnen Fahrkartenautomaten befänden, kam nach einigem Nachdenken die Belehrung, man sei „verpflichtet, in der Mitte, also direkt beim Automaten einzusteigen." Offensichtlich steht im VBB-Tarif mehr drin, als man glauben mag. Ob die BVG uns freundlicherweise die Fundstelle für diese Bestimmung mitteilen könnte?
Apropos Ausbildungsstand: Herr R. hatte Ende letzten Jahres auf dem U-Bahnhof Südstern eine Begegnung mit einer Schar Kontrolleur-Azubis und ihrem Instrukteur. R. ist Semesterticket-Nutzer. Auf diesem steht, der Inhaber habe seinen „Studenten-Ausweis" mitzuführen - das tat Herr R. auch. Sein Pech nur, dass auf seinem Studenten-Ausweis die Aufschrift „Studierenden-Ausweis" prangt. Für den Ausbilder (man schämt sich fast, dieses Wort zu gebrauchen) war der vorgelegte Studierenden-Ausweis kein Studenten-Ausweis. Also gab es ein 40 Euro-Ticket. Fazit: die BVG hat von geschlechtsübergreifenden Personen-Bezeichnungen noch nie etwas gehört, vielleicht sollte die dortige Frauenbeauftragte das mal im Unternehmen bekannt machen. Bei derartigen Ausbildungsverläufen kann einem Himmelangst werden.
Andererseits steckt in der kreativen Nichtanerkennung von gültigen Dokumenten noch viel ungenutztes Potenzial: Wieso eigentlich „Semester-Ticket", wo doch die Fahrgäste im Besitz gültiger „Fahrausweise" zu sein haben?
Und nun noch ein Beispiel, das zeigt, dass die BVG ein familienfreundliches Unternehmen ist - denkste! Herr G. und ein Kinderwagen fuhren Ende letzten Jahres mit der Straßenbahn-Linie 50 vom S- und U-Bahnhof Schönhauser Allee Richtung Pankow. Da er mit Wagen und Kind noch zu tun hatte, konnte er erst an der nächsten Haltestelle (Bornholmer Straße, wird nach spätestens zwei Minuten Fahrt erreicht) seine Fahrkarte abstempeln. Das genügte einem „Feststeller", ihn nach dem Stempeln zum Schwarzfahrer zu erklären und ihm eine Szene zu machen. Was lernen wir daraus: Tür auf, Wagen rein, Fahrkarte kaufen oder stempeln, dann im Zug nach dem weggerollten Wagen und herausgefallenen Kind suchen.
Abgesehen von all diesem Unsinn: Nach dem Motto „doppelt oder dreifach hält besser" werden Fahrgäste auf einer Fahrt zum Beispiel mit der U-Bahn-Linie 8 von Hermannstraße bis Voltastraße gern auch dreimal aufgefordert, ihre Fahrkarten vorzuzeigen: 1x zwischen Hermannstraße und Hermannplatz, dann im Umfeld des KottbusserTor und nochmals hinterm Alexanderplatz. Die Verkäufer der Obdachlosenzeitungen jedenfalls wurden einst mit dem Argument der Belästigung der Fahrgäste aus der U-Bahn vertrieben. Die BVG sorgt inzwischen selbst höchst effektiv dafür, dass die Fahrgäste möglichst flächendeckend belästigt werden. Werbung für den ÖPNV ist das nicht, (mg)
Wie sind Ihre Erfahrungen mit den Kontrollen ? Wir sind sehr an Ihren Schilderungen interessiert Berliner Fahrgastverband IGEB, S-BahnhofJannowitzbrücke, 10179 Berlin. Telefax 030/78 70 55 10. E-Mail: igeb@igeb.org.
IGEB
aus SIGNAL 2/2004 (April/Mai 2004), Seite 11