Berlin
1. Mai 2004
Der Wahlkreuzberger aus dem gleichnamigen Film und Buch wirkt mit seiner eigenwilligen Prinzipienreiterei und seiner manchmal heroischen Trägheit auf den Kulturkonsumenten des 21. Jahrhunderts doch eher schrullig.
Aber in den wirklich schwierigen, einengenden Lebenssituationen denkt Herr Lehmann wirklich mit und verhält sich freundlich-kooperativ gegenüber seinen Mitmenschen. Als er in den späten achtziger Jahren auf dem Weg zum Kudamm nur deshalb kurz den 19er Bus verlässt, um anderen Fahrgästen ein problemloses Aussteigen zu ermöglichen, um dann gleich anschließend wieder (an der Mitteltür) einzusteigen, tönt es aus dem Buslautsprecher: „Sie da, vorne wird eingestiegen, ich fahr sonst nicht weiter."
Den Fortgang des Szene ersparen wir unseren Lesern, aber keiner muss deshalb traurig sein, denn die BVG sorgt dafür, dass die Fahrgäste jetzt wieder häufiger die Chance haben, diesen ganz eigenen, unnachahmlichen Charme einiger Berliner Busfahrer kennen zu lernen. Denn nachdem die BVG 1994 aus guten Gründen den freien Zustieg an allen Türen eingeführt hatte und zwischenzeitlich fast der gesamte Fahrzeugpark mit drei (Doppel-)Türen ausgestattet ist, wurde am 5. April 2004 auf allen BVG-Buslinien, zu allen Tageszeiten und bei allen Bustypen der „kontrollierte Vorneeinstieg" wieder eingeführt. Sprich: Alle Fahrgäste dürfen jetzt ausschließlich die Vordertür zum Einsteigen benutzen und müssen dem Fahrer den Fahrausweis vorzeigen oder bei ihm einen Fahrschein kaufen.
Während sich die Zustiegsmöglichkeit an allen Türen jahrzehntelang (und in West-Berlin immerhin seit einem Jahrzehnt) als probates Mittel bewährt hat, die Einstiegssituation für die Fahrgäste durch das Verteilen auf alle Türen zu erleichtern und zu beschleunigen, scheint dieser Aspekt plötzlich keine Rolle mehr zu spielen.
Einziges, aber alles andere erschlagene Argument für den „kontrollierten Vorneeinstieg": Die BVG erhofft sich eine Senkung der Schwarzfahrerquote und demzufolge Mehreinnahmen in Millionenhöhe.
Eine sorgfältige Abwägung des Pro und Contra des Vorneeinstiegs, zum Beispiel im Hinblick auf Fahrzeitverlängerungen und Komforteinbußen, hat nicht stattgefunden. Nach Aussagen der BVG haben sich die Erwartungen, die in den seit 1. Dezember 2003 durchgeführten „Testbetrieb" auf den vom Betriebshof Spandau bedienten Linien gesetzt wurden, auch erfüllt. Danach sei die Schwarzfahrerquote auf 1 Prozent gesunken, eine erstaunliche Aussage angesichts kaum durchgeführter Kontrollen. Und die Fahrgeldeinnahmen seien erheblich angestiegen - was nach ersatzloser Abschaffung der Sozialkarte ja nun auch niemanden ernsthaft überrascht hat. „Auch haben sich Befürchtungen vor eventuellen Verzögerungen im Zeittakt der Buslinien durch den Vordereinstieg beim Fahrer nicht bestätigt. Es kam zu keinen erkennbaren Pünktlichkeitsverlusten", schreibt die BVG. Also alles paletti?
Nein, denn wie auch schon Herr Lehmann seinerzeit feststellte, können die Wahrnehmungen verschiedener Menschen im Berliner Großstadtdschungel doch sehr unterschiedlich sein. Liegt es daran, dass sich Fahrgäste in Berlin anders fortbewegen als Vorstände oder die in der Frage des Vorneeinstiegs leidenschaftlichen Personalräte ?
IGEB
aus SIGNAL 2/2004 (April/Mai 2004), Seite 20