Berlin
Konzeptgedanken
1. Jul 2004
Die BVG verfügt entsprechend ihres heterogenen Straßenbahnnetzes über einen Fahrzeugpark für die unterschiedlichsten Anforderungen. Gemeinsames Merkmal ist die Breite von 2,2 Meter bei den Tatrawagen und 2,3 Meter bei den Niederflurwagen. Eine weitere Vergrößerung der Gleismittenabstände für noch breitere Wagen ist angesichts der Netzausdehnung (mit 180 km der größte deutsche Trambetrieb) auch mittelfristig nicht möglich. Für den Betrieb stehen Züge in vier Längenklassen zur Verfügung:
Die Haltestellen sind zum größten Teil für 60 Meter lange Züge ausgelegt, nur auf einigen schwach ausgelasteten Außenstrecken gibt es Beschränkungen auf 40 Meter. Die in anderen Städten genutzte Möglichkeit der StVO für 75 Meter lange Züge wird in Berlin nicht gebraucht, da die ganz großen Verkehrsströme mit der S-Bahn und der U-Bahn bewältigt werden. Es gibt keine Tunnelstrecken in Berlin und darum auch keine Abschnitte mit Streckenblock und Zugbeeinflussung - eine klassische, preiswerte Straßenbahn mit Fahrt auf Sicht.
Das Straßenbahn-Netz in Berlin ist für den kostensparenden Einrichtungsbetrieb ausgebaut, lediglich eine Endstelle der Linie 20 besitzt keine Wendeschleife. Für diese Linie sowie für baubedingte Endstellen sind 45 Wagen der beiden letzten GT 6-Lieferungen als echte Zweirichtungs-(ZR-)wagen geliefert worden, auch sie sind in Doppeltraktion einsetzbar. Während die Tatrawagen eine unverkleidete vollautomatische Kupplung besitzen, was auch eine Schwächung der Züge auf der Strecke ermöglicht, lassen sich die GT 6 leider nur in der Werkstatt kuppeln und entkuppeln. Zwar haben auch sie eine vollautomatische Kupplung, aber diese verbirgt sich bei Nichtbenutzung hinter einer Abdeckklappe, die nur manuell entfernt werden kann und für die es im Fahrzeug keine Unterbringung gibt.
Die Tatrawagen sind in den 1990er Jahren alle modernisiert worden für einen weiteren Betrieb über zwei Hauptuntersuchungsperioden, also bis etwa 2010. Deshalb zeichnet sich jetzt die Vorbereitung der Nachfolgebeschaffung ab.
Die spezifischen technischen Randbedingungen wie befahrbare Kurvenradien, Achslasten, Stromverbrauch und ähnliche können hier außer acht gelassen werden, für den Fahrgast interessant sind die betrieblichen Anforderungen. Wir setzen voraus, dass neue Fahrzeuge auf dem gesamten Streckennetz verkehren können müssen.
Während die Zugklasse IV ausschließlich und die Klasse II zum großen Teil mit den vorhandenen NF-Zügen bedient werden kann, müssen die neuen Wagen vor allem die Zugklassen I und III abdecken. Außerdem sollen auch für Klasse II weitere Wagen zur vollständigen NF-Bedienung beschafft werden. Auf bestimmten Strecken und auf der Linie 20 zu bestimmten Zeiten zeichnet sich auch der Bedarf für ein ZR-Fahrzeug der Größenklasse III ab. Eine Beschaffung von vier verschiedenen Typen (ER-Wagen Klasse I bis III und ZR-Wagen Klasse III) ist natürlich zu teuer. Der Verzicht auf die Beschaffung von größeren ZR-Zügen kann in Zukunft zu unwirtschaftlichen Doppeltraktionen der vorhandenen GT 6 führen, die nicht ausgelastet sind und zudem den geringen Bestand dieser Bauart überfordern. Der Verzicht auf die Beschaffung von 20m-Wagen führt nicht nur zu verringerter Effizienz in den Schwachlastzeiten und auf nachfrageschwachen Strecken, sondern auch zur Vereitelung eines kostensparenden möglichen Flügelzug-Betriebes in den Randstunden. Außerdem zeichnet sich auf Strecken, die planmäßig von ZR-Zügen bedient werden, die Ausführung einiger Haltestellen mit Mittelbahnsteig ab. Alle dort verkehrenden Wagen anderer Linien sollten dann ebenfalls über linksseitige Türen verfügen, auch als Einrichtungswagen.
Einrichtungswagen von 20 Meter Länge mit zusätzlichen Türen auf der linken Seite (zwei reichen durchaus, um die Sitzplatzzahl nicht unnötig zu reduzieren), der in Doppel- und Dreifachtraktion die vorhandenen Haltestellenlängen optimal ausnutzt. Dadurch sind die Zugklassen I, III und IV (60 Meter) darstellbar. Ein Betrieb zweier Wagen Heck an Heck führt zu einem ZR-Zug der Größenklasse III. Die vollautomatischen Kupplungen sollten eine Schwächung außerhalb des Betriebshofes erlauben und die Software der Fahrgastinformation sollte für Flügelzugbildung ausgelegt sein. Mit diesem Fahrzeug hätte die BVG drei der vier oben beschriebenen Anwendungsfälle in einem Wagentyp vereint. Lediglich eine kleinere Serie von Wagen der Klasse II sind zusätzlich nötig, die kostensparend als reine Einrichtungswagen ausgelegt sein können. Nach Aussagen der BVG würden etwa 150 Züge mit 40 Meter Länge den gesamten Tatrawagenpark ersetzen. Wenn wir unterstellen, dass zur Ablösung der Tatra-T6 etwa 40 Wagen Klasse II benötigt werden, dann sind rund 220 Wagen Klasse I wie beschrieben nötig. Es wird auch von Fachleuten der Verkehrsbetriebe gern argumentiert, dass ZR-Wagen teurer als ER-Wagen sind wegen der zusätzlichen Türen, deren größere Öffnungen im Wagenkasten neben dem Mehrpreis für die Mechanik auch zu einer schwereren Konstruktion führt sowie wegen des zweiten Fahrerplatzes. Genau darum geht es in diesem Konzept: Der zweite Fahrerplatz entfällt und die Anzahl der linksseitigen Türen ist begrenzt. Zudem führen dieselben Kostenrechner gern die Notwendigkeit des Verzichts auf weitere Gleisschleifen oder Abzweigbögen an Kreuzungen für den Havariefall an - es sei zu teuer, Weichen und Gleise ohne Funktion für den Regelbetrieb vorzuhalten. Um bei Störungen und Bauarbeiten den ebenfalls teuren SEV nicht ausufern zu lassen, ist die BVG auf die kostengünstige und flexible Lösung der temporären ZR-Endstellen mittels Kletterweichen verfallen. Für kurze Baustellen bieten sich aber auch eingleisige Provisorien an, wo dann eventuell Haltestellen auf der linken Seite liegen. Für alle diese Fälle ist das vorgeschlagene Fahrzeug die Lösung. Andere Verkehrsbetriebe wie Halle haben solche Wagen schon bestellt, obwohl ebenfalls schon 30 Meter-NF-Wagen in großer Stückzahl vorhanden waren. Eine Lösung zur Kostenreduktion ist die Beschaffung einer Teilserie von 40 Meter-Wagen als ER-Züge. Wünschenswert wäre die Möglichkeit, 60 Meter-Züge aus einem 40er und einem 20er Wagen zu bilden, aber billiger beim Kauf ist sicher der lange Wagen als Alleinfahrer. Der Wagenpark der BVG ist so groß, dass auch bei paralleler Beschaffung von 40 Meter-Wagen in Einrichtungsbauart noch eine genügend große Stückzahl für einen flexiblen Betrieb zusammenkommt (mindestens 60 plus 80 lange ER-Wagen; weniger als 60 Stück dieser Bauart sind für Berlin eine zu kleine Serie).
Der Systemvorteil der Straßenbahn gegenüber dem Bus ist die Zugbildung. Würde die BVG nur 40 Meter-Wagen beschaffen, könnte sie nicht mehr alle Zugklassen fahren, hätte im Abendverkehr und auf Randlinien ein Auslastungsproblem (vielleicht wäre dadurch die Straßenbahn auf diesen Strecken generell in Gefahr?!), könnte sich nicht auf veränderte Verkehrsströme einstellen und es wäre keine Flügelzugbildung möglich. Diesen Vierfachvorteil sollte sich die Berliner Straßenbahn nicht entgehen lassen. Der etwas größere Gesamtpreis gegenüber längeren Wagen in kleinerer Stückzahl kann bei der von der BVG benötigten Menge auch durch einen Rabatt gedrückt werden. Außerdem kann der Verkehrsbetrieb sich mit seinen großen Werkstatterfahrungen eventuell selbst in den Bau einbringen?
Anmerkung: Weil die BVG das künftige Metrotram-Netz noch nicht veröffentlicht hat, werden nachfolgend die heute gültigen Liniennummern und -wege zugrundegelegt.
Die kurzen Wagen sind optimal für nur mäßig ausgelastete Linien in den Randbereichen Berlins im Solo-Einsatz (Linien 21, 61, 63, 68). Im Abendverkehr sind viele weitere Linien gut für diese Betriebsform geeignet. Ein wesentliches Merkmal der Berliner Straßenbahn ist die vielfache Beschränkung auf die Zubringerfunktion zu S- und U-Bahn mit geringen Verkehrsströmen. Während Städte wie Dresden oder Karlsruhe mit der Tram als Rückgrat des Verkehrs abends lediglich das Angebot von 5 bis 7,5 auf 15 bis 20 Minuten-Takt pro Linie ausdünnen, ist bei vielen Linien in Berlin schon tagsüber nur ein 20 Minuten-Takt üblich, die Untergrenze der Akzeptanz. Hier können die kleinen Wagen ihre Vorteile gut ausfahren.
In Doppeltraktion können sie neben den 40 Meter-Wagen das Rückgrat des Verkehrs auf den gut nachgefragten Verbindungen bilden (Linien 2, 4, 5, 6, 8, 23, 27, 50). Hier liegt auch das Potenztial für die Flügelzugbildung im Abendverkehr; warum soll in Berlin scheitern, was in Hannover gut funktionierende Praxis ist? Die Linienpaare 2/4 und 5/15 sind beispielhaft zu nennen. Die genauen Einsatzmöglichkeiten verschieben sich bis zur Auslieferung sicher, auch die Erfahrungen der BVG mit dem Konzept „2005plus" kann man noch nicht abschätzen.
Auf der Linie 20 können die neuen Wagen bei einer Verkehrszunahme durch die Verlängerung zum Hauptbahnhof/Lehrter Bahnhof im Heck-an-Heck-Betrieb als große ZR-Züge die gesteigerte Nachfrage abdecken. Ebenso bei Baustellenverkehren auf anderen starken Linien (3, 4, 5, 6 und 8). Wenn wie geplant (zunächst am Frankfurter Tor) einige Haltestellen mit Mittelbahnsteigen für linksseitigen Ausstieg umgebaut werden, ist auch für diese Linien ein Einsatz unseres Konzeptfahrzeugs nötig, zuerst also auf Linie 21 - hier sehen wir schon einen Doppelnutzen dieser Bauart. Allerdings sollten sich die kostenbewussten Rechner bei der BVG nochmal genau anschauen, wie teuer eine solche Haltestellenform in einem sonst reinen ER-Betrieb langfristig sein kann; auch die Linie 20 soll in ferner Zukunft bei Verlängerung zum Hermannplatz zu einer „einrichtungstauglichen Linie" werden, und es ist für die Fahrgäste nicht hinnehmbar, wenn wie am Frankfurter Tor die einzige Umsteigestelle zweier Linien nicht von beiden gleich gut bedient werden kann!
Wenn die Nachfrage stark steigt, können mit Dreifachtraktionen von 60 Meter Länge auch die größten Fahrgastströme bewältigt werden. Dann wäre eine Nachbestellung des gleichen Typs nötig.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Wagen dazu beitragen, den von der BVG eingeschlagenen Weg eines flexiblen, dadurch preiswerten Straßenbahn-Betriebes zu unterstützen und die Straßenbahn so erfolgreich zu machen, dass durch Streckenverlängerungen die hier geschätzten Fahrzeugzahlen in Zukunft nicht mehr ausreichen werden.
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 3/2004 (Juni/Juli 2004), Seite 16-17