Report
Die Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs ist gefährdet!
1. Jul 2004
Der öffentliche Nahverkehr (ÖV) mit Bussen und Bahnen in Deutschland hat eine lange Tradition und ist ein wichtiger Bestandteil unserer Alltagskultur. Die Urbanität deutscher Großstädte ist unmittelbar verknüpft mit attraktiven und leistungsfähigen ÖV-Systemen; der ÖV ist insbesondere in den großen Verdichtungsräumen, aber auch in vielen Mittelstädten mit erfolgreichen Stadtbussystemen ein unverzichtbarer Wirtschafts- und Standortfaktor.
Allein der öffentliche Verkehr (ÖV) ist in der Lage, effizient, sozial verträglich und ökologisch mit attraktiven Fahrzeiten die Mobilität in den Städten sicherzustellen. Im Gegensatz zum Kfz-Verkehr benötigt er keine Flächen für Parkplätze in bebauten Gebieten, in bezug auf die beförderte Fahrgastanzahl verbraucht er weniger Ressourcen und belastet die Umwelt mit weniger Emissionen.
Aufgrund der desolaten Finanzsituation der öffentlichen Haushalte ist aber auch der öffentliche Nahverkehr-ins Blickfeld der Sparkommissare geraten.
Öffentlicher Nahverkehr ist nicht kostendekkend durchzuführen. Die im Zuge der steigenden Haushaltsdefizite vieler Länder, Kreise und Kommunen sowie in Vorbereitung auf die Vergabe von Verkehrsleistungen im Rahmen EU-weiter Ausschreibungen in den vergangenen Jahren in vielen ÖV-Unternehmen erfolgreich durchgeführten Restrukturierungsmaßnahmen konnten einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung des Kostendeckungsgrades im ÖV leisten.
Trotz der deutlich angestiegenen Kostendekkung konnten die historisch gewachsenen Defizite bei den kommunalen Verkehrsbetrieben bislang natürlich nicht vollständig neutralisiert werden. Infolge der sich zuspitzenden Haushaltsentwicklung von Städten und Gemeinden entwickelt sich der ÖV somit zusehends zu einem ungelösten Problem für alle Beteiligten.
Vor diesem Hintergrund hat die Fachtagung der SRL am 11 ./12. März 2004 in Freiburg im Breisgau die aktuelle Struktur der ÖV-Finanzierung durch Bund, Länder und Gemeinden sowie auch alternative Ansätze, auch aus anderen europäischen Staaten, hierzu erörtert und hinsichtlich ihrer politischen Durchsetzungsfähigkeit diskutiert und daraus Forderungen für die Zukunft abgeleitet:
Die Bundesregierung beabsichtigt bis 2006 eine Absenkung der ÖV-Finanzmittel in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Der aktuelle Einnahmeausfall infolge der verzögerten Einführung der Lkw- Maut führt auch zu Verzögerungen im Ausbau von Strecken des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV).
Wir fordern: Das durch die existierenden Förderinstrumente bereitgestellte Finanzvolumen des ÖV ist zu erhalten. Parallel dazu ist der Weg hin zu einem System der ÖV-Finanzierung mit mehr Transparenz und mehr Effizienz durch Neuorganisation der gesamten ÖV-Finanzierung zu beschreiten.
Mit der Marktzugangsverordnung der EU tritt die Liberalisierung in eine entscheidende Phase; die bisher übliche Finanzierung von Investitionen und der Ausgleich von Betriebskostendefiziten über den steuerfreien Querverbund in den kommunalen Versorgungsbetrieben ist künftig nicht mehr zulässig. Soweit kommunale Energieversorgungszweige im Zuge der Haushaltssanierung in den vergangenen Jahren bereits vollständig oder anteilig veräußert wurden, ist dieser Zustand bereits eingetreten.
Wir fordern: Sicherstellung der Landesförderungen, insbesondere der Ausgleichszahlungen für den Schülerverkehr und der Fahrzeug förderung nach GVFG - unter Beachtung der Rahmenbedingungen des Wettbewerbs - sowie Bereitstellung von Haushaltsmitteln zum Ausgleich der Deckungsfehlbeträge.
Bislang oientiert sich die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs zu wenig an den Effekten der Maßnahmen. Die Finanzierung von ÖV-Investitionsvorhaben werden nicht an den Erfolg der Förderung, sondern an den nach dem Gesetz geltenden Fördertatbeständen ausgerichtet.
Wir fordern: Die Effizienz des Einsatzes der Fördermittel ist daher durch Anreizsysteme zu verbessern. Mögliche Kriterien sind hier Fahrgastzahlen, Fahrgastzahlen ohne Zwangskunden (Schülerverkehr), erzielte Verkehrsleistung in Personenkilometer (Pkm), Fahrkartenumsatz (ohne Surrogate), Veränderung des Verkehrsmittelwahlverhaltens zugunsten des Öffentlichen Nahverkehrs.
Die Förderung nach den Kriterien des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) führt beim Bau von Straßen- und Stadtbahnstrecken infolge der Forderung des Bundes in bezug auf den besonderen Bahnkörper oft zu städtebaulich unverträglichen Lösungen. Die für die Reisegeschwindigkeit entscheidendere Bevorzugung an Lichtsignalanlagen hingegen wird nicht zum Kriterium der Förderung der Gesamtmaßnahme erhoben.
Wir fordern: Die Förderung von Straßen- und Stadtbahnstrecken soll sich nicht auf bloße bauliche Maßnahmen reduzieren, sondern auch den städtebaulichen Rahmen beachten und sich auf die in der Simulation und infolge von Erfahrungen darstellbare Verbesserung des Stadtraums und der Verkehrsqualität im ÖPNV beziehen.
Die Finanzierungsquellen des ÖV sind historisch gewachsen, vielfältig, ineffizient und nicht transparent.
Wir fordern: Bündelung der ÖV-Finanzierung über die Aufgabenträger als alleinige Zuwendungsempfänger.
Die heutige Verwendung von Fördermitteln ist in aufwendige Verwaltungsverfahren eingebunden. Durch Stärkung der Verantwortung der Region kann dies verändert werden. Hierbei sind beispielhaft die in anderen EU-Staaten erfolgreich praktizierten Lösungen des beitragsfinanzierten Nulltarifs in Mittelstädten (Hasselt/Belgien) oder einer an der Anzahl der Einwohner, der Beschäftigten oder der Höhe der Lohnsumme orientierten lokalen ÖV-Abgabe (versement transport in Frankreich) einer fundierten Überprüfung hinsichtlich deren technischer und rechtlicher Machbarkeit zu unterziehen.
Wir fordern: Die Finanzverantwortung für Investitionsvorhaben im ÖVistzu dezentralisieren und auf die ÖV-Aufgabenträger zu übertragen. So kann dem Einsatz von Fördermitteln ohne Beachtung der Folgekosten entgegengewirkt werden. Vorhandene und neue Modelle zur Umlagefinanzierung des ÖV sind zu prüfen.
Die zunehmende Mittelreduzierung beim Schülerverkehr (Ausgleichszahlungen nach § 45a Personenbeförderungsgesetz) wird insbesondere den ÖV im ländlichen Raum (Schülerverkehrsanteil im Regelfall rund 75 Prozent aller Verkehre) zusehends in Frage stellen.
Wir fordern: Zur Wahrung der Mobilität mit dem ÖV im ländlichen Raum sind neue Modelle einer langfristigen und von Schülerzahlen unabhängiger Finanzierung in Kombination mit alternativen Angebotskonzepten abseits des klassischen Linienverkehrs zu entwickeln und anzuwenden.
ÖPNV ist nicht kostendeckend durchzuführen. Dennoch kann der Mitteleinsatz ohne Absenkung der Angebotsqualität optimiert werden. Wie die Erfahrungen im SPNV seit einigen Jahren zeigen, kann durch die Vergabe von Verkehrsleistungen im Wettbewerb sowohl die Effizienz des Mitteleinsatzes als auch die Angebotsqualität deutlich erhöht werden. Die gegenwärtige Haushaltslage der öffentlichen Hand fordert hier ein zügiges Handeln; die den Wettbewerb fordernden EU-Verordnungen sind seit Jahren bekannt.
Wir fordern: Die Vergabe von Verkehrsleistungen im Wettbewerb für den ÖPNV ist zügig umzusetzen.
Der Besitz von Verkehrsunternehmen ist keine Aufgabe der Daseinsvorsorge für Aufgabenträger im ÖPNV bzw. im SPNV, wohl aber die Sicherstellung einer standortgerechten Mobilität durch öffentliche Verkehrsmittel. Das Abwarten der politisch Verantwortlichen auf die Entscheidungen durch die Gerichte stellt keine Lösung dar; wir erwarten eine aktive Politik zur Sicherung des ÖPNV.
Wir fordern: Eine Trennung zwischen dem Aufgabenträger als Besteller von ÖPNV-Leistungen und dem Ersteller von ÖPNV-Leistungen ist umzusetzen. Hier ist ein eindeutiger Rahmen für den Handlungs- und Entscheidungsspielraum der ÖPNV-Aufgabenträger zur Gestaltung des Wettbewerbs, analog der Regelungen im SPNV durch die ÖPNV-Gesetze der Länder, durch Bund, Länder und Gemeinden zu entwickeln und festzulegen.
Planerische und langfristig sinnvolle Perspektiven finden unter den Rahmenbedingungen knapper Kassen zugunsten von Maßnahmen mit dem Ziel einer kurzfristigen Haushaltssanierung immer weniger an Beachtung. Die ungelösten Probleme im Klimaschutz und die ungebremste Verkehrsentwicklung dagegen erfordern weiterhin ein Umdenken über das Tagesgeschäft hinaus.
Wir fordern:
Entwicklung und Einführung eines Bundesgesetzes
zur Aufstellung von verbindlichen Plänen
auf regionaler, überkommunaler Ebene für die
Raum- und Verkehrsplanung mit dem Ziel der
Förderung der Verkehrsmittel des Umweltverbundes
(Fußverkehr, Radverkehr, Öffentlicher
Nah- und Fernverkehr).
Im Zuge der fortschreitenden Dezentralisierung von Wohn-, Arbeits-, Einkaufs-, und Freizeitstandorten entsteht immer mehr Verkehrsaufwand bei stagnierender bzw. abnehmender Bevölkerung. Die immer disperser werdenden Verkehrsströme können mit der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur langfristig nicht mehr bewältigt werden.
Wir fordern: Integration von Verkehrs- und Siedlungsentwicklung in Förderinstrumentarien, Gesetzen und Verordnungen (zum Beispiel Förderung der Ausweisung von Baugebieten im Einzugsbereich von Haltepunkten des schienengebundenen Nahverkehrs in Nordrhein-Westfalen). Die Abschaffung bzw. Kürzung der Pendlerpauschale wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich begrüßt.
Im Koch-Steinbrück-Papier zum Subventionsabbau werden die infolge der Bahnreform vom Bund den Aufgabenträgern für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) zur Verfügung gestellten Regionalisierungsmittel als Subventionen bezeichnet, während die behördeninterne Straßenbaufinanzierung nicht als Bereich möglicher Minderausgaben diskutiert wird. Fahrgäste des ÖPNV zahlen schon lange „Beförderungsentgelte", auch für den Pkw-Verkehr sollte eine solche Nutzerfinanzierung eingeführt werden.
Wir fordern: Eine zusätzliche Nutzerfinanzierung in Form einer Maut im Bereich der Straßenbenutzung für Pkw auf allen Straßennetzen ist vertieft zu prüfen.
SRL im Internet www.srl.de
Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL) Fachgruppe Forum Mensch und Verkehr
aus SIGNAL 3/2004 (Juni/Juli 2004), Seite 32-33