Berlin
Wenn es im Berliner Untergrund mal wieder gebrannt hat, kann man ihn in schönster Blüte erleben: „Kritischen Journalismus” - oder das, was heutzutage als solcher verkauft wird. Knallhart wird dann der berühmte „Finger in die offene Wunde” gelegt und wagemutig bei der BVG nachgefragt, wo denn die zweiten Ausgänge für U-Bahnhöfe blieben, denen ein solcher alternativer Fluchtweg noch fehlt.
1. Jan 2005
Die BVG verweist dann stolz auf die Stationen Viktoria-Luise-Platz und Schillingstraße, Innsbrucker Platz und Britz-Süd, welche sie derart „nachgerüstet" hat, seit es im Sommer 2000 an der Deutschen Oper brannte und der entflammte Wagen ausgerechnet in Nähe der einzigen Treppe nach draußen zum Stehen kam. Die Planungen für weitere Ausgänge seien im Gang, heißt es schließlich noch, und die BVG freut sich und die Medien freuen sich, haben sie doch ihren Auftrag mal wieder erfüllt.
Leider nicht so ganz, denn die Zahl von elf oder gar nur zehn aus- bzw. umzubauenden Stationen, welche seit über vier Jahren immer wieder nachgeplappert wird, ist zwar griffig und nicht allzu hoch. Doch dummerweise falsch. Bahnsteige mit nur einem Ausgang fanden sich im Sommer 2000 auf den Stationen Bismarckstraße, Britz-Süd, Deutsche Oper, Ernst-Reuter-Platz, Innsbrucker Platz, Jungfernheide, Konstanzer Straße, Leopoldplatz, Lindauer Allee, Nollendorfplatz, Paradestraße, Rathaus Schöneberg, Rudow, Schillingstraße, Seestraße, Sophie-Charlotte-Platz, Theodor-Heuss-Platz, Uhlandstraße, Viktoria-Luise-Platz und Zitadelle. Zwanzig Stück, von denen seither nicht einmal ein Drittel „nachgerüstet" worden ist.
Sollte dies, möglicherweise in der nächsten Dekade, bei allen geschehen sein, werden Verkehrsbetriebe und sämtliche Journalisten, die immer so schön kritisch nachgefragt und nachgehakt und auf zusätzliche Ausgänge gedrungen haben, sich zufrieden auf die Schulter klopfen - und dann wird es hoffentlich nicht beispielsweise am Adenauerplatz brennen. Denn wer wollte, konnte schon vor vier Jahren von der Feuerwehr bestätigt bekommen, was sich jeder halbwegs aufgeweckte Geist auch so ausrechnen kann: Da bei einem Brand - zumal im Tunnel - die größte Gefahr nicht von dem eigentlichen Feuer als vielmehr von dabei entstehenden Rauchgasen ausgeht, sind fast genauso problematisch wie U-Bahnsteige mit nur einem Fluchtweg solche, von denen alle Treppen in ein gemeinsames Zwischengeschoß führen. Zumal manche von diesen in den letzten Jahren nach der Maßgabe umgebaut wurden, möglichst viel vermarktbare Fläche zu gewinnen - was der Übersichtlichkeit nicht unbedingt genutzt hat.
„Natürlich haben Sie das Problem mit dem Rauchabzug auch in diesen Fällen", erklärte damals der Pressesprecher der Berliner Feuerwehr - derweil die BVG den Umbau dieser Stationen als „nicht vordringlich" bezeichnete. Klar, denn das sind noch einmal fast zwanzig Stück: Adenauerplatz, Birkenstraße, Jakob-Kaiser-Platz, Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Kleistpark, Kottbusser Tor, Lichtenberg, Möckernbrücke, Moritzplatz, Nauener Platz, Osloer Straße, Pankstraße, Paulsternstraße, Rathaus Steglitz, Siemensdamm und Vinetastraße, außerdem der S-Bahnhof Oranienburger Straße. Und ob Fahrgäste im Notfall wissen, wie sie vom Perron der U 7 am Fehrbelliner Platz am schnellsten und sichersten ins Freie gelangen? Oder gar an der Berliner Straße, einem fast nur zum Umsteigen genutzten Bahnhof, dessen Ausgänge folglich eher unscheinbar und unbekannt sind und wo von den Hallen der U 9 bloß schmale Stiegen nach draußen führen?
Schließlich gibt es noch jene Stationen, bei denen alle Treppen in einen einzigen Eingangspavillon münden: Halemweg, Lipschitzallee, Südstern, Wutzkyallee, Zwickauer Damm.
Verständlicherweise redet die BVG über Sicherheitsprobleme nicht allzu gern - obwohl es natürlich auch früher Brände in der Berliner U-Bahn gegeben hat. In Stationen, die bis in die Seventies hinein ungleich schlechter beleuchtet waren als heute. Doch erst jetzt, nach rund hundert Jahren, scheint das Problem besonders akut geworden zu sein. Oder liegt das nur an Medien, die immer sensationslüsterner werden, dafür aber immer weniger willens oder fähig, den Dingen auf den Grund zu gehen?
Jedenfalls sorgte sich niemand um Fluchtwege, als die einstmals profitable BVG in den fünfziger Jahren angesichts wachsender Motorisierung und steigender Lohnkosten immer tiefer in die roten Zahlen rutschte und deshalb viele Zugänge frühmorgens, abends, teils auch das gesamte Wochenende über geschlossen wurden - damals existierten ja noch jene Sperren, die in moderner Form immer mal wieder Auferstehung feiern sollen, und jeder Eingang war mit mindestens einem BVG-Mitarbeiter besetzt. Manche Verbindung mit dem Untergrund beseitigte man damals auch ganz, so verlor um 1960 der unterirdische Teil des Bahnhofs Kottbusser Tor seine direkten Zugänge, die Station Uhlandstraße ihren Ostausgang, und am Südstern verschwanden die Treppen an den Bahnsteigenden, da sie mit ihrer Lage auf dem Mittelstreifen als Verkehrshindernis galten.
Apropos beseitigen: Bei dem viel gelobten Umbau des U-Bahnhofs Lichtenberg wurde gerade ein gesonderter Ausgang beseitigt. Ebenso finden sich in der Liste der Stationen mit unzureichenden Fluchtwegen auch einige neuere wie Konstanzer Straße (eröffnet 1978), Zitadelle (1984) oder Lindauer Allee (1994) - bei ihnen rechnete man nur mit einem geringen Verkehrsaufkommen und wollte daher Kosten für den Bau wie für den späteren Unterhalt sparen.
Finanzielle Gründe dürften auch ein wesentlicher Grund sein, wenn die BVG die Liste der „nachzurüstenden" Stationen möglichst kurz hält. Anders als am Sophie-Charlotte- oder Theodor-Heuss-Platz würde ein weiterer Zugang am Adenauerplatz oder an der Bismarckstraße auch nicht den Einzugsbereich des Halts vergrößern. Der zusätzliche Ausgang würde nur gebaut für den Fall der Fälle. Und selbst dann wäre ein eklatantes Problem noch immer nicht gelöst: Wie macht man den Fahrgästen in einer möglicherweise verqualmten Bahnsteighalle klar, welches die wirklich rettende Treppe ist? Also nicht jene, die ins vermutlich auch schon verqualmte Zwischengeschoß führt, wo sie sich endgültig verlaufen könnten?
Bei genauerer Berechnung kam man vor vier Jahren auf rund vierzig umzubauende Stationen allein bei der U-Bahn - fast ein Viertel des Bestandes. Der neue Ausgang am Nollendorfplatz in Richtung Else-Lasker-Schüler-Straße hat nach BVG-Angaben 3,3 Millionen Euro gekostet. Und dabei ist noch nicht einmal der unterste Bahnsteig mitversorgt worden, künftig als Ausgangspunkt der neuen U 3 - also Umsteigebahnhof für die meisten Fahrgäste von Kreuzberg Richtung Krumme Lanke - sicher stärker frequentiert. Von ihm aus gelangt man nach wie vor nur auf den darüber liegenden Perron. Es sei denn, man benutzt den Aufzug - im Brandfall eine der sichersten Todesfallen.
Man könnte übrigens auch mal fragen, warum schon Jahre vor ihrer Ausmusterung die alten S-Bahn-Fahrzeuge aus Brandschutzgründen von der Tunnelstrecke verbannt wurden, man aber die offenkundig recht schnell entflammbare Baureihe 480 munter weiter über die Nord-Süd-Bahn fahren läßt. Und was ist eigentlich mit der Verbindung mehrerer oder gar aller Wagen zu einem großen Fahrgastraum, wie sie bei den Verkehrsunternehmen als letzter Schrei gilt? Sicher, vor einem Feuer könnten die Fahrgäste dort in einen entfernter gelegenen Teil des Zuges fliehen. Aber würde sich der Rauch nicht schnell in einem gesamten „H"-Zug der U-Bahn ausbreiten, derweil bei voneinander getrennten Fahrzeugen nur die Passagiere in einem Wagen betroffen wären?
Statt über all solche Probleme zu reden, fordert die „kritische" Presse lieber mal eben Sprinkleranlagen in den Zügen - ohne sich lange mit Gedanken über deren Sinn und Unsinn aufzuhalten. Man hofberichterstattet, wie die BVG relativ unwichtige zweite Ausgänge wie am Viktoria-Luise-Platz eröffnet - wo sowieso nur Kürzestzüge fahren und eine ganz im Freien liegende Treppe direkt vom Bahnsteig auf die Straße führt. Oder man schreibt gleich aus den Pressemitteilungen ab, in denen man in Sachen Brandsicherheit noch manch anderes lesen kann, das erstaunt: So erfuhr man Silvester 2003, wie durch das seit einem Jahr mit Bußgeldern durchgesetzte Rauchverbot bei der U-Bahn die Brandgefahr enorm verringert worden sei („Sicherheitshinweis: Rauchen verboten" flimmert es folglich auch immer wieder über die ansonsten nicht allzu auskunftsfreudigen Anzeigetafeln auf den Stationen).
Klar: Früher waren bei allen ÖPNV-Fahrzeugen die Wagenkästen, später mindestens noch deren Verkleidungen aus Holz, einschließlich der Haltestangen. Dazu kamen Plüschsitze, teilweise Vorhänge, Gepäcknetze - jede Menge brennbares Material. Angesichts der zahlreichen Raucherabteile sind dann ja auch jährlich Hunderte Berliner in Bussen und Bahnen verbrannt, Dutzende Fahrzeuge von Rauchern, ihren Glimmstengeln und erst recht den Streichhölzern, mit denen sie diese entzündeten, abgefackelt worden. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Brandkatastrophen auf den Stationen. Zumal der dort über ein Jahrhundert lang gebräuchliche Asphaltbelag im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich ist - jedenfalls nach Meinung der BVG, seitdem die finanziell chronisch klamme Anstalt glaubt, ihn durch teure Natursteinplättchen ersetzen zu müssen. Wofür offenkundig mehr Geld vorhanden ist als für neue Ausgänge. Zur Not kann man dann ja Reklameplakate auf den guten Granitboden kleben. Bei den Medien wird schon niemand auf die richtigen Fragen und Forderungen verfallen.
Jan Gympel
aus SIGNAL 6/2004 (Dezember 2004/Januar 2005), Seite 14-15