Berlin
Im Dezember 2004 jährt sich zum 75. Mal der Jahrestag der Inbetriebnahme der Siemensbahn. Diese Strecke gehörte zu den jüngsten Strecken des Berliner Nahverkehrs. Hinsichtlich Finanzierung, Bau und Technik war sie vorbildlich. Aber seit fast 25 Jahren liegt sie still und die Zukunft ist ungewiß.
1. Jan 2005
Berlin - Siemens - S-Bahn. Diese drei Namen bildeten über Jahrzehnte einen engen Zusammenhang. Berlin war Wiege und Zentrum der deutschen Elektroindustrie. Für Siemens, den größten Elektrokonzern, war die Stadt lange der größte und wichtigste Standort; die Bahn war ein wichtiger Auftraggeber. Ab 1898 entstand auf den damals noch nicht zu Berlin gehörenden „Nonnenwiesen" eine neue Stadt für die Industrieanlagen und Wohnquartiere des expandierenden Elektrounternehmens; seit 1914 heißt sie offiziell „Siemensstadt". Gebaut wurden auch Straßen, eine eigene Werkbahn und ein Hafen. Weitblickend kaufte Siemens bis 1911 zusätzliche Flächen, die die Expansion der verschiedenen Betriebszweige bis nach Gartenfeld hin sichern sollten.
1928 hatte die Firma am neuen Standort, der 1920 Teil Groß-Berlins geworden war, rund 60 000 Mitarbeiter - und sie wuchs weiter. Schon Mitte der 20er Jahre war klar geworden, daß die Siemensstadt eine leistungsfähige und direkte verkehrliche Erschließung braucht. Mit dem Haltepunkt Siemensstadt-Fürstenbrunn an der Strecke Jungfernheide—Spandau konnten die Spitzenbelastungen im Berufsverkehr nicht mehr bewältigt werden. Siemens und Deutsche Reichsbahn verständigten sich auf den Bau einer S-Bahn-Strecke vom Bahnhof Jungfernheide nach Gartenfeld.
Am 13. Dezember 1929 wurde im Beisein der Spitzen von Siemens und DR, Dr. Carl Friedrich von Siemens und Dr. Julius Dorpmüller, die Siemensbahn nach rund zwei Jahren Bauzeit feierlich der Presse vorgestellt, am 18. Dezember wurde sie dem Verkehr übergeben. Für rund 25 000 Mitarbeiter der Firma Siemens sollte die Bahn den Berufsverkehr deutlich verbessern.
Der Bau der Siemensbahn war aufwendig, er erforderte wegen zum Teil schlechter Tragfähigkeit des Bodens besondere Gründungsverfahren. Um die bereits vielfältigen Funktionen der Siemensstadt einschließlich der Fabriken nicht zu stören, mußte die Strecke überwiegend auf einem Damm und über mehrere hundert Meter sogar auf einem stählernen Viadukt nach Vorbild der Hochbahn geführt werden. Drei Bahnhöfe erschlossen die Siemensstadt. Am Bahnhof Jungfernheide entstand ein dritter Bahnsteig, um den optimalen Übergang auf die Ringbahn zu gewährleisten. Eine Weiterführung über Gartenfeld hinaus über die Havel war zu einem späteren Zeitpunkt vorgesehen.
Moderne Bauverfahren, eine Ausführung als reine Nahverkehrsstrecke und die private Bauherrenschaft - all dies machte die Strecke besonders modern. Der Einsatz privaten Kapitals bei einer öffentlichen Investition, heute würde man vom PPP-Modell sprechen (public-private-partnership), ist angesichts knapper öffentlicher Gelder auch jetzt wieder für so manches Projekt die einzige Realisierungschance.
Alle Anlagen waren von der Siemens-Bauunion errichtet worden. Die Baukosten der rund 4,5 Kilometer langen Strecke betrugen 15 Mio. Reichsmark (RM). Nach der Fertigstellung übernahm die DR die Anlagen für den Betrieb. Als Ausgleich für die zu erwartenden Gewinne aus den Fahrgeldeinnahmen zahlte sie einmalig 3 Mio. RM an Siemens.
Der Grundfahrplan sah eine Zugfolge von 10 bzw. 20 Minuten zwischen Gartenfeld und Jungfernheide vor. Im Berufsverkehr wurden weitere Züge vom Nordring auf die Strecke geführt, so daß sich ein 5-Minuten-Takt ergab.
Mit Ausnahme kriegsbedingter Unterbrechungen war die Siemensbahn bis zum September 1980 in Betrieb, auch wenn sie vom allgemeinen Niedergang der S-Bahn in Berlin (West) ebenso betroffen war wie vom schleichenden Abbau des Industriestandortes Siemensstadt.
Nach rund 50 Jahren Betrieb legte die DR die Siemensbahn im September 1980 still. Seitdem sind die Gleise überwuchert, die baulichen Anlagen zerstört oder verfallen. Durch den Abriß der Spreebrücke als Folge des Wasserstraßenausbaus besteht kein Anschluß mehr an das übrige S-Bahn-Netz.
Im Flächennutzungsplan der Stadt Berlin ist die Strecke weiterhin enthalten. Mehr noch: Der Plan zeigt sogar eine Verlängerung zur Wasserstadt Oberhavel und weiter nach Hakenfelde mit einer Untertunnelung der Havel. Andere glauben demgegenüber an eine Zukunft der Strecke nach der Schließung des Flughafens Tegel. Ist das alles ernst zu nehmen? Wenn überhaupt, dann wohl nur sehr langfristig.
Zwei der drei Bahnhöfe der Siemensbahn sind in ihrer Erschließungsfunktion seit 1980 durch die Stationen der damals vom Richard-Wagner-Platz zum Rohrdamm verlängerten U-Bahn-Linie U 7 ersetzt worden. Kapazitätsengpässe gibt es auf diesem U-Bahn-Abschnitt bekanntlich nicht. Bleibt Gartenfeld - doch dieser Bahnhof alleine rechtfertigt noch keine Wiederherstellung der Siemensbahn, zumal die Industriearbeitsplätze der Firma Siemens immer weniger werden. Auch andere Nutzungen im Umfeld sind nicht in Sicht. Berlin wächst nicht mehr, alle Bemühungen, die Wasserstadt Oberhavel zu entwickeln, verlaufen zäh, die städtebaulichen Ziele konzentrieren sich vielfach nur noch auf Einfamilienhäuser - uninteressant für eine S-Bahn.
Nach der für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts geplanten Aufgabe des Flughafens Tegel wird es in Berlin noch eine weitere riesige, eigentlich nicht erforderliche Entwicklungsfläche geben. Wenn man das Gebiet nicht einfach wieder aufforsten, sondern baulich nutzen will, bietet sich eine Verlängerung der U 7 vom U-Bahnhof Jungfernheide viel eher an als eine Widerbelebung der Siemensbahn. Die Verzweigung der U 7 hätte man übrigens schon viel früher realisieren und dem Flughafen eine direkte U-Bahn-Anbindung in die West-City geben können, da am U-Bahnhof Jungfernheide erhebliche Vorleistungen erbracht wurden, konzipiert für die U-5-Verlängerung vom Alexanderplatz über Moabit und zum Flughafen Tegel.
Mit etwas Fantasie ließe sich aber auch eine Straßenbahnlinie, etwa vom Lehrter Bahnhof über Turmstraße und Jungfernheide (statt einer U-5-Verlängerung) durch die Siemensstadt und über den nördlichen Teil der Siemensbahn bis in die Wasserstadt und von dort Richtung Spandauer Innenstadt denken. Natürlich wäre auch das ein sehr langfristiges Projekt.
Fazit: Die Siemensbahn ist ein wichtiges Stück Industrie- und Eisenbahngeschichte Berlins. Aber es gibt Projekte im Schnellbahn-Bereich, die für eine Stadt- und umweltverträgliche Verkehrsentwicklung Berlins zur Zeit sehr viel wichtiger sind.
Weiteres zur Geschichte und zum Zustand der Siemensbahn finden Sie im Internet unter www.stillgelegte-s-bahn.de
Udo Dittfurth
Berliner S-Bahn-Museum
aus SIGNAL 6/2004 (Dezember 2004/Januar 2005), Seite 16-17