Titelthema Infrastruktur
Nach fast zwei Jahrzehnten Planungs- und Bauzeit kann wohl 2019 der erste Bauabschnitt des zweiten Berliner Nordsüd-Tunnels für die S-Bahn fertiggestellt werden. Fast alle Fehler und Fehlplanungen bei diesem Projekt sind nicht mehr rückgängig zu machen – mit einer Ausnahme: Das Land Berlin darf nicht länger auf den S-Bahnhof Perleberger Brücke verzichten, sondern muss umgehend mit der Planung und Sicherung der Finanzierung beginnen. Noch ist es möglich, ihn zusammen mit der Strecke in Betrieb zu nehmen.
12. Feb 2014
In der Aufbruchstimmung der Nachwendejahre schien alles möglich zu sein. Bis zum Jahr 2000 sollte Berlin einen neuen Hauptbahnhof bekommen, dort, wo sich die vorhandene Stadtbahn und der neue Nordsüd-Tunnel kreuzen. Erschlossen werden sollte der neue Zentralbahnhof durch einen zweiten Nordsüd-S-Bahn-Tunnel und die Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof.
Bekanntlich kam es anders.
Der Hauptbahnhof wurde erst im Mai 2006 fertig. Von der U-Bahn-Linie 5 konnte im August 2009 zunächst nur eine Stummelstrecke Hauptbahnhof—Bundestag—Brandenburger Tor mit Inselbetrieb eröffnet werden. Die Durchbindung zum Alexanderplatz wird erst 2019 oder vielleicht auch 2020 möglich sein (siehe Seite 15).
Noch schlechter sieht es für den neuen Nordsüd-Tunnel der S-Bahn aus, stets als Projekt S 21 bezeichnet – lange bevor dieses Kürzel auch für das Großprojekt „Stuttgart 21“ verwendet wurde. Nachdem der S-Bahn-Tunnel zunächst Bestandteil des „Pilzkonzeptes“ bzw. der „Verkehrsanlagen Zentraler Bereich“ war, wurde die Planung 1993 aufgegeben und erst 1995 im Grundsatz, ab 1999 verbindlich wiederaufgenommen (siehe u. a. SIGNAL 1 und 2/1995 ).
Der zwischenzeitliche Verzicht auf den S-Bahn-Tunnel hatte jedoch schwerwiegende Folgen. Der Tiergartentunnel als Gesamtprojekt von Fernbahn-, Straßen- und U-Bahn-Tunnel wurde ohne Vorleistungen für die S-Bahn gebaut, so dass für diese zwischen Hauptbahnhof und Brandenburger Tor nun eine eigene Trasse weiter östlich gefunden werden musste. Das bedeutete nicht nur Zeitverzug, sondern auch Mehrkosten.
Zwar wurde die S-Bahn-Trasse durch die Senatsbeschlüsse von 1995 und 1999 wenigstens beim Bau der Gleisanlagen auf dem Nordring und zwischen Nordring und Hauptbahnhof berücksichtigt, teils durch Trassenfreihaltung, teils durch bauliche Vorleistungen. Aber ausgerechnet am Hauptbahnhof wurde auf einen Teil der baulichen Vorleistungen verzichtet, um die Fertigstellung des Bahnhofs zur Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2006 nicht zu gefährden. Entsprechend aufwändiger und teurer sind nun die Arbeiten an dieser Stelle.
Beeinträchtigt wurde das S-21-Bahn-Projekt auch durch den Verzicht auf Unterwegshalte, so dass die Erschließungsfunktion der Strecke zwischen Gesundbrunnen und Potsdamer Platz erheblich vermindert ist. Nachdem der Bahnhof Perleberger Brücke zurückgestellt und auf eine Station am Reichstagsgebäude (geplant unter dem Friedrich-Ebert-Platz) auf „Wunsch“ des Deutschen Bundestages verzichtet wurde, gibt es bei der S-Bahn auf dem Abschnitt Gesundbrunnen—Hbf—Potsdamer Platz im Vergleich zum Regionalverkehr auf den Fernbahngleisen nur einen zusätzlichen Halt: den bereits bestehenden S-Bahnhof Wedding.
Finanziert wird der Bau der S 21 aus dem GVFG-Bundesprogramm mit einer Aufteilung 60 Prozent Bundesmittel und 40 Prozent Landesmittel. Nach der Finanzierungszusage des Bundes im November 2010 erfolgte im Juni 2011 der offizielle Spatenstich für den ersten rund 2,5 km langen Bauabschnitt vom Nordring zum Hauptbahnhof. Die Fertigstellung, einst für 2015 und beim Spatenstich für 2017 geplant, wird nun erst für 2019 erwartet.
Unmittelbar anschließend soll der zweite rund 2 km lange Bauabschnitt vom Hauptbahnhof zum Potsdamer Platz realisiert werden. 2013 wurden die Planungsleistungen ausgeschrieben, um rechtzeitig Planungsrecht zu haben. Langfristig soll es noch einen dritten Bauabschnitt vom Potsdamer Platz zum Südkreuz geben (siehe Senatszeichnung), der bei allen anderen Planungen entlang dieser Trasse zu berücksichtigen ist (Trassenfreihaltung).
Das Betriebskonzept für die S-Bahn nach Fertigstellung des 1. Bauabschnitts sieht vor, drei Linien im 20-Minuten-Takt zum Hbf zu führen und dort enden zu lassen. Die jetzt in Westend endende S 46 soll über den Nordring zum Hbf verlängert werden. Die vom Ostring kommende S 85 soll ab Gesundbrunnen nicht mehr nach Waidmannslust, sondern zum Hbf verkehren. Als Ersatz für die S 85-Nord soll eine S 11 von Waidmannlust nach Gesundbrunnen und weiter zum Hbf fahren.
Nach Fertigstellung des 2. Bauabschnitts soll die S 1 nicht mehr durch den alten, sondern durch den neuen Nordsüd-Tunnel fahren.
Es ist offensichtlich, dass mit der nach Fertigstellung des 1. Bauabschnitts noch wenig attraktiven Anbindung des Hauptbahnhofs keine allzu hohen Fahrgastzahlen zu erwarten sind, dass aber das „Kopfmachen“ von drei Linien am Hauptbahnhof einige Risiken für einen stabilen Fahrplan beinhaltet.
So war es auch nicht möglich, mit der teuren Stichstrecke und nur 24 000 Fahrgästen täglich (Prognose für 2015) bei der Nutzen-Kosten-Untersuchung 1998 auf einen Faktor deutlich über 1 zu kommen. Selbst der prognostizierte Anstieg der Fahrgastzahlen auf täglich über 100 000 nach Durchbindung zum Potsdamer Platz verbesserte 1998 den Wert nicht, da viele der Fahrgäste keine Neukunden sein werden, sondern bisherige S 1-Fahrgäste im alten Nordsüd-Tunnel.
Kaum besser war das Ergebnis der Nutzen-Kosten-Untersuchung 2010 mit den für 2025 prognostizierten Fahrgastzahlen. Gerechnet wurde richtigerweise nur noch der Fall der Durchbindung mit dem Ergebnis eines Nutzen-Kosten-Faktors von 1,35.
Dank massiver Unterstützung dieses Projektes insbesondere auch durch die Deutsche Bahn genügte dem Bund dieser Wert, um die S 21 im Herbst 2010 in das GVFG-Bundesprogramm aufzunehmen. Konsequenterweise hat der Bund seine Finanzierungszusage aber verbunden mit der Verpflichtung, nach Fertigstellung des 1. Bauabschnitts umgehend den 2. vom Hauptbahnhof zum Potsdamer Platz zu realisieren. Dass damit beim Land Berlin Gelder bis vermutlich 2025 für das S-21-Projekt gebunden werden und nicht für andere S-Bahn-, U-Bahn- oder Straßenbahnprojekte zur Verfügung stehen, liegt auf der Hand.
Angesichts der relativ geringen Verkehrsbedeutung des 1. Bauabschnitts ist es umso unverständlicher, dass das Land Berlin und die Deutsche Bahn den Bau des S-Bahnhofs Perleberger Brücke zwar planerisch berücksichtigt, die Realisierung aber auf unbestimmte Zeit zurückgestellt haben. Denn mit der neuen Station ließe sich der Verkehrswert der Stichstrecke deutlich erhöhen.
Schon heute gibt es im Umfeld dieses Standortes dicht bebaute Wohngebiete. Außerdem verfolgt das Land Berlin auf den Brachflächen beiderseits der Heidestraße ehrgeizige Pläne für Wohnen, Büros, Einzelhandel und Gewerbe. Auf ihrer Internetseite schreibt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz: „Der ,Masterplan Berlin Heidestraße´ formuliert das städtebauliche Entwicklungskonzept für die schrittweise Gestaltung des ca. 40 Hektar großen Areals zwischen Nordhafen, Heidestraße und Humboldthafen. Leitbild für die Heidestraße ist die nachhaltige Entwicklung.“ Nachhaltige Entwicklung ohne attraktive Schienenanbindung?
Bedeutung hätte der S-Bahnhof Perleberger Brücke auch als Umsteigebahnhof zu mehreren BVG-Buslinien, zurzeit M 27, 123 und 142.
Die Seitenbahnsteige auf der Brücke Richtung Wedding würden rund 20 Millionen Euro kosten, der Inselbahnsteig Richtung Westhafen rund 8 Millionen Euro. Das sind angesichts der Milliardenbeträge, die das Land Berlin und private Investoren für die Entwicklung des Quartiers an der Heidestraße aufwenden, lächerliche Summen.
Unverständlich ist die ablehnende Haltung des Senats auch vor dem Hintergrund fehlender Fakten. Zwar wurde immer suggeriert, der Bahnhof würde den Nutzen-Kosten-Faktor für die S 21 nach unten ziehen, aber weder 1998 noch 2010 wurden Varianten mit einem Bau des S-Bahnhofs gerechnet.
Wird der Bau nun, wie oben gefordert, im Rahmen der Entwicklung des Quartiers an der Heidestraße und nicht aus dem GVFG-Bundesprogramm finanziert, dann ist es allerdings auch nicht erforderlich, eine Nutzen-Kosten-Untersuchung nachzuholen.
Deshalb kann und muss jetzt umgehend mit der Planung für diesen wichtigen S-Bahnhof begonnen werden. Rechnet man rund 2 ½ Jahre bis zum Planfeststellungsbeschluss und rund 2 ½ Jahre Bauzeit, könnte die neue Station noch zur Eröffnung der S-Bahn-Strecke 2019 fertig sein.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 1/2014 (Februar 2014), Seite 8-9