Stadtverkehr
Berlins Einwohner-, Touristen- und Pendlerzahlen steigen seit Jahren, und nach den Senatsprognosen wird sich dieser Trend fortsetzen. Dementsprechend wird auch die Zahl der BVG-Fahrgäste weiter steigen. Daher ist es absurd, dass Finanzsenator Ulrich Nußbaum noch immer bestrebt ist, das Verkehrsangebot der BVG zu kürzen. Wachsende Fahrgastzahlen erfordern vielmehr ein wachsendes Verkehrsangebot – zum Beispiel bei der Straßenbahn der BVG.
12. Feb 2014
Im September 2008 stellte BVG-Straßenbahndirektor Klaus-Dietrich Matschke die vier Prototypen der neuen Generation Niederflurwagen vom Typ Flexity für Berlin vor. Nachdem sich die Vorgängerbauart GT6 aus den 1990er Jahren nach den üblichen Kinderkrankheiten zwar technisch bewährt, aber als zu klein erwiesen hatte, sollten nun auch längere Einzelfahrzeuge beschafft werden.
Zu diesem Zeitpunkt fuhr die BVG nach IGEB-Vorschlägen (siehe u. a. SIGNAL 3/2004 ) auf den meisten niederflurtauglichen Linien ein Mischangebot aus abwechselnd GT6-solo- und Tatra-Doppelzügen jeweils alle 20 Minuten. So gab es auf den Metrolinien einerseits eine genügend große Kapazität (durch die langen Tatrazüge) und andererseits
ein berechenbares (und im Fahrplan ausgewiesenes) barrierefreies Angebot. Die typische Nennkapazität einer solchen Linie in 20 Minuten beträgt: 2×100=200 Personen im Tatrazug +150 Personen im GT6, zusammen 350 Personen. Das war der Fall auf den Linien M 5, M 8, M 13, M 17 und 50.
Auf den Linien M 1, M 2 und M 6 fuhren dagegen nur GT6 alle 10 Minuten, das entspricht 300 Personen in 20 Minuten. Auf der Linie M 10 fuhren schon damals die GT6 alle 5 Minuten, also mit 600 Personen Kapazität in 20 Minuten. Auf der Linie M 4 fuhren alle 20 Minuten eine GT6-Doppeltraktion und zusätzlich 3 Mal in 20 Minuten KT4D-Doppeltraktionen, das ergibt zusammen 900 Personen Kapazität in 20 Minuten. Weitere Verdichtungen, bei einigen Linien nur auf Teilabschnitten, fanden nur in der Hauptverkehrszeit (HVZ) statt.
Apropos Nennkapazität: Aus Gründen der Einheitlichkeit werden die gerundeten Zahlen der BVG benutzt. Ein KT4D fasst demnach 100 Personen, ein GT6 150 Personen, ein kurzer Flexity (F6) 180 Personen und ein langer Flexity (F8) 240 Personen. Die Abweichungen zwischen Ein- und Zweirichtungswagen liegen nach BVG-Angaben im tolerablen Bereich und werden daher hier nicht weiter ausgeführt. Obwohl die absoluten Zahlen aus Fahrgastsicht kritisiert werden müssen (Stehplatzdichte 4 Personen/m²), sollen sie hier als die einzig verfügbaren offiziellen Daten Verwendung finden. Diese Untersuchung hat das Verhältnis der angebotenen Kapazitäten zueinander zum Gegenstand, welches in den BVG-Zahlen leicht verständlich zum Ausdruck kommt.
Heute, über 4 Jahre später, sind die Zuwachsprognosen Realität geworden, und immer häufiger müssen Fahrgäste an den Haltestellen zurückbleiben oder sich zu viert einen einzigen Quadratmeter teilen, weil das Angebot nicht ausreicht. Auf mehreren Straßenbahnlinien ist eine Angebotsausweitung dringend erforderlich.
Auf der Linie M 1 ist eine Taktverdichtung erforderlich, weil es hier gerade einmal das Mindestangebot gibt, das den Titel „Metrotram“ rechtfertigt, und weil diese Linie in Prenzlauer Berg verkehrt, wo die Einwohnerzahlen und die Fahrgastzahlen besonders stark steigen. Deshalb kommt es auf der M 1 auch außerhalb der HVZ regelmäßig zu Überfüllungen. Die Verdichtung durch einen dritten 20-Minuten-Takt zwischen Hackescher Markt und Pastor-Niemöller-Platz in Pankow ist seit Jahren überfällig und würde in der Folge auch auf dem weiter zu befahrenden nördlichen Außenast für einen wenigstens angenäherten Metrotakt sorgen (bisher werden beide Nordabschnitte mit einem 20-Minuten-Basisfahrplan befahren). Darum ist für das Zusatzangebot eine Betriebszeit montags bis freitags durchgehend von mindestens 6 bis 20 Uhr nötig. Mit einem 7/7/6-Minuten-Takt auf dem zentralen Linienabschnitt ist auch bei unverändertem GT6-Einsatz eine Kapazitätssteigerung um 50 Prozent möglich. Einziger Nachteil dieser Lösung ist die Verschiebung des reinen 10-Minuten-Angebots zur Endstelle Am Kupfergraben zu einem 12/8-Minuten-Takt.
Auf der Linie M 2 setzt die Kapazität der stumpfen Endstelle am Alexanderplatz der Taktdichte Grenzen, so dass hier eine Verlängerung der Züge der bessere Weg ist. Allerdings ist der Ersatz der GT6 durch die kurzen Flexity nur übergangsweise ausreichend. Nach Lieferung der langen Zweirichtungswagen müssen diese auch hier zum Einsatz kommen. Speziell sonntags, wenn nur das Metrotram-Basisangebot alle 10 Minuten gefahren wird, ist dieser Typ unentbehrlich. Neben dem Grundtakt mit langen Zügen kann die BVG bei den Verdichtern an Werktagen mit den F6 „kürzer treten“.
Die größte Herausforderung für die erforderliche Angebotserweiterung stellt die hochbelastete Linie M 4 dar. Hier werden schon heute sowohl der kürzeste Takt als auch die längsten Züge angeboten. Es verbleibt als einzige Steigerungsmöglichkeit der vermehrte Einsatz von 55-m-Zügen (GT6-Doppeltraktion). Diese sollten einen kompletten 10-Minuten-Takt fahren, und der überlagernde 10-Minuten-Takt sollte mit langen Flexitys gefahren werden. Während des Berufsverkehrs sollten weitere lange Flexity den zusätzlichen 10-Minuten-Takt fahren, so dass auf dem stärker belasteten der beiden Außenabschnitte ein 6/4-Minuten-Takt mit 40-m-Zügen und auf dem anderen ein 10-Minuten-Takt mit GT6-Doppeltraktionen angeboten werden kann. Außerhalb der HVZ sollten die 55-m-Züge auf dem stärkeren Endstück und die Flexitys auf dem anderen eingesetzt werden. So kann ohne Taktverdichtung eine Kapazitätserweiterung in der HVZ von fast 20 Prozent auf der Stammstrecke und über 35 Prozent auf dem Hauptast hinter Prerower Platz erzielt werden. Im normalen Werktagsverkehr betragen die Steigerungsraten immer noch 20 Prozent auf allen Abschnitten.
Wenn die großen Flexity für die M 4-HVZ-Verstärker am Wochenende nicht gebraucht werden, dann können sie auf der M 1 eingesetzt werden. Dadurch wird im dort sehr starken Wochenendverkehr ohne zusätzliches Personal die gleiche Kapazität wie mit dem verdichteten Wochentagsfahrplan erreicht.
Auf der Linie M 5 sollte das schon heute meist mit langen Flexitys gefahrene Angebot auf den Stammzügen (plus HVZ-Verstärker mit GT6 alle 10 Minuten auf dem äußeren Abschnitt) ausreichen, denn es stellt eine Kapazitätsausweitung um 37 Prozent (HVZ 20 Prozent) dar. Dasselbe trifft auf die M 8 zu, wo alle Züge des 10-Minuten-Grundtaktes als F8 fahren müssen.
Auch auf der Linie M 6 hat die BVG erfreulicherweise schon das Angebot aufgestockt und fährt überwiegend mit 55-m-Niederflurzügen, nachdem sich der Einsatz nur einzelner GT6 als völlig unzureichend herausstellte. Da das nur eine Übergangslösung sein kann, weil die alten Niederflurzüge nach Abstellung aller Tatrawagen auf dem Köpenicker Netzteil gebraucht werden, ist auch hier der lange Flexity das Fahrzeug der Wahl. Im 10-Minuten-Takt genau wie auf der M 5 plus 10-Minuten-Verstärker mit GT6 im Berufsverkehr ergibt sich gegenüber 2009 eine Angebotsausweitung um 60 Prozent (HVZ 30 Prozent).
Die Erfahrungen mit dem zwischenzeitlichen Einsatz der GT6-Doppeltraktionen zeigen aber auch auf der M 6 die dauerhafte Notwendigkeit dieses Zugtyps. Die notwendige Mehrbeschaffung von Straßenbahnen für diese und andere Linien über die jetzt finanzierten 138 Serienwagen hinaus muss schon jetzt vorbereitet werden.
Auf der Linie M 10 ist bis auf weiteres eine Verlängerung der Züge noch nicht planbar. Mittelfristig müssen BVG und Senat auch für diese Linie lange Flexity einplanen. Besonders dringlich wird diese Kapazitätsausweitung mit der verkehrlich schon lange notwendigen Verlängerung der M 10 von der Warschauer Straße zum Hermannplatz in Neukölln. Die perspektivisch durch den Einsatz von 2× GT6 freiwerdenden langen Flexity der M 6 können dann hier eingesetzt werden. Als Ausgleich stehen die auf der M 10 heute eingesetzten F6 zur Freisetzung der benötigten GT6 zur Verfügung.
Die Linie 12 hat in den letzten Jahren eine überdurchschnittliche Fahrgastzunahme erlebt, so dass eine Verdichtung zumindest montags bis freitags geboten ist. Eine Umstellung von 15- auf 10-Minuten-Takt entspricht einer angemessenen Platzausweitung um 50 Prozent, auch ohne den Einsatz größerer Wagen. Wenn die BVG am Wochenende bei ebenfalls erweiterter Kapazität Personal sparen will, empfiehlt sich der Einsatz kurzer Flexitys, die dann auf der M 2 nicht gebraucht werden.
Die Linie M 13 ist der nächste Kandidat für eine mittelfristig nötige Flottenerweiterung. Bei unveränderter Bestellung bleiben für diese Linie zunächst nur die F6-Wagen übrig. Damit lässt sich aber kein Wachstum erzielen, es wird lediglich der Status quo gehalten. Dasselbe gilt für die Erfolgslinie 50, die sich mit der M 13 einen langen Abschnitt teilt und für die ebenfalls kurze Flexitys aus der jetzt gültigen Bestellung übrigbleiben.
Während die oben beschriebenen Linien bis auf die Neubaustrecke zum Hauptbahnhof unverändert bleiben, muss für die Bedarfsabschätzung der Linie M 17 etwas weiter ausgeholt werden. Diese Linie ist Teil der Straßenbahn-Osttangente und bildet mit den dazugehörenden Linien 27 und 37 einen gemeinsamen Takt. Dabei stellt die 37 einen reinen Werktagsverstärker der M 17 dar, und die IGEB hat zur Behebung der Kapazitätsprobleme im Studentenverkehr der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) schon in SIGNAL 6/2013 eine Verlegung der 37 zur neuen Endstelle an der Wuhlheide gefordert. Damit würde die 37 zu einer adäquaten Verstärkung der ebenfalls überlasteten Linie 27, die auf absehbare Zeit mit GT6-Solowagen weiterbetrieben werden muss. In diesem Szenario muss die M 17 zwingend mit langen Flexitys bedient werden, um die weggefallenen Kapazitäten der Linie 37 zum Bahnhof Schöneweide zu ersetzen. Auch die Linie 21 bekommt dadurch auf ihrem Südende einen größeren Stellenwert zur Entlastung der M 17.
Die freigesetzten GT6-Wagen werden durch die oben beschriebenen notwendigen Taktverdichtungen und zusätzlichen Verdichtungsleistungen auf der 21 und der 63 alle über Jahre noch gebraucht und stehen für die eigentlich nötigen Doppeltraktionen auf den am stärksten belasteten Radiallinien nicht zur Verfügung. Darum fordert die IGEB den BVG-Aufsichtsrat mit dem Finanzsenator als Vorsitzendem auf, schon jetzt die Weichen für eine Anschlussbestellung neuer Straßenbahnen zu stellen. Nur so kann das bisherige Wachstum der Straßenbahn-Leistung für Berlin gesichert werden.
Aber auch der Stadtentwicklungssenator ist aufgerufen, neue Strecken so zu planen, dass der Einsatz von 60-m-Zügen als effektiver Methode zur Kostensenkung auf allen Metrolinien möglich bleibt! Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass zur Freisetzung von GT6 für Doppeltraktionen auch auf den Außenstrecken zukünftig vermehrt (kurze) Flexitys fahren werden. Eine Anpassung der Infrastruktur besonders im Netz Köpenick ist daher schon jetzt vorzubereiten. (af)
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 1/2014 (Februar 2014), Seite 20-21