Aktuell
1. Apr 1994
Bei der Diskussion um die Magnetschnellbahnstrecke Hamburg - Berlin werden häufig verkehrswirtschaftliche und technologiepolitische Argumente vermischt. Auch das "Finanzierungskonzept" der Magnetschnellbahn Berlin - Hamburg GmbH vom Dezember 1993 für diese Referenzstrecke enthält in seiner "Zusammenfassung" eine Auflistung der technologischen, industriepolitischen und exportbezogenen Perspektien. Auf diese Aspekte wird im folgenden nicht eingegangen. Auch bleiben einige weniger wichtige Einzelheiten des Finanzierungskonzeptes, die aus wissenschaftlicher Sicht angreifbar sind (z.B. geschätzte Beschäftigungseffekte, Steuerpräferenzen), außerhalb der Betrachtung. Auch geht es dem Beirat nicht darum, die Einführung innovativer Verkehrstechnologien in Frage zu stellen. Er verkennt nicht, daß hierzu Mut und Risikobereitschaft erforderlich sind.
Die folgende Stellungnahme bezieht sich vielmehr ausschließlich auf den verkehrswirtschaftlichen Teil des Finanzierungskonzeptes. Sie hat zum Ziel, vorhandene Schwachstellen aufzuzeigen und Risiken offenzulegen, die auf den Verkehrshaushalt zukommen können, obwohl sie aus verkehrswirtschaftlichen Gründen nicht eingegangen werden müßten.
Nachfrageprognosen, Erlösschätzungen, Kalkulation der Investitions- und der Betriebskosten basieren auf idealen Randbedingungen. Ergebnisabschätzungen unter realistischen Voraussetzungen sind im Finanzierungskonzept ebensowenig aufgeführt wie solche für den pessimistischen Fall. Die Wirtschaftlichkeits- und Finanzierungsrechnungen weisen darüber hinaus eine wesentliche Lücke auf (vgl. Ziffer 7), durch die eine angemessene Rentabilität für den Betreiber bei niedrigen staatlichen Verpflichtungen ausgewiesen wird, obwohl unter realistischen Voraussetzungen kaum die Zahlungen eines größeren Fahrwegbeitrages erwartet werden kann. Der wirtschaftliche Grundsatz, eine wichtige Investitionsentscheidung auf einen Vergleich denkbarer Alternativen zu gründen, wurde ebenfalls nicht beachtet.
Die Prognosen zum Verkehrsaufkommen einer Magnetschnellbahn basieren auf den Randbedingungen der Bundesverkehrswegeplanung von 1992. Die Entwicklungszahlen für Bevölkerung und Wirtschaft in Ostdeutschland einschließlich Berlin sind durch das politische Ziel: "Angleichung der ökonomischen Lebensbedingungen in Ostdeutschland bis zum Jahr 2010 an die Verhältnisse in Westdeutschland" maßgeblich bestimmt, wobei für Westdeutschland eine durchschnittliche jährliche Veränderungsrate des realen Bruttoinlandsproduktes von 2,3 % angenommen wurde. Die Großregion Berlin wurde als Wachstumspol mit einer überdurchschnittlichen Wirtschaftsdynamik und einem Bevölkerungsanstieg von 4,2 auf 4,9 Mill. Einwohner definiert. Angesichts der realen Entwicklung sind dies außerordentlich optimistische Perspektiven. Es ist sicherlich zu rechtfertigen, staatliche Planungen auf solche Zielprognosen zu begründen, um mit Hilfe von Infrastrukturinvestitionen den Wachstumsprozeß in den jungen Ländern zu beschleunigen. Keinesfalls wird man jedoch ein Privatfinanzierungskonzept für die Magnetschnellbahn auf solchen politischen Wunschentwicklungen aufbauen können. Wenn dies dennoch getan wird, liegt die Vermutung nahe, daß die beteiligte Wirtschaft mit der Möglichkeit einer höheren Staatsbeteiligung rechnet, als im Finanzierungskonzept ausgewiesen.
Die Verkehrszahlen zur Abschätzung der Erlöse wurden einem gutachterlich bearbeiteten Planfall entnommen, der das Nachfragepotential einer Magnetschnellbahn unter idealen Voraussetzungen für die Erreichbarkeit der Magnetbahn-Haltepunkte und deren Verknüpfung mit Einrichtungen des Nah- und Fernverkehrs für das Jahr 2010 projiziert. Der im Finanzierungskonzept beschriebene Planungsfall mit fünf Haltepunkten ist regionalpolitisch optimiert worden, um einen Haltepunkt in Mecklenburg-Vorpommern anzubieten und um realistischere Voraussetzungen für die Pkw-Erreichbarkeit zu schaffen. Die naheliegende und auch gutachterlich belegte Konsequenz, daß der neu gebildete Planungsfall mit einer deutlich schlechteren Nachfrageerschließung verbunden ist, wurde nicht berücksichtigt.
Die gutachterlich unter idealen Voraussetzungen ermittelte Erlösobergrenze für das ausgewiesene Nachfragepotential von 14,5 Millionen Fahrten liegt bei durchschnittlich 27 Pfennig/Personenkilometer für die Magnetbahnfahrt, einschließlich Mehrwertsteuer. Hierbei ist eine Monopolsituation im spurgeführten Verkehr angenommen worden (einzige Alternative: InterRegio Hamburg - Berlin im 2-Stunden-Takt), so daß bei entsprechender Preisdifferenzierung deutlich über 95 % des spurgeführten Verkehrs auf der Magnetbahnstrecke lägen. Die DB AG hat diese Schätzung als zu optimistisch charakterisiert und geht von 23 Pf/Pkm einschließlich Mehrwertsteuer aus. Im Finanzierungskonzept wurden dagegen 28 Pf/Pkm zuzüglich Mehrwersteuer in die Rechnung eingestellt. Dieser Erlössatz von brutto 32,2 Pf/Pkm wurde mit der Nachfrage von 14,5 Millionen Fahrten verknüpft. Dies ist unzulässig, da in einem Gutachten zur Erlösprognose gezeigt wurde, daß bei diesem hohen Tarif nur noch eine Nachfrage von 12,2 Millionen Fahrten zu erwarten wäre. Eine Altemativrechnung mit dem von der DB AG (als der vorgesehenen Betreibergesellschaft) für realistisch gehaltenen Erlössatz oder mit einem Erlössatz für eine Wettbewerbssituation im spurgebundenen Verkehr wurde im Finanzierungskonzept nicht aufgeführt.
Um die für ein hochwertiges Magnetschnellbahnsystem kalkulierten Reisezeitgewinne erreichen zu können, sind umfangreiche und zum Teil sehr aufwendige Zusatzinvestitionen erforderlich. Solche Zusatzinvestitionen an den Haltepunkten wurden nicht berücksichtigt. Einrichtungen für betriebliche Zwecke, wie Betriebshöfe oder Ausweichstellen, erscheinen stark unterkalkuliert. Auch bestehen erhebliche Zweifel, ob die vorgesehene oberirdische Trassierung im Berliner Raum möglich ist. Durch das Ausklammem derart umfangreicher Kostenfaktoren ist das Finanzierungskonzept unvollständig.
Da die DBAG als Betreiber vorgesehen ist, wäre eine konsolidierte Beurteilung der Wirtschaftlichkeit für Magnetbahn- und Bahnbetrieb, also unter Berücksichtigung der durch die Verlagerung des Verkehrs von der Schiene auf die Magnetbahn entgehenden Deckungsbeiträge im Bahnnetz, erforderlich. Im Finanzierungskonzept wurde aber der Bruttoerlös auf der Magnetbahnstrecke der gesamten Einnahmeänderung gleichgesetzt (Erlös bei 14,5 Millionen Fahrten im Jahr 2010 geschätzt auf ca. 1,15 Mrd. DM pro Jahr). Erlösausfälle im Netz der DB AG blieben unberücksichtigt. Laut Prognose für den "Bestfall" sind von den 14,5 Millionen Fahrten etwa 5 Millionen von anderen Verkehrsmitteln (Flugzeug, Pkw) verlagert, während der Rest von 9,5 Millionen sonst die Bahn benutzt hätte (bei einem ICE-Angebot mit etwa 2 Stunden Fahrtzeit von Hamburg nach Berlin). Bewertungsrelevant sind also nur 5 Millionen Fahrten sowie die dabei evtl, entstehenden zusätzlichen Reiseweiten und die Zusatzerlöse durch die höhere Attraktivität der Magnetbahn. Überschlägig erhält man in einer konsolidierten Rechnung für den "Bestfall" unter ansonsten idealen Bedingungen nur noch etwa ein Drittel des im Finanzierungskonzept ausgewiesenen Betrages von 310 Millionen DM, den der Betreiber jährlich für den Fahrweg abführen kann. Unter realistischen Voraussetzungen schrumpft dann der mögliche Fahrwegbeitrag auf einen Wert nahe Null. Berücksichtigt man ferner, daß die DB AG auch das einzubringende Risikokapital von 300 Millionen von ihrem Eigentümer erwarten wird, so klafft sowohl beim Haftungskapital wie auch bei der Refinanzierung eine bedenkliche Lücke. Also muß die öffentliche Hand damit rechnen, daß sie in weit höherem Umfang, als im Finanzierungskonzept veranschlagt, in Anspruch genommen wird.
Rationale Entscheidungen bedingen ein Abwägen zwischen Alternativen. So könnte mit einer Hochgeschwindigkeitsstrecke über Boizenburg und Wittenberge gleichfalls ein hoher Verkehrswert erzielt werden (geschätzte Fahrtzeit: 82 Minuten, also rund 20 Minuten mehr als mit der Magnetbahn; Haltepunkt Lehrter Bahnhof statt Westkreuz; geschätzte Investitionskosten: 2,4 Mrd. DM). Unter dem Druck der Rentabilitätserwartung kürzt die DB AG gegenwärtig an vielen Stellen die früher konzipierten und zum Teil in der Bundesverkehrswegeplanung festgehaltenen Neu- und Ausbauvorhaben. So könnte auch ein Neigetechnik-Zug bei punktuellem Ausbau der Strecke mit einem Investitionsvolumen von etwa 1,5 Mrd. DM die Verbindung Hamburg - Berlin in rund 90 Minuten bewältigen und so einen Nachfragezuwachs bewirken, der je Einheit einen weit geringeren Einsatz erfordert. Eine Prüfung solcher Alternativen hätte deswegen nahegelegen, weil das Eisenbahnkonzept für Berlin ("Pilz-Konzept") den zentraler gelegenen Lehrter Bahnhof als Verknüpfungspunkt für die Fernbahnlinien vorsieht, der von ICE-Linien direkt angefahren würde. Damit könnten ICE-Zügen den Geschwindigkeitsnachteil gegenüber der Magnetschnellbahn zum Teil durch die bessere Zentralität des Haltepunktes und dessen hochwertige Verknüpfung mit Einrichtungen des Fern- und Nahverkehrs ausgleichen. Bezüglich der Wettbewerbssituation zwischen Bahn und Magnetbahn ist zu berücksichtigen, daß die Monopolstellung einer Magnetbahn auf der Relation Hamburg - Berlin künftig selbst dann nicht gewährleistet ist, wenn die DB AG die Strecke betreibt. Das Ziel der Europäischen Union, transeuropäische Strecken interoperabel zu machen und von verschiedenen europäischen Gesellschaften gemeinsam nutzen zu lassen, kann bei realer Umsetzung dazu fuhren, daß schwedische oder dänische Eisenbahngesellschaften Fahrplantrassen auf der vorhandenen Strecke Hamburg - Berlin von der Fahrweg AG anmieten und als Konkurrenten zur Magnetbahn mit günstigeren Preisen und besserem Komfort für den durchgebundenen Verkehr auf der europäischen Relation von Stockholm nach Prag Marktanteile auf sich ziehen. Das Durchdenken solcher Alternativen ist bei einer Investition von mindestens 9 Mrd. DM dringend geboten.
Die Verpflichtung des Bundes aus einer Realisierung der Magnetschnellbahnstrecke Hamburg - Berlin wird nach den Erkenntnissen des Beirats wesentlich höher ausfallen, als im Finanzierungskonzept ausgewiesen. Eine Investitionsförderung durch den Verkehrshaushalt des Bundes sollte aber das Volumen nicht überschreiten, das bei einer alternativen Bahninvestition mit optimaler verkehrswirtschaftlicher Auslegung anfiele. Darüber hinausgehende staatliche Beteiligungen, die aus industriepolitischen Gründen für notwendig gehalten werden, sollten nicht aus dem Haushalt des Verkehrsressorts finanziert werden. Ansonsten würden andere wichtige Verkehrsprojekte, die wesentlich bessere Rentabilitäten und verkehrswirtschaftliche Nutzen versprechen, verdrängt oder zeitlich aufgeschoben, so zum Beispiel Projekte aus dem Investitionsprogramm deutsche Einheit". Im Hinblick auf die industriepolitischen Aspekte des Magnetschnellbahn- Projekts vermißt der Beirat allerdings Aussagen zu den Weltmarktchancen und den international ausgerichteten konzeptionellen Vorstellungen einer Integration dieses Systems in die vorhandenen Verkehrsinfrastrukturen.
Insgesamt bewertet der Wissenschaftliche Beirat das Finanzierungskonzept als Fortschritt gegenüber den zuvor entwickelten "Privat-Finanzierungsmodellen. Die Risikobeteiligung der Industrie und der Kreditinstitute ist jedoch noch unbefriedigend. Wenn die Industrie von der Weltmarktfähigkeit des Magnetbahnprodukts überzeugt ist, so darf man von ihr eine höhere Risikobereitschaft erwarten, zumal sie durch das Projekt nach eigenem Bekunden einen entscheidenden Schritt in Richtung auf die Erschließung internationaler Märktevorankäme. Außerdem sollte ein Betreiber- und Finanzierungsmodell nicht vom vorgesehenen Betreiber abstrahieren, indem es die Rückwirkungen auf dessen konsolidierte Erfolgsrechnung ignoriert. Ansonsten erscheint die entwickelte Struktur einer privat/öffentlichen Mischfinanzierung als geeignetes Modell für Verkehrsinvestitionen mit großem Finanzierungsvolumen, so daß deren Weiterentwicklung angeregt wird.
Prof. Dr. G. Aberle, Gießen (Vorsitzender)
Prof. Dr. H. Baum, Köln
Prof. Dr. H. Diederich, Mainz
Prof. Dr. H.-J. Ewers, Münster
Prof. Dr. R. Funck, Karlsruhe
Prof. Dr. G. B. Ihde, Mannheim
Prof. Dr. H. Jürgensen, Hamburg
Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing.e.h. W. Leutzbach
Prof. Dr. R. Mackensen, Berlin
Prof. Dr. Dr.h.c.mult. P. Riebel, Kronberg
Prof. Dr. W. Rothengatter, Karlsruhe
Prof. Dr. H. St. Seidenfus, Münster
Prof. Dr. R. Willeke, Köln
8. Februar 1994
Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für Verkehr - Gruppe Verkehrswirtschaft
aus SIGNAL 2-03/1994 (April 1994), Seite 4-7