Nahverkehr
Berlins Verkehrssenator legt offen, wie er den Tram-Ausbau blockieren will
1. Apr 1994
Wer an der Sitzung des Verkehrsausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses am 19. Januar 1994 teilnahm, wurde von Verkehrssenator Herwig Haase belohnt: Der Senator verteilte seinen "Sachstandsbericht Straßenbahnplanungen" vom Januar 1994 zur "Umsetzung des Straßenbahnkonzeptes für Berlin". Doch es kam noch besser. Die mit vielen Farbkopien aufwendig gestaltete Broschüre war ausgesprochen informativ. Wer sich nicht von den Farben der Broschüre und den Worten des Senators blenden ließ, konnte erkennen, auf welche Weise der Tram in Berlin weiterhin jeder nur mögliche Stein in den Weg gelegt wird. Und deshalb wird es auch im Jahr 5 nach dem Sturz der Mauer keine Tram-Neubaustrecke geben. Das ist der Sachstand, von Herrn Haase berichtet, von der CDU/ SPD-Koalition gewollt bzw. geduldet.
Schon auf Seite 1 des "Sachstandsberichtes Straßenbahnplanungen" werden von Verkehrssenator Haase die Karten auf den Tisch gelegt: "Die 1993 [im Bericht zur 'Umsetzung des Straßenbahnkonzeptes für Berlin' - vgl. SIGNAL 4/93 ] feslgelegten Prioritäten der Einzelvorhaben sind inzwischen unter Beachtung der relevanten Planungen und der speziellen Realisierungsmöglichkeiten präzisiert worden". Präzisiert heißt hier nichts anderes, als daß von den ursprünglich 18 geplanten Streckenabschnitten mit 57,1 km, die in der 1. Ausbaustufe vorgesehen waren, nur noch 10 Vorhaben in z.T. abgewandelter Form bearbeitet werden. Es sind die Strecken:
Alle anderen, noch vor einem Jahr zur 1. Ausbaustufe gezählten Streckenabschnitte sind offenbar bereits zu den Akten gelegt worden, obwohl schon unter den 18 Vorhaben so dringliche wie die Tram nach Moabit fehlten.
"Für das Vorhaben Bornholmer Straße - Seestraße ist mit Einleitung des Planfeststellungsverfahrens die Verantwortung bereits zur Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen übergegangen", heißt es in Senator Haases Sachstandsbericht. Falsch. Tatsächlich gibt es folgenden Sachstand (s. auch SIGNAL 9-10/93 ): Die im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens im Herbst 1993 von der Senatsverwaltung für Verkehr ausgelegten Entwürfe waren unter den Gesichtspunkten der Benutzerfreundlichkeit sowie der Stadt- und Umweltverträglichkeit völlig ungeeignet. Aufgrund dieser und anderer Einwendungen hätte die Senatsverwaltung für Verkehr schon längst den erforderlichen Erörterungstermin veranstalten müssen. Doch ein solcher Termin ist noch nicht in Sicht, so daß erneute gravierende Verzögerungen nicht mehr zu vermeiden sind.
Trameröffnung kurz vor den Wahlen?Nichtsdestotrotz verkündete Bausenator Wolfgang Nagel kürzlich den Beginn der Bauarbeiten auf dieser Strecke für das Frühjahr 1994, und schon im Herbst 1995 soll die Tram nach seinen Worten bis zum Louise-Schröder-Platz fahren, wo eine provisorische Endstelle mit Hilfe eines Gleisdreiecks gebaut werden soll. Die Betriebsaufnahme würde dann (wenigstens auf einem Teilabschnitt) immerhin zwei Jahre früher erfolgen, als von der Verkehrsverwaltung vorgesehen. Soll man nun den Bausenator kritisieren, weil er wiedermal einen völlig illusorischen Termin versprochen hat? Oder soll man ihn für seinen richtigen Ansatz (schnelle stufenweise Inbetriebnahme) loben und darauf hoffen, daß er ausreichend motiviert ist, sich durchzusetzen, da "sein" Eröffnungstermin kurz vor der nächsten Abgeordnetenhauswahl liegt?
Zurück zum Sachstandsbericht: Für alle anderen Strecken der 1. Baustufe ist - mit Ausnahme eines 700 m kurzen Abschnittes in der Friedrichstraße - der Baubeginn frühestens für 1996 vorgesehen! (Siehe Tabelle auf Seite 9.) Und vorsichtshalber wird kein einziger Inbetriebnahmetermin genannt - aus "guten" Gründen: Viele der im Sachstandsbericht erläuterten Planungen lassen Zweifel aufkommen, daß die Realisierung der benannten Planungen schnell oder überhaupt möglich sein könnte.
Die Streckenverlängerung zum Alexanderplatz soll in zwei Bauabschnitte
aufgeteilt werden:
1. Bauabschnitt: Mollstraße - Hans-Beimler-Straße - Wadzeckstraße -
ehern. Neue Königstraße - Alexanderplatz - Rathausstraße -
Spandauer Straße - Karl-Liebknecht-Straße - Gontardstraße
(- Rathausstraße).
Bauabschnitt (ohne Zeitangabe) : Prenzlauer Tor -
Karl-Liebknecht-Straße/Gontardstraße sowie Verbindungstrecke
Karl-Liebknecht-Straße - Dircksenstraße - Rathausstraße.
Schon der abgebildete Lageplan-Ausschnitt für den 1. Bauabschnitt gibt Zeugnis für den Stellenwert, der der Tram in der Berliner Stadt- und Verkehrsplanung derzeit eingeräumt wird: Auf der eigentlich beinahe geradlinig befahrbaren, ca. 700 m langen Strecke zwischen Landsberger Allee und Haltestelle Alexanderplatz (oder besser Rathaus- Ecke Gontardstraße) gelingt es den Planern, die Straßenbahn nicht weniger als sieben Mal durch enge Kurven (die mit höchstens 20 km/h befahren werden können) zu schicken! Die vorgesehenen Haltesteilen-Standorte am Alexanderplatz liegen in der Rathaus- bzw. der Gontardstraße, so daß zu den U-Bahn-Linien sehr weite Umsteigewege (insbesondere zur U2) entstehen. Daran ändert auch die Darstellung von U- Bahn-Symbolen an der Haltestelle in der ehem. Neuen Königstraße nichts, denn hier befindet sich zwar eine Fußgängerunterführung, aber weit und breit kein Eingang zu einem U-Bahnhof.
Klassisch ist dagegen die Strategie, die sich die Tram-Gegner für den Alexanderplatz zurechtgelegt haben: Eberhard Diepgens Senatskanzlei lehnt die vor dem Roten Rathaus geplante Straßenbahn-Strecke aus "protokollarischen Gründen" ab, und der verkehrspolitische Sprecherder CDU-Fraktion, Rainer B. Giesel, möchte einen Beschluß herbeiführen, daß die mindestens als Wendeschleife benötigte Karl-Liebknecht-Straße ausschließlich dem Straßenverkehr Vorbehalten bleibt. Mit solchem Geplänkel läßt sich problemlos weiterer Sand ins Getriebe der Tram bringen, und der ohnehin erst für 1996 (also im Jahr 7 nach dem Sturz der Mauer) geplante Baubeginn wird zur Utopie.
Alles andere als schnell umsetzbar sind auch die Planungen am Hackeschen Markt. Mitten über einen bestehenden Sportplatz bei völlig ungeklärten Eigentumsverhältnissen soll die Tram hier in Verlängerung der Spandauer Straße geführt werden. Südlich des S-Bahnhofes soll eine in beiden Richtungen befahrbare neue Strecke gebaut werden, die eine Haltestelle in Höhe des östlichen Bahnsteigendes des S-Bahnhofes bekommen soll. Der Zugang zu der geplanten neuen Haltestelle bedingt allerdings einen neu zu bauenden Zugang von Süden zum östlichen S-Bahn-Eingang, und außerdem müssen auch die Stadtbahnbögen über der Unterführung der Straße "An der Spandauer Brücke" erweitert werden.
Völlig unakzeptabel ist aber vor allem die geplante Beseitigung der Straßenbahnstrecke in der Oranienburger Straße zwischen Hackescher Markt und Monbijouplatz. Dadurch wird die Aufgabe der z.T. auf Privatgrundstücken liegenden Aufstellanlage in der Großen Präsidentenstraße zugunsten einer Reduzierung auf zwei in beiden Richtungen befahrbare Durchfahrgleise notwendig. Damit würde die BVG jedoch eine wichtige Endstelle im Innenstadtbereich verlieren, die selbst bei optimistischen Annahmen hinsichtlich späterer Linienverlängerungen nach Westen auch langfristig unentbehrlich ist.
Auch die geplante Streckenverlängerung in der Friedrichstraße ist in zwei Bauabschnitte unterteilt. Für den 1. Bauabschnitt (Verlängerung von der Weidendammer Brücke bis zur Clara-Zetkin-Straße und von dort Anknüpfung an die Schleife Kupfergraben, die eine neue Einstiegshaltestelle an der Museumsinsel erhalten soll) ist ein Baubeginn für 1995 vorgesehen. Explizit wird darauf Angewiesen, daß der Straßenbau in diesem Abschnitt ab 1994 erfolgt - und im nächsten Satz wird deutlich gemacht, wie angewandte Sabotagepolitik aussieht: "Bau-Vorleistungen für Gleistrasse je nach Stand der Planfeststellung ab 1995 möglich". Dies heißt nichts anderes, als daß erst die Straße fertig gebaut wird und dann anschließend für die Tram die Straße erneut aufgerissen werden muß und daß möglicherweise zahlreiche Leitungen verlegt werden müssen, weil ja Vorleistungen derzeit noch nicht berücksichtigt werden können. Die zusätzlichen Kosten werden dann wieder der Tram angelastet, und so verwundert es kaum noch, wenn die Verkehrs Verwaltung inzwischen mit Baukosten von 24 Mio DM je Kilometer Straßenbahn rechnet.
Die südliche Verlängerung durch die Friedrichstraße bis zur Zimmerstraße ist dagegen gar nicht erst terminiert. Damit ist der Ärger mit den Investoren in diesem Bereich vorprogrammiert, wenn nach Fertigstellung der Friedrichstadtpassagen die Bauarbeiten für die Straßenbahn beginnen. Man darf gespannt sein, ob wenigstens die im Senatsbeschluß zur Tram in der Friedrichstraße festgelegte gleichzeitige Realisierung von Straßenbahnbau und Verlängerung der U6-Bahnsteige eingehalten wird.
Obwohl die Verkehrsverwaltung inzwischen realisiert hat, daß der Kfz-Durchgangsverkehr aus der Friedrichstraße zukünftig herausgenommen und auf den Anliegerverkehr beschränkt werden muß, lehnt sie trotzdem eine Gestaltung der Straße als Fußgängerzone, die als Mischverkehrsfläche nur von Tram und Lieferverkehr befahren werden darf, ab.
Nach der gemeinsamen Entscheidung von Bund und Senat, die Tram zugunsten des Autoverkehrs aus der Leipziger Straße zu verbannen, soll die geplante Tramstrecke nun in den Nebenstraßenzug Zimmerstraße - Niederkirchnerstraße verlegt werden (bis Friedrichstraße 1. Bauabschnitt), von wo aus sie über die Stresemannstraße den Potsdamer Platz und weiter die Neue Nationalgalerie erreichen soll (2. Bauabschnitt). Ein 3. Bauabschnitt soll dann über Potsdamer und Lützowstraße bis zum Lützowplatz führen.
Die Verlegung der Trasse aus der Leipziger Straße, und damit aus dem Zentrum des Geschehens, muß aus mehreren Gründen als Fehlentscheidung gewertet werden. Während auf der Leipziger Straße mindestens östlich der Charlottenstraße eine schnelle und behinderungsfreie Fahrt auf eigener Trasse möglich wäre und damit eine optimale umsteigefreie Erreichbarkeit sowohl der nördlichen Friedrichstraße wie auch des Potsdamer Platzes aus den drei großen Radialstrecken (Greifswalder Straße, Prenzlauer und Landsberger Allee) geboten würde, ist nun nur noch eine kurvenreiche Umwegfahrt möglich. Und die wichtige Verknüpfung zwischen dieser Tramstrecke und der U-Bahn-Linie 6 wird praktisch nicht möglich sein, da der Fußweg zum U-Bf Kochstraße zu weit ist. (Wie also erreichen Fahrgäste vom Südast der U6 zukünftig den Potsdamer Platz?) Damit wird das Verkehrspotential dieser innerstädtischen Tram-Verbindung auf einen Bruchteil ihrer eigentlichen Bedeutung reduziert.
Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß mit dieser Trassenwahl eine zusätzliche Hürde zu nehmen ist: Das an der Leipziger Straße in der Straßenflucht der Lindenstraße stehende Kaufhaus müßte zunächst abgerissen werden. Der Termin Mitte 1996, für diese Trasse als "möglicher" Baubeginn genannt, kann allein deshalb als Utopie abgehakt werden. Es ist wohl kein Zufall, daß die ebenfalls über das Kaufhausgrundstück geplante, noch vor einem Jahr als vordringlich bezeichnete Strecke Spittelmarkt - Hallesches Tor derzeit gar nicht mehr bearbeitet wird, und bezeichnenderweise ist sie in den Trassenübersichten (anders als andere, später geplante Strecken) vergessen worden.
Auch bei dieser geplanten Streckenverlängerung sind noch immer zahlreiche Probleme völlig ungeklärt. Für den 1. Bauabschnitt von Eberswalder über Bernauer Straße zum Nordbahnhof lehnen sowohl die Stadtentwicklungsverwaltung wie auch die beiden Bezirke Mitte und Wedding die von der Verkehrsverwaltung geplante Verbreiterung des Straßenquerschnitts von 23 m auf 42 m zulasten des historischen Mauerstreifens ab. Daß die Tram auch im alten Straßenquerschnitt Platz findet, beweist die Verkehrs Verwaltung selbst: Im Bereich des Mauermuseums soll der alte Querschnitt (mit Tram) erhalten bleiben.
Weiter westlich, in der Invalidenstraße, wird das Schicksal dieser Tramstrecke mit der Durchsetzung des innerstädtischen Autostraßenringes verknüpft. Mit neuen Straßendurchbrüchen und einer Verlagerung des Ringstraßen-Verkehrs von der Invalidenstraße in die Wohnsiedlung Habersaathstraße soll der in Westrichtung verlaufende Kfz-Strom bewältigt werden. Wenigstens am geplanten Zentralbahnhof erfolgte inzwischen eine Abstimmung mit dem städtebaulichen Entwurf - zulasten der Fahrgäste. Eine vom Senat ohnehin nicht mehr terminierte Weiterführung der Tram nach Moabit soll nun über die Umwegstrecke Invalidenstraße - Friedrich-List-Ufer - Alt-Moabit - Invalidenstraße führen.
Weiterhin geplant ist eine neue Tramstrecke durch die Scharnhorststraße mit Endstelle auf Höhe der einst geplanten Olympiahalle. Hintergrund dieser Planung ist die unbedingte Stillegungsabsicht der Tram in der Chausseestraße, da diese hier dem Autoverkehr zum "Kleinen Innenstadtring" im Weg ist.
Keine Überraschungen beinhalten die Aussagen zur Oberbaumbrücke: Da die Straßenbahn auch hier dem "Kleinen Innenstadtring" im Weg ist, reicht die Tragfähigkeit der bestehenden Warschauer Brücke zwar für Vierzigtonner, aber nicht mehr für die Tram. Der Neubau einer separaten Trambrücke (Baukosten ca. 30 Mio. DM) ist "notwendig", eine konkrete Planung erst nach Abstimmung mit der DB AG möglich, die selbst noch nicht weiß, was sie dort vorhat. Nur folgerichtig ist, daß im Zuge der bereits begonnenen Bauarbeiten zur Herstellung des Straßenringes Fakten geschaffen werden, die z.B. im Bereich des Schlesischen Tores beim Bau der Straßenbahnstrecke dann einen erneuten Umbau bedingen. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil für die Wendeschleife eine unnötig konfliktreiche Trassierung geplant wird.
Schlechte Kunde auch für Köpenick: Im Fall der Müggelheimer Straße ist es Senator Haase und seiner Verwaltung für die angeblich 600 m lange Neubaustrecke in dreijähriger Diskussion nicht gelungen, eine Abstimmung über die Haltestelle mit der Senatsbauverwaltung und dem Bezirksamt herbeizuführen.
Die Mängelliste ließe sich noch nahezu beliebig lange fortsetzen, doch schon bis hier zeigt der Sachstandsbericht, daß die Strategie im Hause Haase unverändert ist: Die Straßenbahn wird von ihm, seinem Staatssekretär und den Leitern seiner Verwaltung nicht gewollt. Die Planungen werden verschleppt und verkompliziert. Statt konkreter Eröffnungstermine gibt es nur unverbindliche Absichtserklärungen ("möglicher Baubeginn"). Aber selbst dann, wenn trotz der vielen eingebauten Hürden für die eine oder andere Strecke eines Tages dennoch verbindliche Planunterlagen vorliegen sollten, ist die Frage der Finanzierung aufgrund der fatalen (Tunnel-)Prioritätensetzung dieses Senats völlig offen. Nach der jüngsten Mittelkürzungfürdie Tram schließt die BVG Betriebseinschränkungen im begehenden Netz nicht mehr aus, da zur dringend notwendigen Sanierung die Gelder fehlen. Sachstand 1994: Straßenbahn-Einschränkungen sind wahrscheinlicher als der Ausbau. Ist dies Unfähigkeit? Nein. Es ist Absicht, Absicht der Herren Herwig Haase und - nicht zu vergessen - Ingo Schmitt.
IGEB
aus SIGNAL 2-03/1994 (April 1994), Seite 9-13