Planung

Schildbürokraten


Günter Matthes

1. Apr 1994

Das Beispiel verdient, weit über die Grenzen des Bezirks hinaus abschreckend genannt zu werden. In Süd-Zehlendorf hat die Senatsverkehrsverwaltung widerborstig, vemunfts- und verkehswidrig demonstriert, daß sie ihrer Aufgabe, in zunehmend prekärer Lage den motorisierten Individualverkehr zu beruhigen, zu humanisieren, menschlichen Ansprüchen anzupassen, nicht gewachsen ist. Ihre Unsicherheit hat sie wiederholt planerisch, insbesondere bei den Springprozessionen mit den Busspuren in der City, verraten. Daß die Behörde so fortzufahren gedenkt, ungerührt auch vom Widerstand der eigenen bezirklichen Parteicouleur, ist in der Ludwigsfelder Straße augenfällig ausgeschildert.

Foto: I. Schmidt
Bei der Reduzierung von Tempo-30-Straßen waren Staatssekretär Ingo Schmitt und sein Senator Haase bisher deutlich "erfolgreicher" als beim Busspurausbau. Die in der Bellevuestraße in Tiergarten schon einmal vorhandene Busspur wurde in der "Neufassung" zulasten des Fußgänger- und Radverkehrs angelegt und endet 100 m vor dem Kemperplatz, also dort, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Deshalb müssen (siehe Bild oben) die Busse der Linie 142, umleitungsbedingt, und 348 im Autostau vor der Ampel zwei Fahrspuren kreuzen, um sich von der Busspur zum Linksabbiegen einzuordnen. Sie brauchen dafür bis zu 5 Minuten. Auch die Rettungsfahrzeuge verlieren lebenswichtige Zeit (Bild unten). Foto: I. Schmidt

Die durchgehende Tempo-30-Regelung zwischen Machnower Straße und Berlepschstraße ist, wie gemeldet, in einer Weise verhackstückt worden, daß selbst Anhänger der berüchtigten Parole "Freie Fahrt für freie Bürger" den Kopf schütteln werden. [...]

Der Straßenabschnitt wird von einer Ladenzeile einschließlich Supermarkt, einer Schule, einer Kindertagesstätte und einer großen Siedlung flankiert. Die Verkehrsberuhigung, wenn auch nicht die strikte Beachtung des Gebots, hatte sich längst eingespielt. Kinder und Kunden der Geschäfte taten sich leichter. Eine Selbstbedienungsampel unterbricht ohnehin den Verkehrsfluß bei Bedarf. Diese Situation aufzudröseln, stückweise 30, dann 30 nur werktags zur Geschäftszeit, dann ein Häppchen 50, damit das Vier- oder Sechstaktherz höher schlagen kann, kann nur Beamten eingefallen sein, die nie am Ort waren oder selber nicht Auto fahren oder keine Augen im Kopf haben und kein Bedauern über sinnwidrige Kosten dieser Änderung - wir haben's ja - empfinden. Es sei denn, sie frönen einer PS-Ideologie und bedienen ein Klientel, die hier aber gar nicht bedient werden kann.

Von Schildbürgern zu sprechen, hieße, den Bürgern, den meisten Autofahrern und den örtlichen Politikern unrecht zu tun. Die Ludwigsfelder Straße mit ihrer aufgedrückten neuen Hü-hott-Trasse ist keine Verkehrsregelung, sondern die von allen Benutzern beim Fahren hoffentlich dämpfend ignorierte Selbstdarstellung von problemfemen Schildbürokraten.

Der Tagesspiegel, 15.8.1993

Günter Matthes

aus SIGNAL 2/1992 (März 1992), Seite 24