Aktuell
Heinz Dürr ist mit dem Auftakt des neuen Zeitalters zufrieden. Mitte April resümierte er, das Ergebnis des I. Quartals liege "über Plan" - obwohl auch die Deutsche Bahn AG Verluste einfährt. Vor wenigen Wochen hatte der DB-Chef sogar verkündet, auf Anhieb ließe sich eine ausgeglichene Bilanz erzielen, 1994 sei eine "schwarze Null" drin. Jetzt avisiert er vorsichtiger eine "rote Null". Deutet der Farbwechsel auf unerwartete Schwierigkeiten hin? Bahnintern sind seit dem 1. Januar praktisch alle hergebrachten Strukturen radikal umgekrempelt. Der Berliner Senat machte mit den veränderten Zuständigkeiten schon leidvolle Erfahrungen: Weil mit der Reichsbahn getroffene Absprachen nochmals mit neuen Partnern abzustimmen sind, verzögert sich die Wiederinbetriebnahme der S-Bahn-Strecken nach Tegel und Lichterfelde Ost - erst im Frühjahr 1995 könnte es (vielleicht) klappen. Nicht zuletzt entscheidet das Gelingen der "inneren Reform" darüber, was die DB dem Kunden bietet - und ab wann.
1. Mai 1994
Unter dem Dach der Deutschen Bahn Aktiengesellschaft agieren zehn auf gewinnorientiertes Handeln getrimmte Geschäftsbereiche. Dazu zählt prinzipiell auch der Nahverkehr, wenngleich 1994 und 1995 noch direkt vom Bund subventioniert. Erst 1996 sollen die Länder die finanzielle Verantwortung übernehmen und Transferzahlungen des Bundes gegebenenfalls auf kommunale Besteller oder Betreiber verteilen. Bis dahin gilt eine Art "Status quo", die DB AG soll das Nahverkehrsangebot in bisheriger Qualität und Quantität aufrechterhalten, was im Einzelfall sowohl Verbesserungen als auch Verschlechterungen bedeuten kann. Doch schon entwickelt sie Konzepte, mit denen sie selbst größter Anbieter von Nahverkehrsleistungen bleiben will - auf einem grundsätzlich für Dritte geöffneten Netz. Nach den nötigen gesetzlichen Rahmenänderungen, der "äußeren Reform", geht die bahninterne Umsetzung jetzt erst richtig los.
Die privatrechtliche Organisation hat der Bahn keinen Freibrief für den Abbau sogenannter unrentabler Leistungen oder gar Streckenstillegungen beschert. Ursprünglich strebte die Bundesregierung zwar an, der DB AG die Entscheidung darüber zu überlassen. Hier zogen die Oppositionsparteien und die Länder aber nicht mit. Das Allgemeine Eisenbahngesetz schreibt auch künftig ein formelles Stillegungsverfahren vor, und Länder und Gemeinden haben - wie bisher schon gelegentlich praktiziert - die Möglichkeit, Strecken in eigene Regie zu übernehmen oder mit der DB AG Verträge über die Aufrechterhaltung abzuschließen.
Generell ist der Bund, was den Fahrweg betrifft, weiterhin in die Pflicht genommen. Dies regelt der ins Grundgesetz eingefügte Artikel 87 e. Hier die wichtigsten Passagen im Wortlaut:
"(3) Eisenbahnen des Bundes werden als Wirtschaftsuntemehmen in privatrechlicher Form geführt. Diese stehen im Eigentum des Bundes, soweit die Tätigkeit des Wirtschaftsunternehmens den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen umfaßt.
Die Veräußerung von Anteilen des Bundes an Unternehmen ... erfolgt auf Grund eines Gesetzes, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf; die Mehrheit der Anteile an diesem Unternehmen [der DB AG - D.Red.] verbleibt beim Bund. Das Nähere wird durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, geregelt.
(4) Der Bund gewährleistet daß dem Wolf der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Personennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, geregelt."
Das ist zwar weniger, als von den meisten Bundesländern und Fahrgastvereinigungen, namentlich von PRO BAHN, gefordert. Denn weder enthält der Artikel eine Garantie für den Bestand von Strecken noch für deren bevorzugten Ausbau, nur er entläßt die Bundesregierung eben auch nicht aus der Verantwortung. In sich hat es allerdings ein recht unscheinbarer Nebensatz: "soweit diese nicht den Personennahverkehr betreffen", heißt es zur Gewährleistung des Bundes für der Allgemeinheit dienende Verkehrsangebote. Denn die sollen ja künftig durch Länder, Kommunen oder kommunale Zweckverbände bestimmt werden.
Über den Grundgedanken der Regionalisierung, die Verantwortung für Umfang und Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) auf die Länder zu übertragen, herrschte von vornherein Konsenz. Gestritten wurde aber bis zuletzt um Höhe und Verteilung der vom Bund auf die Länder umzuschichtenden Mittel. Herausgekommen ist schließlich: 1996 sollen die Länder 14,5 Millarden DM für den SPNV erhalten, mehr als das Doppelte der zunächst vom Bundesfinanzminister zugestandenen Summe. 8,7 Milliarden DM stammen aus der MineralölSteuer und 6,3 Milliarden DM aus den Mitteln nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG). 1997 soll der Anteil aus der Mineralölsteuer auf 12 Milliarden DM steigen, der Betrag aus dem GVFG dagegen um 3 Milliarden gekürzt werden - macht dann unter dem Strich 15,3 Milliarden DM. Diese Gesamtsumme soll 1998 auf 15,9 Mrd, ein Jahr später auf 16,6 Mrd und im Jahr 2000 auf 17,3 Milliarden DM wachsen.
Bei der geplanten Umschichtung der Mittel, die hauptsächlich aus dem Mineralölsteueraufkommen stammen, ist bedeutsam, daß der Bund entgegen von Länderforderungen die Hoheit über die Mineralölsteuer behält. Was ist aber, wenn sich die jetzt festgeschriebenen Geldsummen als unzureichend herausstellen? Entscheidend verbessert werden kann mit dieser finanziellen Ausstattung das Angebot nur, wenn regionale Betreiber oder die Bahn AG Verkehrsleistungen deutlich effizienter produzieren als bisher. Selbst im günstigsten Fall genügen aber die jetzt zugesagten Beträge für den wirklich bedarfsgerechten Ausbau des gerade im ländlichen Raum jahrzehntelang vernachläßigten SPNV nicht. Eine Aufstockung ist nicht zu erwarten, denn der Bund will mit den jährlich einzusparenden Verlust-Zuweisungen an den Bahnhaushalt noch die dort aufgelaufenen Altschulden von 70 Milliarden DM abbauen und die Altersversorgung pensionierter Bahnbeamter sicherstellen.
Hier ist nun daran zu erinnern, daß von den laut Verkehrsminister Krause durch die Reform einzusparenden 100 Milliarden DM nach Prüfung durch den Bundesrechnungshof nur 65 Milliarden übrig blieben. Damit hätten wir schon beim Start eine gravierende Fehlkalkulation! Obendrein wird die Bahnreform nach wie vor nicht von einer neu orientierten Verkehrspolitik begleitet. Statt beispielsweise die Lkw-Spediteure für die von ihnen verursachten Schäden zur Kasse zu bitten, hat der Bund im Gegenteil mit Freigabe der Beförderungstarife einem drastischen Preisrückgang der Transportleistungen auf der Straße Tür und Tor geöffnet. Gleichzeitig wurde die Kfz-Steuer für Lastkraftwagen von 10.000 DM auf maximal 5.000 DM pro Jahr gesenkt. Wenn Dürr - wie eingangs erwähnt - für die DB-Bilanz 1994 statt einer "schwarzen Null" nun lediglich "eine rote" erwartet (wieviele Millionen Minus mögen sich wohl dahinter verbergen?), so resultiert das aus den nach wie vor schlechten Erträgen im Schienengüterverkehr.
Der DB-Vorstand sieht trotz mangelhafter verkehrspolitischer Flankierung gute Chancen, nach kaufmännischer und technischer Sanierung des Unternehmens mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Er will den Umsatz im Personenverkehr binnen zehn Jahren um etwa 50 Prozent steigern, im Güterverkehr um 40 Prozent - bei letzterem hat er vor allem die Sicherung des heutigen Marktanteils im Auge. Die "innere Reform" soll bei der Bahn AG "die dafür notwendigen Kräfte mobilisieren", wie Heinz Dürr es den Mitarbeitern eindringlich darlegt, denn "Delegation von Kompetenz und Verantwortung nach unten löst den überholten Zentralismus ab". Bis hinunterzu den neu gebildeten Zweigniederlassungen soll gewinnorientiertes Handeln an die Stelle von beamtenmäßigem Verwalten treten.
Erfahrungen der ersten Monate haben viele Eisenbahner verunsichert, ja resignieren lassen. Sie berichten von Kompetenzgerangel, aufgeblähten statt abgespeckten Verwaltungen und gegenseitiger Konkurrenz bisher reibungslos kooperierender Bereiche. Einige Beispiele seien gleich benannt, zuvor jedoch in Grundzügen die neue Untemehmensstruktur:
Der Vorstand mit jeweils für Zentralressorts und Unternehmensbereiche zuständigen Mitgliedern und ein aus seiner Mitte heraus gebildeter Ausschuß (Zentralvorstand) fungieren als Konzernleitung. Der Vorstand ist das gegenüber Aufsichtsrat und Aktionären verantwortliche Gremium. Neben direkt dem Vorsitzenden zugeordneten Bereichen (z.B. Konzernkommunikation) gibt es Zentralressorts für Finanzen und Controlling, Personal und Soziales, Immobilien und Recht, Forschung und Technologie. Hinzu kommen die Unternehmensbereiche Personenverkehr, Güterverkehr sowie Fahrweg, in denen wiederum verwandte Geschäftsbereiche zusammengefaßt sind. Nicht zur Aktiengesellschaft gehören das "Rest-Bundeseisenbahnvermögen" (Behörde für weiterhin beamtete DB-Mitarbeiter und nicht betriebsnotwendige Immobilien) und das Eisenbahn-Bundesamt (für hoheitliche Aufgaben).
Die strukturelle Dekonzentration bei der DB AG wird an der Vielzahl der Geschäftsbereiche deutlich. Es sind derer zehn:
Die Geschäftsbereiche gliedern sich wiederum in Regionalbereiche, Niederlassungen und Zweigniederlassungen. Vollständig entfallen ist die Ebene der Direktionen (BD und Rbd) mit Leitungskompetenzen für die verschiedensten Sparten. Die bisherigen Direktionspräsidenten fungieren jetzt als unmittelbare Beauftragte der Konzernleitung, sie sind vor allem Ansprechpartner der jeweiligen Landesregierungen. Die räumliche Abgrenzung der Regionalbereiche (RB) stimmt meist nicht mehr mit den alten BD- bzw. Rbd- Bezirken überein, lediglich bei den RB Traktion (zuständig für die Zugförderung) und Netz (zuständig für den Fahrweg) ist das noch der Fall.
Die strikt gewinnorientierte Ausrichtung aller Bereiche bringt es nun mit sich, daß die jeweiligen Leistungen exakt voneinander abzugrenzen und gegenseitig abzurechnen sind. Der GB Nahverkehr etwa muß die für sein Zugangebot benötigten Lokomotiven beim GB Traktion bestellen und diesem auch bezahlen. Braucht er eine Diesellok, kann es zu einer Interessenkollision mit den Geschäftsbereichen des Güterverkehrs kommen - dann nämlich, wenn diese für dieselbe Strecke zur selben Zeit ebenfalls eine Lok haben möchten. Noch werden ja gerade Dieselloks, aber auch viele Elektrolokomotiven, für die verschiedensten Dienste verwendet. Bisher orientierte sich die Einsatzplanung stark an der Verfügbarkeit und möglichst optimalen Umläufen der Triebfahrzeuge, z.B. tagsüber Reise- und nachts Güterzüge. Diese Aufteilung war bei weitem nicht immer kundengerecht. Auf der Straße rollen Frachten rund um die Uhr durch Deutschland, zumal im Transit. Will die Bahn hier hinsichtlich der Transportzeiten mithalten, kann sie die Güterzüge nicht einfach tagsüber auf Grenzbahnhöfen stehen lassen, nur weil eine optimale Lokomotiv-Disposition das erfordert. Mit Fahrplantrassen verhält es sich übrigens ähnlich, auch um sie konkurrieren künftig die diversen Geschäftsbereiche.
Bekannt geworden sind schon grotesk anmutende Abgrenzungsprobleme. Es kommt durchaus vor, daß ein Lokführer pro Schicht sowohl Güterzüge als auch Fern- und Nahverkehrszüge fährt, zwischendurch gar mal rangiert. Dann ist auf die Minute genau zu ermitteln, welche Dienstzeit in welcher Sparte anfällt. Auch ist wohl jeder Betriebshof (bahnneudeutsch für Betriebswerk) als Zweigniederlassung des GB Traktion bestrebt, Leistungen an sich zu ziehen, um seine Existenzberechtigung zu untermauern. So wetteifern Hamburger und Berliner Betriebshöfe zum Beispiel um die Bespannung der InterCity-Züge zwischen Alster- und Spreemetropole. Die werden ab Sommerfahrplan deutlich beschleunigt. Parallel finden nun Tests statt, ob sich dafür zwei zusammengekuppelte russische Diesel-Elektroloks (Reihe 234 mit eigens einzubauender Steuereinrichtung von nur einem Führerstand aus) oder aber dieselhydraulische Loks aus dem ehemaligen Bundesbahnpark besser eignen! Ob solche parallelen Versuche sinnvoll sind, sei dahingestellt, denn jedenfalls verfugen die betreffenden Bundesbahn-Typen (Reihe 218) seit jeher über die Vielfachsteuerung. Zwei Einheiten können also von nur einem Lokführer bedient werden.
Ein weiteres Beispiel: Auf der Strecke Berlin-Charlottenburg - Dessau verkehren im Sommer drei neue Eilzugpaare (mit Weiterführung nach Leipzig bzw. Aschersleben). Diese Relation kommt neben dazwischenliegenden Orten natürlich auch dem Direktverkehr zugute. Sollte sich heraussteilen, daß er einen hohen Reisendenanteil ausmacht, wird sich um die Fahrplantrassen auch der GB Fernverkehr bemühen und InterRegio-Züge einlegen wollen. Überhaupt zeigen sich bei den Zugarten Eilzug, RegionalSchnellBahn (RSB) und RegionalExpreß (RE) Abgrenzungsprobleme zwischen Fern- und Nahverkehr, die dem Bestreben nach "produktreinen" Angeboten zuwiderlaufen. Ob hier immer die kundenfreundlichsten Lösungen gewählt werden, darf bezweifelt werden.
Mit ihrem Knowhow, nicht zuletzt ihrer starken Position auch als Auftraggeber der Fahrzeugindustrie, könnte die DB AG weiterhin ihre marktbeherrschende Stellung im Nahverkehr behaupten. Gewiß ist das Netz prinzipiell für Dritte zu öffnen, aber zum Großteil dient es eben auch dem Vorrang genießenden Fernverkehr. Allerdings hat die Bahn AG offenbar den Wert von Zweigstrecken als Fernverkehrs-Zubringer wiedererkannt. Anläßlich der Präsentation eines von der Deutschen Waggonbau-Aktiengesellschaft entwickelten Doppelstock-Schienenbusses am 20. April auf der Hannover-Messe bekräftigte sie ihr Engagement im Nahverkehr. Man bedenke: Die DB fördert die Konstruktion eines zweiachsigen (!) Leichtbau-Schienenbusses. Dazu paßt eine am 23. Februar durch die Sächsische Zeitung verbreitete Meldung, wonach der Untemehmensbereich Personenverkehr am 11. Februar der Konzernleitung empfahl, vor 1996 solle jegliche Privatisierung oder Regionalisierung von Strecken unterbleiben.
Die Anzeichen mehren sich, daß die Deutsche Bahn Strecken auch dort behalten will, wo sie Nahverkehr nicht mehr selbst betreibt. Der Untemehmensbereich Fahrweg, später einmal als eigenständige Aktiengesellschaft operierend, soll möglichst vermieten statt verkaufen. So bliebe das Geschäft mit Bahntrassen auf Dauer lukrativ. Dabei sehen viele - Dürr'schen Dementis zum Trotz - die Gefahr, daß die Bahn bzw. Fahrweg AG die Preise diktiert, also die Kosten für regionale Betreiber möglichst hochschraubt.
Was die Berliner S-Bahn angeht, bleibt die DB AG als Betriebsführerin präsent. Der Geschäftsbereich Nahverkehr gibt die Regie hier zwar an die nun frühestens im Spätherbst zu gründende S-Bahn GmbH ab, diese firmiert aber unter dem Dach der großen Aktiengesellschaft. Berlin, Kreise und Kommunen des Umlands - dereinst im Verkehrsverbund zusammengeschlossen - müssen von 1996 an für die Leistungen der S-Bahn GmbH zahlen. Im Interesse der Fahrgäste ist zu wünschen, daß auch in diesem Bereich die "innere Reform" rasch gelingt und zu den versprochenen Einspareffekten führt. Der Senat sollte ja aufgrund zehnjähriger Verantwortung für die BVG-S-Bahn besten Einblick in die Kostenstrukturen haben und beurteilen können, ob die DB-Tochter zu hohe Forderungen stellt. Daß hart gepokert wird, steht zu erwarten. Einen Vorgeschmack lieferte der jüngste Streit um die Übernahme von fünf Millionen DM ursprünglich nicht eingeplanter Sanierungskosten für die Strecke Schönholz - Tegel. Und hier haben die Kunden erst mal das Nachsehen, die Wiedereröffnung verzögert sich zum - wer weiß es noch - wievielten Male?
In einer der nächsten SIGNAL-Ausgaben wollen wir uns noch ausführlicher mit den Auswirkungen der Bahnreform auf Berlin und Brandenburg befassen.
IGEB
aus SIGNAL 4/1994 (Mai 1994), Seite 4-6