Nahverkehr

Von Kassel lernen

Am 22. Juni besuchten die Abteilungen Stadtverkehr und Fahrgastbelange des Berliner Fahrgastverbandes IGEB die Kasseler Verkehrsbetriebe (KVG). Im Mittelpunkt des umfangreichen Programms stand der tatkräftig vorangetriebene Ausbau der Straßenbahn in Kassel. Als kompetenter Gesprächspartner stand Herr Prof. Reiner Meyfahrt, Geschäftsführer der Verkehrsgemeinschaft Kassel, zur Verfügung.


IGEB

1. Aug 1994

So einfach kann eine Endstelle aussehen, wenn Zweirichtungsfahrzeuge eingesetzt werden. Diese neu eingerichtete Endstelle Helleböhn ist aber nur ein Zwischenstop auf der im nächsten Jahr in Betrieb gehenden Verlängerung nach Süden Richtung Oberzwehren. Foto: Matthias Horth
Bauen unter Betrieb ist in Kassel und vielen anderen Städten eine Selbstverständlichkeit. “Das würde uns viel zu viel Geld kosten, extra einen Schienenersatzverkehr einzurichten“, meint KVG-Vorstand Prof. Meyfarth zum Thema SEV. Und dies gilt auch für die hier abgebildete Kasseler Hauptmagistrale Wilhelmshöher Allee. Foto: Matthias Horth

Den kostenträchtigen Ausbau von Straßenbahnnetzen zu Stadtbahnen mit teilweise unterirdischem Bahnkörper, Hochbahnsteigen und U-Bahn-ähnlicher Betriebsführung lehnt Herr Meyfahrt entschieden ab. Den hohen Kosten stünden nur bescheidene Nutzeneffekte gegenüber, die durch eine Ertüchtigung des oberirdischen Netzes auch erreicht werden könnten. Daher konzentriert sich Kassel ganz auf den Ausbau der Straßenbahn und hat keine Stadtbahnpläne. Gegenwärtig trägt die Straßenbahn hier etwa 75% der Verkehrslast (ca. 30 Mio Fahrgäste jährlich).

Der damalige Kasseler Oberbürgermeister und jetzige hessische Ministerpräsident, Hans Eichel, hatte Ende der 70er Jahre auf massiven Bürgerdruck hin Pläne zur Stillegung von Straßenbahnlinien in Kassel zurückgenommen und Grundsatzentscheidungen zum Erhalt und Ausbau des Netzes getroffen. Ein Konzept des örtlichen Fahrgastverbandes, dem Herr Meyfahrt bis zu seinem Wechsel in die KVG vor drei Jahren angehörte, wurde umgesetzt und brachte erhebliche Attraktivitätsgewinne durch dichtere Takte und moderne Fahrzeuge. 1990 schließlich wurde von der Stadt Kassel ein Generalverkehrsplan mit einem Nahverkehrskonzept beschlossen, das folgende Schwerpunkte beinhaltet:

Kassel habe sich bewußt gegen billige Fahrgastinformationen entschieden, die schlecht hektografiert an beliebigen Stellen angeschlagen werden. Die Konkurrenten im Verkehrsmarkt setzten schließlich auch auf teure Hochglanzinformationen. Der Nahverkehr müsse sein Image als Almosenempfängerund "billiger Jakob" abschütteln. Herr Meyfahrt steckt "lieber eine Million in Marketing, weil das mehr Fahrgäste anziehen kann als eine Million in Beton".

Das veränderte Marketing in Kassel läßt sich an einigen Zahlen deutlich ablesen. Durch das neue Angebot ab 1985 wurden zunächst kaum neue Fahrgäste gewonnen. 1987/88 mußte auf Druck der Stadt das Angebot an einigen Stellen sogar wieder zurückgenommen werden, während aber die Marketing-Anstrengungen verstärkt wurden. Fahrgastbefragungen brachten dann das Ergebnis, daß in der Meinung der Fahrgäste der Nahverkehr besser geworden sei. Seit 1990 habe die KVG auf diesem Wege die Fahrgastzahlen um 15% steigern können.

Im Umlandverkehr strebt die KVG mit allen Beteiligten eine korridorbezogene Zusammenarbeit an. Die meisten Linien werden von Bussen jeweils beider Partner gefahren, wobei die Aufteilung des Fahrzeugeinsatzes anhand rein betriebswirtschaftlicher Kriterien vorgenommen werde. Die Umlandlinien sind vollständig in das Tarifangebot der KVG integriert.

Die Öffentlichkeitsarbeit eines Verkehrsbetriebes muß in erster Linie auf Politiker auf allen kommunalen Ebenen abzielen. Flächendeckende "Werbung" sei wenig sinnvoll. Ein professionell gestaltetes Magazin wird regelmäßig an 600 bis 800 Kasseler Entscheidungsträger versandt. Der Zuschuß der Stadt Kassel zu den Betriebskosten der KVG beträgt etwa 260 DM pro Einwohner (in Berlin etwa 340 DM pro Einwohner). Aufgrund der Finanznot der Kommune wurde mit der KVG ein Fünfjahresvertrag abgeschlossen, der vorsieht, daß der Zuschuß in jedem Jahr um eine Million DM zu senken ist. Den Ausgleich des KVG-Budgets will Herr Meyfahrt wie folgt erreichen:

Eine wie auch immer geartete Verschlechterung des Angebotes sei hingegen ein absolut untaugliches Mittel zur Defizitsenkung.

Gemeinsame Trasse und Haltestelle von (Niederflur-)Tram und Bus - auch hierbei ist Kassel ein Vorbild für Berlin. Foto: Matthias Horth
Seit Mai 1994 ist die 1,5 km lange Neubaustrecke bis zur provisorischen Endstelle Porschestraße in Baunatal in Betrieb. An dem 3 km langen Verlängerungsabschnitt nach Baunatal-Großenritte wird bereits kräftig gearbeitet, da dieser im Mai 1995 eröffnet werden soll. Foto: I. Schmidt

Zur Frage der Umstellung von Straßenbahnstrecken auf Busbetrieb führte Herr Meyfahrt aus, daß dies nur rentabel sei, wenn auch der Busbetrieb zu 70% einen eigenen Fahrweg erhielte. Dies sei jedoch angesichts der Nutzungskonkurrenz um Fahrmöglichkeiten auf der Busspur nahezu ausgeschlossen. Sechs der sieben Kasseler Straßenbahnlinien durchfahren eine Fußgängerzone, die bei etwa 30 Busdurchfahrten je Stunde und Richtung zur Abgashölle werden würde. Zudem haben alle Umstellungen von Busbedienung auf Straßenbahn in Deutschland bisher gezeigt, daß mit Fahrgaststeigerungen von 10 bis 50% zu rechnen ist. Städte mit einem klassischen Straßenbahnsystem haben häufig bei den Fahrten zum Einkäufen einen hohen ÖPNV-Anteil. Dies liegt daran, daß die Kunden im Gegensatz zu Bus und U-Bahn unmittelbar vor die Haustür der Geschäfte und Kaufhäuser fahren können. Die hohe Bequemlichkeit der Niederflurstraßenbahn, von der in Kassel gegenwärtig 25 Fahrzeuge eingesetzt werden, trage erheblich zum Anteil der Straßenbahn von 52% an allen Wegen zum Einkäufen in Kassels Innenstadt bei. Hier seien bei einer Netzerweiterung ins Umland auch erhebliche Potentiale für Neukunden zu sehen, während der Berufsverkehr die Spitzenbelastung noch erhöhe, somit sehr teuer sei und potentielle Kunden kaum aus dem Auto herauslocke.

Zu den Kosten der Neubaustrecken wies Herr Meyfahrt darauf hin, daß bei der Helleböhn-Strecke elf Busumläufe durch drei Straßenbahnumläufe ersetzt worden sind und zusätzlich ein Umsteigevorgang für die Fahrgäste entfallen sei. Bessere betriebswirtschaftliche Bedingungen seien kaum denkbar. Diese Rechnungen gelten allerdings nur bei einer Förderung der Maßnahme durch das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz.

Im Vergleich zwischen Straßenbahn und Bus sei das immer wieder gebrachte Flexibilitätsargument des Busses letztendlich "der Tod des attraktiven Nahverkehrs", weil niemand mehr weiß, wo der flexible Bus denn nun gerade fährt. Während die Linienführung der Straßenbahn als sichtbares System erkennbar ist, sind Bushaltestellen nur punktuell, nicht linienförmig zu erfassen.

Straßenbahnumläufe in Nebenverkehrszeiten zurück zum Betriebshof zu fahren, bringe mehr Aufwand als Nutzen. Der somit bestehende starre Takt erhöhe die Attraktivität der Straßenbahn. In Kassel fahren alle Straßenbahnlinien tagsüber im 15-, abends im 30-Minuten-Takt, während keine Buslinie ihren Takt den Tag über beibehält. Ohne Berücksichtigung der Fahrwegkosten kostet ein Nutzwagen-Kilometer bei der Straßenbahn etwa 13 DM und beim Bus etwa 7 DM. Als Faustformel gelte, daß bei doppelter Fahrgastzahl die Straßenbahn sich auch wirtschaftlich rechnet.

Um am Verkehrsmarkt bestehen zu können, hält Herr Prof. Meyfahrt eine hohe Investitionsquote des Verkehrsuntemehmens für unerläßlich. Einmal verschobene Ausgaben lassen sich später nicht mehr nachholen. So habe man sich in Kassel als erster Stadt in Deutschland für einen umfassenden Einsatz von Niederflurstraßenbahnen entschieden, die aus herkömmlichen Komponenten zusammengesetzt sind, aber 40 Plätze mehr als ein Hochflur N8C bieten. Durch frühen Vertragsabschluß habe Kassel jedes Fahrzeug für ca. 2,5 Mio DM bekommen, während Betriebe, die mit der Beschaffung gezögert hätten, zumeist über 3 Mio DM pro Zug zahlen müssen.

Die geplante Neubaustrecke nach Baunatal (25.000 Einwohner) verläuft weitgehend auf der Trasse der privaten Kassel-Naumburger-Eisenbahn (KNE). Dieses Unternehmen betreibt die Anschlußbahn zum Kasseler Volkswagenwerk und einen umfangreichen Busverkehr in der Relation Baunatal - Kassel. Um Arbeitsplatzverlusten vorzubeugen, werden Busfahrer der KNE jetzt zu Straßenbahnfahrern umgeschult. Der KNE-Busverkehr wird nach Baunatal zurückgezogen, die Fahrten nach Kassel erfolgen zukünftig viermal so häufig und schneller mit der Straßenbahn.

Ein Kilometer Neubaustrecke (zweigleisig) einschließlich Ampelbeeinflussung, Haltestellenbau, Straßenbau und allen weiteren Ausstattungsmerkmalen kostet etwa 10 Mio DM. Vom Beschluß bis zur Fertigstellung der 3 km langen Verlängerung nach Helleböhn seien etwa vier Jahre vergangen. Die KVG bietet für Gemeinden im Umland, die einen Straßenbahnanschluß wünschen, Planungsleistungen an, die diese Gemeinden bezahlen. Die gesamte Verkehrsplanung zum Bau von Straßenbahnstrecken wird in Kassel von der KVG durchgefuhrt. Dies setze eine Unternehmensstruktur voraus, die es den Verhandlungspartnern ermöglicht, selbst Entscheidungen zu treffen.

Zur Frage der Tarifhöhe sagte Herr Meyfahrt, die KVG nehme jedes Jahr zum 1. Januar eine Preiserhöhung vor, die aber unter der Steigerung der Lebenshaltungskosten und unter der Steigerung der Autokosten liegen müsse. In Kassel werden kaum Automaten zum Verkauf eingesetzt, weil diese mit 120.000 bis 140.000 DM sehr teuer und außerdem sehr unflexibel seien. Einzelfahrscheine und Tageskarten sind in allen Verkehrsmitteln bei den Fahrern erhältlich. Dabei beträgt der Unterschied zwischen Einzelfahrschein und Mehrfahrtenkarte pro Fahrt 1 DM.

Nur zu 70% in Niederflurbauweise, aber trotzdem mit hohem Fahrgastkomfort: Die neuen Kasseler Niederflurzüge sind daher mit 2,5 Mio DM pro Zug ca. 1 Mio DM billiger als der Berliner Niederflurzug! Foto: Matthias Horth

Als weiteren Investitionsschwerpunkt nannte Herr Meyfahrt den Umbau von Busbuchten zu Buskaps. Jedes Jahr werden aus Unterhaltungsmitteln und durch GVFG-Förderung etwa 20 Haltestellen derart umgebaut. Dies ist eine zwingende Voraussetzung, um Niederflurbusse einsetzen zu können. In Kassel werden die Pausen des Fahrpersonals - wie allgemein in der Privatwirtschaft und auch in der "normalen" öffentlichen Verwaltung üblich - nicht bezahlt. Um den Fahrzeugeinsatz gering halten zu können, werden die Pausen als Blockpausen organisiert. Vorrangschaltungen für die Straßenbahn haben in erster Linie den Zweck, die Fahrplaneinhaltung zu ermöglichen. Ein gesparter Fahrzeugumlauf setzt etwa 450.000 DM frei. Durch eine durchgängige Beschleunigung der Straßenbahn auf der Strecke nach Baunatal ist es möglich, mit nur einem zusätzlichen Umlauf die gesamte Neubaustrecke abdecken zu können. Daraus wird deutlich, wie wirtschaftlich es ist, bestehende Straßenbahnstrecken zu verlängern.

Herr Prof. Meyfahrt erteilte Bestrebungen, vorrangig den Berufsverkehr mit Öffentlichen Verkehrsmitteln abwickeln zu wollen, eine eindeutige Absage. Dieser Verkehr ist der teuerste von allen. Der Erfolg einer Strategie "pro ÖPNV" zeige sich daran, ob es gelingt, den Freizeit- und Gelegenheitsverkehr anzuziehen. Gelinge dies nicht, "dann gelingt nichts".

IGEB

aus SIGNAL 6/1994 (August 1994), Seite 10-12