Planung
1. Aug 1994
An die Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe
Schon lange nicht mehr wurde in Berlin zu einem solch bedeutenden Vorhaben eine derartig bürgerunfreundliche Beteiligung durchgeführt. Der Weg zum Ausstellungsort war unzureichend gekennzeichnet. Die Öffnungszeiten waren unübsichtlich und an nahezu jedem Wochentag anders. Wollte man das Angebot wahrnehmen, einen Termin außerhalb der Öffnungszeiten zu verabreden, wehrten sich die Mitarbeiter gegen ein solches Ansinnen. In der Ausstellung waren meist nur schwer lesbare Pläne ausgehängt, die nicht ausreichend durch Begleittexte erläutert wurden. Dringend erforderlich wäre ein Modell gewesen, daß die komplizierte Höhenlage vor allem der Bahntrasse und ihre Nähe zu Wohnbauten, insbesondere im nördlichen Abschnitt (Lehrter Straße und Mettmannplatz), veranschaulicht. Außerdem wären Faltblätter oder Hefte zum kostenlosen Mitnehmen geboten gewesen, wie sie bei jeder etwas größeren Ausstellung selbstverständlich sind und z.B. bei allen Bürgerbeteiligungen zu den Bebauungsplänen im Parlaments- und Regierungsviertel zur Verfügung standen. Unter diesen Bedingungen dann auch noch 20 DM für den Erläuterungsbericht zu verlangen und diesen fast ohne Karten und Abbildungen zu verkaufen, ist eine Verhöhnung und keine Beteiligung der Bürger.
Für den Fernbahntunnel, den Straßentunnel sowie die Tunnel der U3 und U5 ist jeweils ein eigenes Planfeststellungsverfahren erforderlich. Insbesondere die Koppelung des Straßenbauprojekts B96 an die Planfeststellung für die Bahnanlagen ist unbegründet und damit unrechtmäßig. Für den Autobahnbau am Sachsendamm (A100) wurde ein gesondertes Planverfahren durchgezogen, obwohl dort der Straßenbau die Bahnplanung erheblich beeinflußt bzw. beeinträchtigt. Hier nun werden der geplante Autotunnel und die Eisenbahn in einem gemeinsamen Planverfahren behandelt, obwohl beide Maßnahmen nur im unmittelbaren Bereich des Lehrter Bahnhofs baulich Zusammenhängen, für den ohnehin noch ein getrenntes Bebauungsplanverfahren durchgeführt werden muß.
Als nicht rechtmäßig erachten wir auch das Vorgehen, einen hochfrequentierten Zentralbahnhof zu planen, ohne eine Planung zum hochbaulichen Teil und zur Erschließung dieses Bahnhofes vorzulegen, sondern hierzu nur nachrichtliche Angaben zu machen. Mit dem Fehlen der Bahnhofsplanung ist ein wesentliches Element der Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich einer Beurteilung durch die Bürger entzogen.
Insbesondere der Bau eines Straßentunnels unter dem Großen Tiergarten ist aus städtebaulichen, ökologischen und verkehrlichen Gründen abzulehnen. Die Entlastungsstraße war ein mauerzeitliches Provisorium, das die verlorengegangenen Nordsüdverbindungen über die Ebertstraße, Otto-Grotewohl-Straße und Friedrichstraße ersetzen sollte. Obwohl alle diese Verbindungen wieder zur Verfügung stehen und somit die Voraussetzungen für die Entlastungsstraße entfallen sind, soll diese Straßenführung beibehalten und sogar in ihrer Kapazität erheblich ausgeweitet werden. Dies widerspricht der auch vom Senat befürworteten Politik eines Vorranges für die Verkehrsmittel des Umweltverbundes. Die als "Verlegung der B96" verharmloste Untertunnelung des Tiergartens verringert entgegen den offiziellen Behauptungen die Belastungen dieses wichtigsten innerstädtischen Erholungsgebietes nur unwesentlich - wenn überhaupt. Nur rund ein Drittel der Entlastungsstraße kann danach tatsächlich mit flachwurzelnden Pflanzen begrünt werden. Der Rest wird verbreitert, durch Tunnelrampen oder die geplante Regierungsstraße ersetzt. Die Trennwirkung im Großen Tiergarten wird so noch verstärkt. Zudem wird die Straße durch die dann kreuzungsfreie Führung attraktiver und leistungsfähiger und damit weiteren Verkehr anziehen, vor allem überbezirklichen Durchgangsverkehr, der aus der Innenstadt herausgehalten werden muß. Diese verkehrserzeugende Wirkung des Tiergartentunnels als Teil des geplanten Innenstadtrings ist überhaupt nicht berücksichtigt worden. Im Gegenteil: Sie wird noch dadurch gefördert, daß dem Verkehr durch den Tunnel Vorrang eingeräumt wird vor den querenden Verkehren (Erläuterungsbericht S. 67). Dies erzeugt zunächst Staus und dann die Forderung nach weiterem Straßenbau. Eine Lösung des Problems Autoverkehr ist auf diese Weise ganz offensichtlich nicht möglich. Stattdessen wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der nur durch Verzicht auf den Straßentunnel gestoppt werden kann.
Das geplante Tunnelstück für eine spätere U3 ist verkehrlich sinnlos und ökologisch schädlich. Der Bau dieses 550 Meter langen Tunneltorsos erfordert umfangreiche Grundwasserabsenkungen am Tiergartenrand. Außerdem wird durch den Bau der Betrieb auf der U2 für einen großen Teil des Tages (bei dem angekündigten Zeitraum 20 bis 4 Uhr wird es sicher nicht bleiben) unterbrochen. Da nach den Terminplanungen des Senats und der DB AG zur selben Zeit auch die Stadtbahn wegen Sanierung und anschließendem Bau des Lehrter Zentralbahnhofs nur eingeschränkt verfügbar ist und außerdem weder die Nordring- noch die Südringverbindung in Betrieb sein werden, gäbe es keine fünktionierende Ost-West Verbindung in der Stadt mehr.
Hinzu kommt, daß der geplante Tunnel nie benutzt werden wird, zumindest von keiner U-Bahn. Mit Steigungen bis 45 Promille und Gefällen bis 40 Promille gleicht die Strecke eher einer Achterbahn denn einem Schnellverkehrsmittel.
Wie wenig eine Vorratswirtschaft bei Tunneln nützt, zeigen gerade im Tiergartenbereich die zahlreichen "Betonleichen", die jetzt aufwendig und teuer beseitigt werden sollen. Noch nicht einmal die in den 30er Jahren beim Bau der Nord-Süd-S-Bahn freigehaltene Trasse ist heute für die U3 noch verwertbar, da inzwischen die Potsdamer Straße verlegt wurde. Genausowenig wird der jetzt neugeplante Tunnel je benutzt werden. Nichtsdestotrotz ist sogar der Rohbau eines Unterwerks geplant, das keineswegs ausgerechnet am Potsdamer Platz untergebracht werden müßte.
Angesichts der Millionenbeträge für diese Vorleistungen ist besonders unverständlich, daß die Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit einer U3 nicht nachgewiesen wird. Als Mindestleistung hätte eine Standardisierte Bewertung vorgelegt werden müssen, und zwar alternativ für die U-Bahn und Tram-Varianten.
Für den geplanten U5-Tunnel gilt das zur U3 gesagte in verschärfter Form. Auch diese Anlagen sind nur nach erheblichen Folgeinvestitionen überhaupt nutzbar. Der Weiterbau der U5 würde den Baumbestand Unter den Linden weitgehend zerstören und die in Ausführung befindliche Bahnsteigverlängerung "Französische Straße" auf der U6 überflüssig machen. Viel gravierender aber ist, daß für eine Verlängerung der U5 von Alexanderplatz nach Westen kein ausreichender verkehrlicher Nutzen nachweisbar ist, der eine solche Milliardeninvestition rechtfertigt. Denn die so entstehende U-Bahn führe von Kaulsdorf bis Moabit parallel zur bestehenden S-Bahn-Linie 5. Auch kleinräumig führe die U5 zwischen Lehrter Bahnhof und Alexanderplatz in fußläufiger Entfernung neben der S-Bahn her. Selbst der Erläuterungsbericht (S. 35) gibt zu, daß beide Bahnen zu großen Teilen dasselbe Fahrgastpotential bedienen. Die behauptete Entlastung der Stadtbahn wird dabei zwar erreicht, ist aber überhaupt nicht erforderlich. Zum einen ist die S-Bahn auf der Stadtbahn noch längst nicht an der Kapazitätsgrenze, zum anderen verlor sie Ende 1993 mit der Durchbindung der U2-Ost und - West Fahrgäste und wird Ende 1995 mit der Wiederinbetriebnahme der Ul bis zum S-Bf. Warschauer Straße weitere Fahrgäste verlieren. Für eine ergänzende kleinräumige Verkehrsbedienung ist dagegen die Straßenbahn das geeignetere Verkehrsmittel. Die Wiederherstellung der Straßenbahn über den Alexanderplatz nach Westen ist für wesentlich weniger Geld wesentlich schneller möglich. Deshalb ist es völlig unbegreiflich, daß im Rahmen der Standardisierten Bewertung nicht auch Tram-Varinaten als Alternative zur U5-Verlängerung untersucht wurden.
Ein schwerwiegender Planungsmangel ist ferner, daß im Rahmen des Standardisierten Bewertungsverfahrens kein Wert für eine Teilstreckenverlängerung vom Alexanderplatz zum Lehrter Bahnhof ermittelt wurde. Wenn es überhaupt zu einer U-Bahn-Verlängerung käme, wäre mit dieser Teilstrecke für sehr lange Zeit der Endbahnhof erreicht. Das Nicht-Erfassen dieses Zustandes als ein möglicher Fall zeigt, daß hier ganz offensichtlich auch von Seiten des Senates ein schlechter Wert, wahrscheinlich unter 1, erwartet wurde.
Der geplante Neubau eines Fernbahnhofs Lehrter Bahnhof ist weder städtebaulich noch verkehrlich akzeptabel. Ein zentraler Fernbahnhof für ganz Berlin widerspricht der polyzentralen Struktur der Stadt; für eine lediglich örtliche Erschließung ist der Aufwand viel zu groß. Die angeführte Umsteigefunktion zwischen nordsüdlichen und westöstlichen Bahnstrecken ist ebenfalls kein Argument, da solche Umsteigevorgänge praktisch nicht stattfinden. Eine durchaus sinnvolle betriebliche Verknüpfung beider Bahnsysteme, die die Betriebsabwicklung flexibler machen würde, fehlt dagegen. Ebenso fehlen die Umsteigeverbindungen, die tatsächlich dringend erforderlich wären, nämlich von der Fernbahn in die innerstädtischen Nahverkehrsmittel. Die ausreichende Erschließung des Standortes Lehrter Bahnhof erfordert immense Zusatzleistungen. Die besonders wichtige Verknüpfung in Nord-Süd-Richtung aber, die S21, ist bereits wieder aus den Planungen gestrichen. Während also zu der immerhin bestehenden Ost-West-Verbindung in Gestalt der Stadtbahn eine parallele U5 hinzukommen soll, bleibt der Lehrter Bahnhof ohne Anschluß in Nordsüdrichtung.
Mit dem Verzicht auf die S21 ist die Erreichbarkeit des Lehrter Zentralbahnhofs so entscheidend eingeschränkt worden, daß seine Funktionsfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Der Verweis auf die Regionalbahn ist nicht akzeptabel, da diese nur in Papestraße, Potsdamer Platz und Gesundbrunnen halten kann und aufgrund ihrer Systemeigenschaften (z.B. weniger Türen als bei der S-Bahn und sehr viel unbequemere Zustiege) für den innerstädtischen Massenverkehr ungeeignet ist. Hinzu kommt, daß völlig ungewiß ist, ob der Regionalverkehr sich überhaupt die Fahrwegkosten der Tunnelstrecke wird leisten können.
Wesentlich günstiger ist dagegen für einen Fernbahnhof der Standort Bahnhof Friedrichstraße. Dieser liegt für fast alle bestehenden und geplanten Einrichtungen in Berlin-Mitte deutlich näher als die Stadtbrache am Lehrter Bahnhof. Der bestehende Bahnhof Friedrichstraße ist zudem bereits durch eine U-Bahn, je eine nordsüdliche und ostwestliche S-Bahn und die Straßenbahn hervorragend angebunden.
Die schnelle und einfache Unterfahrung der Stadt, die versprochen wird, kann der vorgesehene Bahntunnel keineswegs sicherstellen. Die eingeplanten Steilrampen bis zu 30 Promille, die engen Kurvenradien bis herab zu 400 Meter und die neigung der Bahnsteige Lehrter Bahnhof stellen vielmehr erhebliche Engpässe und eine Gefahr für die Betriebssicherheit dar. Zu kritisieren ist auch die Trassierung: Im Bereich Lehrter Straße sowie im Bereich Mettmannplatz liegen die geplanten Gleise viel zu dicht an der vorhandenen Wohnbebauung. An der Lehrter Straße ist dies schon deshalb unbegreiflich, weil im Zusammenhang mit der S21-Planung zwischenzeitlich der Nachweis erbracht worden war, daß eine von der Wohnbebauung abgerückte Gleislage technisch möglich ist.
Unabhängig von der konkreten Trassierung und auch bei einer Führung über den eindeutig vorzuziehenden Standort Bahnhof Friedrichstraße gelten aber die grundsätzlichen Einwände gegen die geplanten Bahntunnel:
Allein ein Viertel des erwarteten Zugverkehrs kommt durch den Flughafenzubringer zum geplanten Großflughafen Berlin-Brandenburg zustande. Ganz abgesehen von der Frage, ob die für diesen Flughafen prognostizierten Fluggastzahlen realistisch oder auch nur wünschenswert sind, stellt dies eine massive, von der öffentlichen Hand aufzubringende Vorleistung für einen privatwirtschaftlich organisierten Verkehrsträger dar, was auf eine weitere Subventionierung des Flugverkehrs hinausläuft. Hinzu kommt, daß bei einer durchaus möglichen Entscheidung für Schönefeld-Süd die S-Bahn den Flughafenzubringer ersetzt, so daß kein Bedarf mehr für das dritte und vierte Gleis gegeben wäre. Zugleich könnte damit mindestens ein Bahnsteig im unterirdischen Lehrter Bahnhof eingespart werden.
Der extrem teure Tunnelbau (viergleisig, für Oberleitungen ausreichendes Profil, mehrere unterirdische Bahnhöfe) bindet Kapital und Baukapazitäten, die anderswo fehlen. Insbesondere die dringend notwendige Schließung der mauerbedingten Lücken im Bahnnetz wird so verhindert. Bereits beim jetzigen Planungsstand wurde die Wiederherstellung des Südrings dem Tunnel geopfert, weitere Einschränkungen sind zu erwarten. Anstatt vorhandene Bahntrassen rasch wieder befahrbar zu machen, werden für lange Zeit alle finanziellen und personellen Ressourcen auf das eine Großvorhaben konzentriert.
Eine verantwortungsvolle, an den Interessen der Bewohner der Stadt ausgerichtete Bahnplanung muß sich an folgenden Grundsätzen orientieren:
Die vorliegende Bahnplanung nach dem "Pilzkonzept" erfüllt keines dieser Kriterien; selbst elementare Lückenschlüsse unterbleiben auf absehbare Zeit, während gigantische Summen in ein lächerlich kurzes Stück Eisenbahntrasse verbaut werden, und das ganze Konzept ist abhängig von der Fertigstellung des Tunnels. Der Güterverkehr bleibt beim Pilzkonzept gänzlich unberücksichtigt. Notwendig ist stattdessen eine überarbeitete Bahnplanung:
Am Rande sei vermerkt, daß derzeit am Gleisdreieck ein großer Kopfbahnhof wiederaufgebaut wird, dessen spätere Nutzung noch völlig offen ist. Das Tunnelkonzept erfordert also den vorherigen Wiederaufbau erheblicher Teile des Bahnnetzes, ohne daß dies den Fahrgästen oder den gewöhnlichen Bahngüterkunden zugute käme.
Abriß und Verlegung des Vorortbahnsteigs der S-Bahn (Psv) wurden durch den Autobahnbau erzwungen. Nach dem Veranlasserprinzip ist daher für den Abriß des Behelfsbahnsteigs und den Neubau des S-Bahnsteigs der Straßenbauetat als Baulastträger heranzuziehen.
Bei der hohen Bedeutung, die dem Bahnhof Papestraße zugemessen wird, ist unverständlich, warum kein Regionalbahnsteig an der Ringbahn vorgesehen ist. Die Ringbahnanlagen müssen hier zumindest für die spätere Aufnahme eines Regionalbahnsteigs vorbereitet werden.
Im Gegensatz dazu wird für die S2 eine völlig überdimensionierte Abstellanlage für sechs Vollzüge vorgesehen, für die es keine betriebliche Notwendigkeit oder eine Bedarfsanalyse gibt.
Die geplanten Baumaßnahmen führen zu einer unnötigen Zerstörung zahlreicher Baudenkmäler: Der gerade erst für 10 Mio DM restaurierte Lehrter Stadtbahnhof, der zusammen mit dem Hamburger Bahnhof das letzte Ensemble von Bahnbauten des 19. Jahrhunderts bildet, muß unbedingt erhalten bleiben. Desweiteren gehören zu diesem Ensemble die denkmalgeschützten bzw. denkmalwerten Stadtbahnbögen, von denen 54, d.h. fast 10% des Gesamtbestandes, vernichtet werden sollen.
IGEB
aus SIGNAL 6/1994 (August 1994), Seite 19-22