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Erinnern Sie sich noch an die leidige Debatte “Gleichstrom kontra Wechselstrom“ bzw. “S-Bahn kontra Regionalbahn“ für den Bahnverkehr ins Berliner Umland? Im Fall der Hamburger Bahn wird sie noch immer geführt (siehe Seite 5/6). Aber für die Kremmener Bahn zeichnet sich jetzt die Wiederherstellung als S-Bahn-Linie bis Hennigsdorf ab. Eine von der Berliner Verkehrs-Consulting GmbH (BVC) für die Deutsche Bahn AG erarbeitete Studie enthält schon ein Betriebsprogramm für S-Bahn-Züge im 20-Minuten-Takt und räumt diesen gegenüber Regionalzügen Priorität ein.
1. Sep 1994
Nach der Stillegung der S-Bahn nach Heiligensee Anfang 1984 schien es nahezu aussichtslos, daß hier jemals wieder eine S-Bahn fährt. Das änderte sich mit dem 9. November 1989 schlagartig. Doch anfängliche Hoffnungen auf eine schnelle Wiederinbetriebnahme erfüllten sich nicht. Im Gegenteil: Trotz zahlloser Versprechungen des Verkehrssenators verzögerte sich der Baubeginn für die Wiederinbetriebnahme Jahr um Jahr. Noch Anfang 1994 galt als sicher, daß wenigstens bis zum Herbst 1994 mit der Eröffnung der U8-Verlängerung auch die ersten S-Bahn-Züge nach Tegel fahren werden und somit in "Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" eine Umsteigemöglichkeit zwischen U8 und Kremmener Bahn entsteht. Doch nun müssen die Fahrgäste froh sein, wenn wenigstens zum Fahrplanwechsel im Sommer 1995 endlich die ersten Züge von Schönholz bis Tegel fahren.
Aber ob und wie es über Tegel hinaus weitergeht, war stets umstritten. Mit der Beauftragung und den Ergebnissen des BVC-Gutachtens zeichnet sich nun eine kaum noch erhoffte positive Entwicklung für die Kremmener Bahn ab. Befürwortet wird von den Gutachtern ein Gemeinschaftsbetrieb mit Gleichstrom-S-Bahn und Dieselzügen. In diesem Fall erwarten die BVC-Experten unter Verweis auf den Schlußbericht "Prognose zum S-Bahn-Verkehrsaufkommen Berlin" für den Abschnitt Tegel - Hennigsdorf 20.000 Fahrgäste pro Werktag, das Doppelte gegenüber einem ab Schönholz reinen Regionalverkehr (R-Bahn, StadtExpress, RegionalExpress) und immer noch 6.000 mehr als bei der Variante "S-Bahn bis Tegel/anschließend nur Regionalverkehr". Für das im Bau befindliche Teilstück Schönholz - Tegel lautet die Prognose übrigens bei Weiterführung der S-Bahn bis Hennigsdorf sogar: werktäglich 50.000 Fahrgäste!
An einen nur eingleisigen, provisorischen Lückenschluß ist nicht mehr gedacht. Von vornherein sollen zwei Gleise verlegt und mit Stromschienen ausgerüstet werden. Regionalzüge fahren dem Betriebskonzept zufolge weiter Richtung Kremmen, der RegionalExpreß mindestens bis Neuruppin (siehe auch SIGNAL 6/94 ). Auf dem ja längst mit Fahrdraht versehenen Teilstück Hennigsdorf - Velten könnte außerdem die von AEG entwickelte "Duo-S-Bahn" mit Dieselkraft fahren.
Die "Aufgabenstellung" genannte BVC-Studie entspricht qualitativ einer Vorentwurfsplanung. Für einen 900 Meter langen Abschnitt im Tegeler Forst muß das Eisenbahn-Bundesamt als zuständige Behörde aber das für Neubautrassen vorgeschriebene Planfeststellungsverfahren einleiten. Bekanntlich ist die alte Trasse seit 1987 teilweise mit der Fernstraße nach Hamburg "belegt." Entgegen wiederholter Zusagen begnügte sich der noch im Vorjahr zuständige Berliner Senat mit vorbereitenden Untersuchungen, das Planfeststellungsverfahren selbst hat er nicht in Gang gebracht. Mit dem Baubeginn ist deshalb vor 1996 kaum zu rechnen, mit der Betriebsaufhah- meleider frühestens 1998.
Gesichert scheint immerhin die Finanzierung durch den Bund: Verkehrsminister Wissmann hat sie im Rahmen des am S-Bahn-Netz von 1961 orientierten Lückenschluß- und Grundinstandsetzungsprogramms zugesagt. Etwaige Bahnsteigverschiebungen, den Einbau von Fahrtreppen und Aufzügen etc. müßten freilich die Länder Berlin bzw. Brandenburg bezahlen. Die Kosten einer durchgehend wiederaufgebauten zweigleisigen Trasse zwischen Schönholz und Hennigsdorf belaufen sich auf geschätzt 400 Millionen Mark. Zum Vergleich: Die bis 1995 "als Provisorium" fertiggestellte eingleisige Strecke Schönholz Tegel erfordert Investionen von 29 Mio Mark. Apropos Ausbaustandard: Die 1992 von der Brandenburgischen Landesentwicklungsgesellschaft gebildete "Projektgruppe Regionalbahn" plädierte noch für einen 160 Stundenkilometer schnellen, elektrischen RegionalExpress von Berlin nach Neuruppin. Die DB AG begnügt sich jetzt offenbar mit einem Streckenausbau für lediglich 120 oder 140 km/h. Selbst ein 10-minütiger S-Bahn- und 30-minütiger Regionalbahntakt ließen sich so noch auf zwei Gleisen bewältigen, allerdings engt hier die maximal 100 km/h schnelle S-Bahn die Fahrplangestaltung ein. Auf dem am stärksten belasteten Abschnitt von Tegel bis Abzweig Reinickendorf kommt daher längerfristig ein drittes Gleis in Betracht.
Die DB-Tochter "S-Bahn Berlin GmbH" und der DB-Regionalbereich Regionalverkehr müssen nun noch die weiteren Details abstimmen. Arbeitsgrundlage ist dabei die BVC-Studie, ein neuerliches "Systemhickhack Wechsel- oder Gleichstrom" ist demnach für die Kremmener Bahn nicht mehr zu befürchten.
IGEB
aus SIGNAL 7/1994 (September 1994), Seite 4-5