Titelthema
Gut informierte Kreise lassen verlauten, dass die Mass Transit Railway (MTR) aus Hongkong inzwischen das Interesse an der laufenden Berliner S-Bahn-Ausschreibung verloren hätte. Gleiches gelte für RATP aus Frankreich und JR East aus Japan.
16. Apr 2014
Im Rennen seien nur noch die Deutsche Bahn mit der S-Bahn Berlin GmbH und National Express aus Großbritannien. Dennoch lohnt ein Blick nach Hongkong, wo MTR täglich ein Vielfaches des Berliner Fahrgastaufkommens bewältigt.
Im Sommer 2013 bekam die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Post aus China, genauer gesagt aus Hongkong. Die dort ansässige MTR Corporation schickte ihre Unterlagen, um am Vergabeverfahren für den Betrieb des Teilnetzes „Ring“ der Berliner S-Bahn teilzunehmen (siehe u. a. SIGNAL 4/2012 ). MTR betreibt die U-Bahn und andere öffentliche Verkehrsmittel in der ehemaligen britischen Kolonie. Daher ist man als Berliner Fahrgast derzeit mit einem besonderen Interesse unterwegs, wenn man Gelegenheit hat, diese Stadt und ihren Nahverkehr zu besuchen.
Hongkong liegt an der chinesischen Pazifikküste und besteht aus den Städten Hongkong und Kowloon und den sie umgebenden New Territories. Das Gebiet wurde 1997 an China zurückgegeben, wird aber als sogenannte Sonderverwaltungszone weiter getrennt regiert. An der Grenze zum Mainland der Volksrepublik gibt es zwei Bahnhöfe, die zugleich als Grenzübergang dienen und wo man nach Passieren der Passkontrolle mit der Metro der angrenzenden Millionenstadt Shenzhen weiterfahren kann. Diese Verhältnisse erinnern etwas an das ehemalige West-Berlin.
Bei ähnlicher Fläche besteht Hongkong aber zu einem erheblichen Teil aus Meer, Inseln, Bergen und sogar landwirtschaftlichen Flächen. Nur etwa 25% des Landes sind bebaut – und trotzdem zählt die Stadt 7 Millionen Einwohner. Sprich: Wo Menschen sind, ist gleich richtig viel los. Wohnen und Arbeiten in Hochhäusern mit 30 bis 50 Etagen ist normal, neben einem Einkaufszentrum liegt gleich mindestens ein weiteres, und Fußgänger bewegen sich zwischen diesen meist auf überdachten Fußgängerbrücken,
die auf Höhe des zweiten Obergeschosses von einem Gebäude zum nächsten führen. Das Leben in dieser Dichte erfordert Organisation und (Selbst-)disziplin.
Der Autoverkehr ist auch in Hongkong präsent – vor allem durch Straßen und Stadtautobahnen in teils abenteuerlicher Hochlage. Der Motorisierungsgrad ist mit ca. 65 Pkw je 1000 Einwohner jedoch gering (Berlin ca. 350 Pkw je 1000 Einwohner). Fußgänger finden mit den genannten Brücken meist komfortable Verhältnisse vor, sieht man mal von Orientierungsschwierigkeiten ab. Radfahren ist zum Teil wegen der Topografie unattraktiv, zum anderen eine Mutprobe, der sich nur sehr wenige aussetzen.
Der Großteil der Verkehrsnachfrage wird daher durch das umfangreiche Angebot öffentlicher Verkehrsmittel bedient. Auf den Straßen tummeln sich neben zahllosen Taxis eine verwirrende Masse von Bussen verschiedenster Art. Drei Grundarten lassen sich relativ schnell identifizieren: Linienbusse bekannter Art mit festen Haltestellen und Strecken – meist dreiachsige Doppeldecker in britischem Design –, „grüne Minibusse“, die kürzere Strecken bedienen und mit festen Haltestellen, aber ohne festen Fahrplan verkehren sowie „rote Minibusse“ ohne feste Haltestellen.
Auf Hongkong Island, dem ursprünglichen Stadtkern, verkehrt auf einer Ost-West-Strecke von etwa 13 km die Straßenbahn. Hier kommen ausschließlich Doppelstock-Zweiachser zum Einsatz, die derzeit übrigens von Veolia und der Pariser RATP Dev betrieben werden. Die gemächliche Fahrt mit den sich im Minutentakt durch die Hochhausschluchten bewegenden Trams ist ein hervorragendes Mittel, das Zentrum und die anschließenden Quartiere kennen zu lernen. Für bessere Fotos und bessere Lüftung lassen sich alle Fenster öffnen. Bezahlt wird beim Aussteigen – und zwar der unschlagbare Einheitspreis von umgerechnet 23 Cent.
Zum öffentlichen Verkehrsangebot gehören außerdem die Standseilbahn auf den Victoria Peak, einige Schwebeseilbahnen sowie zahlreiche Fähren, die die Wasserstraße zwischen Hongkong Island und Kowloon überqueren, die weiteren Inseln anbinden oder Ziele im Mainland ansteuern. Zur etwa 40 km entfernten ehemals portugiesischen Kolonie Macau wird gerade eine Brücke gebaut, nach deren Fertigstellung ein Teil der Fähren durch noch mehr Busse ersetzt werden dürfte.
Hauptträger des ÖPNV ist jedoch die MTR, wobei die Gesellschaft dieses Namens mehrere Verkehrssysteme betreibt. Das bedeutendste ist zweifellos die U-Bahn, deren zehn Linien zusammen mit der S-Bahn-Strecke das Grundgerüst des ÖPNV bilden. Dabei sind die (jeweils mit Namen bezeichneten) Strecken in ihrem Charakter sehr unterschiedlich: Vier von ihnen (Kwun Tong, Tsuen Wan, Island und Tseung Kwan O-Linie) verlaufen im inneren Stadtbereich, weitgehend unterirdisch mit relativ dichten Bahnhofsabständen. Hier kommt in der Spitze alle 120 Sekunden ein Zug, gelegentlich noch öfter, der dann etwa 180 m lang ist. So wird eine Kapazität von etwa 85 000 Plätzen geboten – pro Stunde und Richtung wohlgemerkt. Fahrpläne sind bei so einem Takt entbehrlich. Zwar gibt es in Hongkong noch nicht die aus Japan bekannten „Drücker“, aber in der HVZ sorgt auf einer Reihe von Stationen MTR-Personal dafür, dass sich die Fahrgäste gut entlang des Bahnsteigs verteilen und das Schließen der (Bahnsteig-)Türen nicht behindert wird. In einer Minute kommt ja schon der nächste Zug – daher gilt es, auch kleinste Verzögerungen zu vermeiden.
Weitere drei MTR-Linien haben den Charakter von Express-Metros: Sie binden Neubaugebiete der New Territories an das Zentrum an und verlaufen auf längeren Abschnitten oberirdisch mit längeren Bahnhofsabständen. Was nicht unbedingt heißt, dass hier weniger los ist. Der Airport Express sorgt – wie der Name sagt – für die Anbindung des 1998 eröffneten neuen Flughafens. Er verkehrt mit Sondertarif und nochmals weniger Haltestellen auf eigenen Gleisen parallel zur Tung Chung Line und benötigt für die 35 km nur 20 Minuten. Als zusätzlichen Service bieten zahlreiche Fluggesellschaften den Check-In im Zentrum an, von wo das Gepäck in einem speziellen Gepäckwagen mit der Bahn zum Flughafen befördert wird. Zubringerfunktion haben zwei Linien: die Ma On Shan Line in die nordöstlichen Vorstädte und die Shuttleverbindung zum Disneyland, die als einzige automatisch betrieben wird und mit speziell gestalteten Fahrzeugen ausgerüstet ist.
Einzige S-Bahn-Hongkongs ist die sogenannte East Rail Line, früher als Kowloon-Canton-Railway bekannt, die seit 2007 durch die MTR betrieben wird. Ursprünglich war dies eine Fernbahn ins chinesische Guangzhou (Kanton). Mit dem Wachstum Hongkongs wurde der Verkehr auf dem Abschnitt in der Kolonie nach und nach verdichtet. Heute ist sie nur noch durch den fast ausschließlich oberirdischen Verlauf und die etwas anderen Fahrzeuge (die z. B. die 1. Klasse führen) von den anderen MTR-Linien zu unterscheiden. Doch trotz des dichten Takts finden auf der Strecke noch zwölf Fernzugpaare täglich nach Kanton, Peking oder Shanghai Platz – für die Fahrkarten auch an einigen MTR-Stationen erhältlich sind. Eine neue Schnellstrecke ins Mainland ist im Bau.
Die Anlagen sind durchweg modern, trotz mancher Kunstwerke vielleicht etwas anonym, aber funktional gestaltet – hier hat die MTR zweifellos andere Voraussetzungen als ein System mit großem historischem Erbe. Die meisten Umsteigestationen sind so geplant, dass man einfach auf der anderen Bahnsteigseite den Anschluss erreicht. Zur Ausstattung gehören stets eine Reihe von Geschäften verschiedenster Art und ein als off ene Glaskanzel gestalteter Serviceschalter, der sowohl von innerhalb wie außerhalb der Sperre erreichbar ist. An einer Reihe von Bahnhöfen stehen gratis benutzbare Internet-Terminals.
Damit nicht genug, hat die MTR auch noch eine Reihe von Zubringerbuslinien von Vorstadtsiedlungen zu ihren Bahnhöfen aufgebaut, die im Gegensatz zu anderen Bussen tarifl ich integriert sind. Ferner betreibt sie das umfangreiche Stadtbahnsystem in den nordwestlichen New Territories. Auf 36 km Strecke sind dort elf Linien in dichtem Takt unterwegs – je Linie mindestens alle zehn Minuten, wobei die meisten Strecken durch zwei oder drei Linien bedient werden. Die auch dort dominierenden Wohnhochhäuser sorgen für eine große Nachfrage, für die die meist einzeln verkehrenden Großraumwagen australischer Produktion in der Regel nur gerade so ausreichen. Das überwiegend auf eigenen Trassen, teils in Hochlage, gebaute System ist mit einer halbwegs funktionierenden Ampelvorrangschaltung ausgerüstet, so dass die Reisegeschwindigkeit ordentlich ist.
Die MTR-Gesellschaft wurde übrigens 1979 zur Betriebsaufnahme der U-Bahn als Unternehmen in Staatsbesitz gegründet. Vor einigen Jahren wurde knapp ein Viertel der Anteile an die Börse gebracht. Neben dem ÖV-Betrieb in Hongkong ist die Immobilienentwicklung von Objekten, die an oder nahe bei MTR-Stationen liegen, ein wesentliches Geschäftsfeld. Beide Bereiche arbeiten profi tabel. In Europa ist MTR seit einigen Jahren als Betriebsführer der Stockholmer U-Bahn und – gemeinsam mit DB Arriva – eines Teils des Londoner S-Bahn-Verkehrs vertreten.
Noch vielfältiger als das Verkehrsangebot ist das Tarifsystem: Minibusse und Fähren haben individuell festgesetzte Einheitspreise, die bei Fähren meist sonntags höher sind als unter der Woche. Normale Busse haben einen grob entfernungsabhängigen Tarif, der durch Zuschläge für Tunnelmaut, Flughafenlinien sowie diverse Rabatte beim Umsteigen innerhalb bestimmter Zeiträume auf bestimmte Linien an bestimmten Haltestellen im Detail undurchschaubar wird. Die MTR bietet verschiedene Tages- und Zeitkarten für ihr ganzes Netz oder diverse Teilbereiche an, ihr Basistarif ist jedoch entfernungsabhängig, so dass es für jeden Bahnhof andere Fahrpreistabellen gibt. Hinzu kommen unterschiedliche Grundpreise für Normalzahler, Karteninhaber, Senioren, Schüler und Studenten. Das Preisniveau selbst liegt unter dem mitteleuropäischen und reicht von etwa 30 Cent für eine kurze Strecke in der City bis etwa 4,50 Euro für eine Fahrt an die chinesische Grenze. Für die beiden Grenzstationen wird ein Zuschlag erhoben.
Aber: Kaum jemand scheint sich mit diesen Details auseinanderzusetzen, und kaum jemand muss es tun: Hongkong hat bereits 1998 ein elektronisches Ticketsystem namens Octopus eingeführt, das bei allen Verkehrsunternehmen zum Einsatz kommt. Die Octopus-Karte kann als Zeitkarte genutzt oder mit Guthaben geladen werden. In letzterem Fall werden jeweils die Fahrpreise der benutzten Verkehrsmittel abgebucht und dem Unternehmen gutgeschrieben. Kunden können auf MTR-Stationen an Lesegeräten die letzten Transaktionen aufrufen. Die Octopus-Preise liegen bei der MTR etwas unter denen für Einzelfahrten; weitere Mengenrabatte oder Kappungsgrenzen werden dagegen nicht gewährt. Barzahlen spielt daher nur noch eine marginale Rolle. Das Octopus-System ist daher zugleich ein positives Beispiel für populäres elektronisches Ticketing und ein negatives Beispiel für unzureichende Tariftransparenz.
Massen von Volk, überall. Dieser Eindruck dürfte den meisten Europäern von einer Reise nach Hongkong bleiben. Die Züge sind außer auf den äußersten Abschnitten in aller Regel so gut gefüllt, dass ein „bequemes“ Stehen, bei dem man noch keine allzu enge Tuchfühlung mit seinen Nachbarn hat, gerade noch möglich ist. Auf den zweiten Blick beeindruckt die unaufgeregte, routinierte und ganz überwiegend disziplinierte Art, mit der sich diese Menschenmassen begegnen, vermischen, weitergehen und auch durch das ÖV-System geschleust werden. Besonders das MTR-Netz ist eindeutig auf effizienten Massenverkehr optimiert – dies zeigt nicht nur die Dimensionierung der Bahnhöfe und Züge. Auch Wegweisung, Kennzeichnung von Wartebereichen auf Bahnsteigen, Personalpräsenz und andere Maßnahmen zielen zumindest indirekt darauf, Irritationen (und damit Verzögerungen) zu vermeiden. Manches trägt auch über das ÖV-System hinaus; so ist die – sehr nützliche – Nummerierung der Bahnhofsausgänge selbstverständlicher Teil von Firmenadressen (nicht „am U-Bf Hung Hom“, sondern „Hung Hom, Ausgang B1“). Und in manchen Geschäften wird man durchaus verwundert angesehen, will man seinen Imbiss mit Bargeld bezahlen – denn das kann man doch auch mit der Octopus-Karte tun.
Das Reisen mit der MTR lässt erwarten, dass dieses Unternehmen auch mit den Berliner Aufgaben zurechtkäme. Aber Hongkong ist nicht Berlin, und nicht alles kann oder muss von dort kopiert werden. Erst nach einiger Zeit wird einem bewusst, wie viel homogener die Gesellschaft Hongkongs ist – mag man dazu stehen wie man will. „Unangepasste“ Typen, Straßenmusikanten oder Bettler fehlen nicht nur in der U-Bahn. Die Einheimischen scheinen zufrieden damit, ihren eigenen Dingen nachzugehen – gern mit dem Smartphone vor der Nase, von dem viele auch beim Laufen und auf der Rolltreppe den Blick nicht wenden können. Für „laute“ Telefonate wird es dagegen kaum benutzt. Zweifel am „richtigen“ Benehmen können aber auch sonst nicht aufkommen – denn im Minutentakt erinnert eine freundliche MTR-Stimme auf kantonesisch und englisch daran, was sich gehört: nicht essen und trinken, nicht nur auf das Handy starren, auf der Rolltreppe stehen bleiben und sich festhalten, die Türen nicht blockieren und vieles andere mehr. Nach einer Weile wird klar, warum sich so viele Passagiere über Kopfhörer andere Geräusche aus dem Internet besorgen.
Martin Schiefelbusch
aus SIGNAL 2/2014 (April/Mai 2014), Seite 6-9