City-Tunnel Leipzig

Kein „Leipzig 21“

Leipzigs neuer Citytunnel besitzt schöne Stationen, dient aber fast nur der S-Bahn

Während man in und über „Stuttgart 21“ viel diskutierte, wurde in Leipzig ein Bahntunnel durch die Innenstadt gebaut. Das Ergebnis, seit Dezember 2013 in Betrieb, ist von der Stationsarchitektur her erfreulich, besonders bemerkenswert aber, wenn man auf Kosten und Zweck des Vorhabens schaut – auch im Hinblick auf das Stuttgarter Projekt.


Jan Gympel

20. Jun 2014

Wie ausgiebig und erbittert ist über „Stuttgart 21“, das Vorhaben des Baus eines Bahntunnels durch die Innenstadt und Umwandlung des Hauptbahnhofs von einer Kopf- zur unterirdischen Durchgangsstation, geredet worden! Eigenartigerweise kam dabei kaum zur Sprache, dass zeitgleich mitten in Deutschland etwas entstand, das man zum Vergleich hätte heranziehen können: der Leipziger Citytunnel zwischen Haupt- und Bayerischem Bahnhof.

Böse Zungen behaupten ja, hätte Leipzig in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik gelegen, hätte die Halbmillionenstadt bereits damals (mindestens) einen Bahntunnel erhalten. Sich aus inzwischen längst überholten verkehrspolitischen Dogmen, aber auch aus Prestigegründen unterirdische Schienenstrecken zuzulegen, war in der Bundesrepublik jener Jahre bekanntlich sehr beliebt. Und mutmaßlich hätte man sich dann auch durch die kriegsbedingt leergeräumte Dresdener Innenstadt gegraben, um die Straßenbahn dort

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für ein paar Stationen in der Erde verschwinden zu lassen – weniger weil das verkehrlich sinnvoll gewesen wäre, als um den Rivalitäten innerhalb eines Bundeslandes zu genügen. München und das viel kleinere, aber wie die Landeshauptstadt mit einer Voll-U-Bahn ausgestattete Nürnberg lassen grüßen.

Viele Züge machen weiter einen Bogen

Insofern erschien das seit Anfang der 1990er Jahre verfolgte Projekt des Leipziger Citytunnels ein wenig wie eine Wiedergutmachung für den misslichen Umstand, dass die Stadt über vierzig Jahre hinweg zum ärmeren der damals zwei deutschen Staaten gehörte. Es schien aber auch von der Verkehrsgestaltung her als zweckmäßig: Schließlich liegt Leipzig an der wichtigen Strecke Berlin—München. Wenn die ICEs auf dieser Verbindung künftig in der Messestadt nicht mehr Kopf und einen großen Bogen um ihr Zentrum machen müssten, würde das einige Minuten Reisezeit einsparen.

Doch während Kopfbahnhöfe von Verkehrsexperten in der Regel als absolutes Teufelszeug betrachtet werden und das Festhalten an einer so gestalteten Station in Stuttgart angeblich zur Verelendung der Stadt, Süddeutschlands, der Bundesrepublik oder gleich halb Europas führen würde, wurde beim Leipziger Vorhaben ziemlich bald klar: Die Fernzüge, auch und gerade die ICEs zwischen Berlin und München, deren Reisezeit durch umfangreiche Baumaßnahmen auf weniger als viereinhalb Stunden gedrückt werden soll, sollen gar nicht durch den Citytunnel fahren. Viele von ihnen werden die Messestadt sogar links liegen lassen und stattdessen über Halle (Saale) verkehren.

Selbst für den neuen unterirdischen Perron des Leipziger Hauptbahnhofs gibt es lediglich die Option, ihn von jetzt 215 Meter auf die ICE-gerechte Länge von vierhundert Metern auszubauen. Und auch dann wäre noch die Frage, ob die Kapazität der unterirdischen Bahnsteighalle für die Aufnahme von Fernverkehr ausreichen würde: Sie umfasst nämlich wirklich nur einen einzigen Bahnsteig mit zwei Gleisen. Auf der Strecke soll maximal ein Fünf-Minuten-Takt möglich sein. Auf der offiziellen Website citytunnelleipzig.de heißt es denn auch vorsichtig: „Es ist prinzipiell möglich, dass stündlich je Richtung ein Fernverkehrszug den Tunnel benutzen kann.“

Am Wilhelm-Leuschner-Platz befindet sich die eindrucksvollste der neuen Leipziger Tunnelstationen. Ihre Bahnsteighalle wird geprägt von hinterleuchteten Glasbausteinen. Foto: Florian Müller
Unter der westlichsten der sechs großen Hallen des Leipziger Hauptbahnhofs liegen oberirdisch keine Gleise mehr. Durch ein „Atrium“ genanntes Loch blickt und gelangt man nun … Foto: Florian Müller
… in die zweigleisige neue Tunnelstation. Hier hält pro Richtung alle fünf Minuten eine S-Bahn, und ein mal am Tag auch ein ICE. Foto: Florian Müller
Von der 1924/25 entstandenen Untergrundmessehalle unter dem Leipziger Markt blieb nur der Eingang erhalten. Nach dem Bahnbau wurde er restauriert wiedererrichtet und dient jetzt als ein Stationseingang. Foto: Florian Müller
Platten und Stäbe aus Terrakotta bestimmen das Bild der Bahnsteighalle am Markt. Foto: Florian Müller
Ein Eingang auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz – wie die dortige Bahnsteighalle geprägt von Glasbausteinen, geraden Linien und rechten Winkeln. Links im Hintergrund das Neue Rathaus. Foto: Florian Müller
Eine etwas eigenwillige Idee: Die Wartebänke wurden in Sichtbetonwänden untergebracht. Foto: Florian Müller
Der Portikus des Bayerischen Bahnhofs, während der Bauarbeiten verschoben, steht wieder an seiner alten Stelle – nun nur noch funktionsloses Denkmal. Der Bereich vor dem nördlichen Zugang zur Tunnelstation ist noch nicht ganz fertiggestellt. Foto: Florian Müller
Gleise liegen am einstmals wohl ältesten noch betriebenen Kopfbahnhof der Welt jetzt noch unterirdisch. Foto: Martin Jehnichen, Deutsche Bahn AG
Die unterirdische Bahnsteighalle am Hauptbahnhof ließe sich von derzeit 215 Meter auf die ICE-gerechte Länge von 400 Metern ausbauen. Vorerst halten hier aber fast nur S-Bahnen. Foto: Florian Müller

Was an der Pleiße (mit dem Freistaat Sachsen und der DB AG als Bauherrn) entstanden ist, ist also kein „Leipzig 21“, sondern de facto lediglich ein Tunnel für Regional- und S-Bahn. Wobei diese beiden Begriffe in der nordsächsischen Metropole nur schwer auseinanderzuhalten sind: Das – am 15. Dezember 2013, einen Tag nach der feierlichen Eröffnung des Citytunnels, in Betrieb gegangene – Netz der „S-Bahn Mitteldeutschland“ reicht bis nach Bitterfeld, Zwickau oder Torgau und (dabei auch den Süden Brandenburgs durchquerend) Hoyerswerda. Die Züge der sechs Linien, von denen die S 5 durch als S 5X bezeichnete Expresszüge ergänzt wird und die S 7 nur in Halle (Saale) fährt, verkehren meist im Stunden- oder Halbstundentakt.

Die DB AG, deren Tochter DB Regio Südost 2010 den Zuschlag für dieses Netz erhalten hat, gibt an, dass sich durch den Citytunnel die Reisezeit auf der S 2 Bitterfeld — Delitzsch — Connewitz — Markkleeberg-Gaschwitz um fünfzehn, auf der S 3 Halle (Saale) Hbf—Stötteritz um zehn Minuten verkürzt. Auf manchen Relationen errechnet die Bahn allerdings auch eine Zeitersparnis von bis zu rund vierzig Minuten. Nicht erwähnt wird die deutliche Fahrtzeitverlängerung auf der Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Osten, Richtung Wurzen, auf der die Züge der neuen S 1 einen erheblichen Umweg über Leipzigs Südosten und durch den Tunnel machen. Die Bahn soll sich diesen Kunstgriff ausbedungen haben, weil sie andernfalls um eine nicht hinreichende Auslastung der neuen Strecken fürchtete.

Auch mag man darüber streiten, wie groß der Nutzen des Tunnels, dessen Bau von umfangreichen Ergänzungen, Umbauten und Modernisierungen im Schienennetz flankiert wurde (die Länge des Gesamtprojekts wird mit 5,3 Kilometern angegeben), für die Erschließung des Leipziger Stadtkerns ist: Vier unterirdische Stationen besitzt die neue Strecke. Hauptbahnhof und Bayerischer Bahnhof hatten natürlich schon zuvor Anbindung an die große Bahn und, ebenso wie die neue Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz, an die Tram. Da letztere die Altstadt nur auf dem (Straßen-)Ring umkreist und es innerhalb dieses auch kaum Busverkehr gibt, wird lediglich durch die Tunnelstation Markt bisher kaum mit ÖPNV versorgtes Gebiet neu erschlossen.

Kosten: rund eine Milliarde

Kosten lassen hat man sich das in Leipzig auch den endgültigen Verlust zweier Rekorde: Der Leipziger Hauptbahnhof hat jetzt keine Aussicht mehr auf den Titel „größter Kopfbahnhof Deutschlands“ – nur noch siebzehn Bahnsteiggleise stehen oberirdisch dem regulären Verkehr zur Verfügung. Das westlichste der sechs großen Schiffe überragt nun nur eine gepflasterte Fläche, unter der sich die unterirdische Bahnsteighalle befindet, zu der zwei „Atrium“ genannte Löcher die Verbindung herstellen.

Bloß noch zwei Gleise, und die eben im Tunnel, besitzt jetzt der 1842 eröffnete Bayerische Bahnhof am Südrand des Stadtzentrums. Das Portal der bis zur oberirdischen Stilllegung 2001 als ältester noch betriebener Kopfbahnhof der Welt gehandelten Station, durch das noch in den 1990er Jahren nicht nur Gleise, sondern auch Fahrdrähte führten, ist Denkmal seiner selbst geworden. Seine weitere Funktion ist allenfalls noch jene, als Kulisse für den Nordzugang zur unterirdischen Halle zu dienen. Ebenfalls restauriert wurde der nicht im Zweiten Weltkrieg zerstörte, nun gastronomisch genutzte Westflügel des Bahnhofs. Anstelle des Gleisfelds erstreckt sich eine Grünanlage, noch ist die Gestaltung der Außenanlagen aber nicht abgeschlossen.

Im Hinblick auf andere Tunnelprojekte – allen voran eben jenem in Stuttgart – wichtiger sind natürlich die materiellen Kosten: „Völlig überraschend“ dauerte die Realisierung des Leipziger Projekts länger als anfangs verkündet: Bei Baubeginn 2005 war eine Fertigstellung im Jahre 2009 vorgesehen. „Völlig überraschend“ explodierte auch der notwendige finanzielle Aufwand: von rund 571 Millionen Euro 2003 auf am Ende laut offizieller Berechnung 960 Millionen Euro. Davon entfallen auf den Freistaat 495,6 Millionen, auf EU-Fördermittel 224,8 Millionen, den Bund 210 Millionen, die DB AG 17,9 Millionen, die Stadt Leipzig 7,2 Millionen und auf den Zweckverband Nahverkehrsraum Leipzig 4,2 Millionen Euro.

Hinabschreiten in einem monumentalen Raum

Was in so langer Zeit für so viel Geld entstanden ist, kann sich aber immerhin in architektonischer Hinsicht sehen lassen: Während die Strecken zwischen den Stationen im Schildvortrieb erstellt wurden (zwei Röhren von je 1438 Metern Länge), entstanden letztere in offener Bauweise. Wie beim Berliner Hauptbahnhof, dem Regionalbahnhof Potsdamer Platz oder auch bei jüngeren U-Bahnhöfen in Hamburg (vgl. SIGNAL 2/2013 ) und München, nutzte man vor allem bei den Haltestellen Markt und Wilhelm-Leuschner-Platz die tiefe Lage der Gleise unter der Oberfläche (rund 17 bis 22 Meter), um hohe Bahnsteighallen zu schaffen. Die – verglichen mit den meisten anderen unterirdischen Stationen nicht nur in Deutschland – ungewöhnlich große vertikale Ausdehnung der Räume verleiht diesen etwas Monumentales.

Dabei braucht kein Nachteil zu sein, dass die Treppenanlagen – schon um die Wege von und zu ihnen unabhängig von der Wahl der Wagentür nicht allzu lang werden zu lassen – sich nicht an den Enden der rund 140 Meter langen Bahnsteige befinden. Indem die Treppen relativ weit in die hohen Hallen hineinragen, kann der Fahrgast bereits mitten in diesen großen Räumen auf den Bahnsteig hinabschreiten bzw. -fahren.

Während am Bayerischen Bahnhof buntes, unregelmäßig angeordnetes Gestänge in den Tageslichtschächten der Zugänge den Eindruck der Offenheit und Weite etwas stört und am Markt schlanke Metallstelen, in die Leuchten und Lautsprecher eingebaut sind, auch bemerkenswert dicht an den Bahnsteigkanten stehen, ist die Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz frei von solchen optischen Beeinträchtigungen. Hier wurde ein faszinierender Raum geschaffen mithilfe von rund 130 000, jeweils zu quadratischen Feldern zusammengefassten Glasbausteinen, welche mit siebenhundert Lampen hinterleuchtet werden und nicht nur die Hintergleisflächen, sondern auch die Decke vollständig verkleiden.

Wie für dieses spektakuläre Ergebnis, so wurde auch bei den drei anderen Leipziger Tunnelstationen mit ganz einfachen Materialien und einer schnörkellosen, manchmal fast etwas roh anmutenden Gestaltungsweise gearbeitet: Zur Wirkung gebracht wurden am Hauptbahnhof Naturstein, Stahl, Aluminium und Glas, am Markt Terrakottaplatten und Keramikstäbe, am Bayerischen Bahnhof Sichtbeton und große, horizontal angeordnete Aluplatten, zwischen denen auf Augenhöhe über die volle Hallenlänge hinweg ein „interaktives Farblichtband“ verläuft, das wechselnde Farben zeigen soll. In den Zugangsbereichen kam Sichtbeton zur Anwendung, ebenso wie am Wilhelm-Leuschner-Platz, wo auch Sitzbänke in eine Wand aus diesem Material eingefügt wurden. Spötter könnten sagen: da es weithin sowieso als unansehnlich empfunden wird, kann ihm Vandalismus nicht mehr viel schaden.

Frei gestaltet, hoffentlich zeitlos

Im Leipziger Citytunnel findet man nichts mehr von jener Doktrin, derzufolge die Auskleidung einer unterirdischen Bahnsteighalle auf deren Lage oder Namen hinweisen sollte, was dann an der Pleiße bedeutet hätte: Dampflokbilder und historische Stationsansichten am Haupt- und am Bayerischen Bahnhof, Rathausphotos, Markt- und Messeszenen am Markt (wo für den Halt die Untergrundmessehalle von 1924/25 verschwand, deren mit Rochlitzer Porphyr verkleideter, frisch restaurierter Art-deco-Eingang nun dem Bahnhof dient), und am Wilhelm-Leuschner-Platz etwas zum Leben und Wirken des von den Nazis ermordeten Gewerkschafters, SPD-Politikers und Widerstandskämpfers.

Stattdessen durften die 1997 in einem Wettbewerb ausgewählten prominenten Büros HPP Hentrich-Petschnigg & Partner (Hauptbahnhof), Kellner-Schleich-Wunderling Architekten + Stadtplaner (Markt), Max Dudler (Wilhelm-Leuschner-Platz) und Peter Kulka Architektur (Bayerischer Bahnhof) die Hallen frei von solchen Bezügen gestalten, ganz als autonome architektonische Räume und in einer hoffentlich möglichst zeitlosen Form.

Wie es in der Architektur von Tunnelstationen mittlerweile üblich ist, sind die Anlagen weitgehend frei von Reklame, ist die Möblierung der Perronhallen auf das Notwendigste reduziert. Bedauerlicherweise gehört dazu nach Ansicht der Bahn (wieder einmal) auch, auf Stationsschilder hinter den Gleisen zu verzichten – bei lediglich zweigleisigen Hallen, wo die gegenüberliegende Wand vom Zug aus noch gut erkennbar ist, nicht ganz einsichtig. Abzuwarten bleibt schließlich, wie lange die Bahn und ihre Kunden ihre Freude haben werden an den Bahnsteigbelägen, die – wie ebenfalls mittlerweile üblich – sehr hell sind und daher Schmutz und Abnutzung besonders gut erkennen lassen.

Weitere Infos: www.citytunnelleipzig.de

Jan Gympel

aus SIGNAL 3/2014 (Juni/Juli 2014), Seite 21-24