Aktuell
Liebhaber robuster Technik aus vergangenen Zeiten kommen bei Benutzung der Berliner S-Bahn voll auf ihre Kosten. In größerer Anzahl sind noch Züge aus den Jahren 1927 bis 1943 im Einsatz. Einige ihrer Charakteristika werden inzwischen bewußt und unbewußt als unverzichtbarer Teil Berliner Stadtkultur wargenommen (die „rot/gelben Züge“, die markanten Schalt- und Getriebegeräusche, das Zischen der ausgelösten Druckluftbremse...). Dessen ungeachtet: der Einsatz dieser Züge im täglichen Betrieb verlangt einen immensen Aufwand, Neuteile gibt es längst nicht mehr bzw. nur für teures Geld.
1. Mai 1996
Schon seit den fünfziger Jahren ist der Ersatz dieser Einheiten ein immer wiederkehrendes Thema. Anfänge dazu wurden auf beiden Seiten der Mauer gemacht mit den Baureihen 480 und 485/885. Die Maueröffnung war Anlaß zu Überlegungen für eine nochmalige Neukonzeption unter Einbeziehung von Erkenntnissen aus dem Betrieb beider Baureihen. Dies mündete nun in die am 22. Februar 1996 präsentierte Baureihe 481/482. Der sich in einer schnellebigen Zeit an Vertrautes klammernden Nutzerschar (siehe Diskussion um „rot/gelb“) wird nach dem unkonventionellen Anblick des 480ers erneut ein mit Gewohnheiten brechendes Bild geboten.
Gleich zu Beginn eine Gemeinheit: manche Leser werden mit Sicherheit auf einen Seitenhieb gegen die neue Farbaufteilung warten. Lassen wir das. Wenn die einstige Triebwagenlackierung der Deutschen Reichsbahngesellschaft in rot/gelb heute zur traditionellen S-Bahn-Farbe hochstilisiert wird und somit als identitätsstiftendes Moment in der ansonsten zerstrittenen Metropole wirkt - nun, es soll so sein. Eine Anpassung an das Design einer neuen Fahrzeuggeneration sollte aber versucht werden und nicht von vornherein billiger Polemik im Stil der Zeitungen mit den großen Bildern anheimfallen. Nochmal hinsehen und wirken lassen.
Für uns als Fahrgäste sind andere Qualitäten wichtiger: Zustieg, Sitzplätze, Temperaturverhältnisse im Wageninnern, Mitnahmemöglichkeiten für Gepäck, Kinderwagen und Fahrräder, Informationssysteme, um nur einige Punkte zu nennen. Was wird im Einzelnen geboten?
Über die Zahl der Türen und den Grundriß der neuen Züge kann man lange und ausführlich debattieren - was sinnvoll ist und was nicht, zeigt die Praxis. Leider ist das Sitzplatzangebot des Zuges gegenüber älteren Bauarten durch den veränderten Grundriß gesunken. Erfreulich ist die gestiegene Zahl der Fahrradstellplätze. Zwangsläufig auf Kosten der Sitzplätze. Zu alldem muß bemerkt werden: mit der Bauart „Stadtbahn“ war 1927 hinsichtlich des simpel wie genial gestalteten Fahrzeuggrundrisses ein derart großer Wurf geglückt, daß es schon an Wunder grenzt, etwas Besseres bauen zu wollen. Schnellverkehr mit kurzen Stationsaufenthalten setzt nun einmal Maßstäbe, die sich nicht endlos mit Komfortansprüchen verbinden lassen. Man sollte über die Zahl der Türen noch einmal nachdenken. Das Mißverhältnis zwischen dem zeitweisen Überangebot an Fahrradstellplätzen und dem damit geringeren Sitzplatzangebot ist auch deshalb unverständlich, weil schnell ein- und ausbaubare Sitze geplant sind, mit denen auf Nachfrageschwankungen zum Wochenende reagiert werden kann.
Überarbeitet werden sollte die Gestaltung der Sitze in Hinblick auf mögliche „Dreckecken“. Wie in den Altbauzügen kann auch hier der kleine Müll des Alltags (Bananenschalen, Pommestüten ...) in die einladenden Ritzen zwischen Sitz und Seitenwand versenkt werden. Davon wird im allgemeinen rege Gebrauch gemacht, die Reinigung ist schwierig bis unmöglich. Ein gewisses Mindestmaß an Hygiene sollte aber schon gewahrt bleiben. Sinnvoll wären Sitze, die bündig mit der Seitenwand abschließen. Geprüft werden muß auch der Sinn einer Klimatisierung des Fahrgastraumes. Der Energieaufwand steigt immens. Und funktioniert die Anlage auch noch, wenn am Bahnhof Ostkreuz oder Zoo alle Türen offen sind und sich der Fahrgastwechsel in die Länge zieht? Genügen nicht simple Klappfenster für die Hitze im Sommer, eventuell kombiniert mit einer Druckbelüftung über das Dach? Und noch eine Frage: Was ist, wenn im Sommer die Klimaanlage ausfällt? Scheibe einschlagen?
Die Bewährung der 1. Klasse muß wohlwollend abgewartet werden. Prinzipiell ist es zu begrüßen, wenn Angebotsstrukturen geschaffen werden, die für anspruchsvollere Kunden - welche bereit sind, auch mehr zu zahlen - eine Qualität vermitteln, die sie zum Umsteigen veranlaßt. Allerdings muß kritisch beobachtet werden, ob es gerade in Spitzenlastzeiten praktikabel ist, extra Abteile vorzuhalten, die für einen kleinen Kreis etwas mehr zahlender Fahrgäste reserviert bleiben, während es in den übrigen Abteilen vor lauter Gedränge nicht möglich ist, eine Zeitung zu lesen oder die Nase zu putzen. Die Klasseneinteilung in S- und U-Bahn hatte man nicht ohne Grund abgeschafft. Sinnvollerweise sind die Probezüge so konstruiert, daß mit geringem Aufwand wieder rein „zweitklassige“ Züge hergerichtet werden können, auch die Sitzanordnung insgesamt kann geändert werden. Vielleicht bietet man zu normalen Preisen lieber einen komplett „erstklassigen“ Zug? Die in den Einstiegsbereich öffnende Abteiltür muß als unglücklich bezeichnet werden, weil konfliktstiftend. Eine Schiebetür wäre sinnvoller.
Sie sind in Mode gekommen: „sphärisch gekrümmte“ Stirnscheiben - originell und teuer. Einen tatsächlichen Sinn ergeben sie nur als gestalterisches Element. Im Hochgeschwindigkeitsbereich macht so etwas zur Verbesserung der Aerodynamik Sinn; bei den maximal 100 km/h im Nahverkehr weniger, mit der überstehenden Frontmaske gar nicht. Dafür entwickeln sich solcherart verschönerte Fahrerstände zu wahren Brutkästen, so daß wiederum eine kosten- und energieintensive Klimatisierung notwendig wird.
Es ist schon Usus, alle mit Leistungselektronik und Prozessorsteuerung bestückten Nahverkehrsfahrzeuge als besonders energiesparend zu bezeichnen. Alles eine Frage der Sichtweise! Der Viertelzug 481/482 weist sechs angetriebene und zwei nicht angetriebene Radsätze auf. Damit hat diese Einheit eine Motorleistung von 600 kW. Dagegen weist die all-achsgetriebene Baureihe 480 je Viertelzug 720 kW auf. Hier gibt es also tatsächlich eine Einsparung. Dann gibt es aber noch den bis 1992 in Hennigsdorf gebauten 485/885! Bei vier angetriebenen Radsätzen je Viertelzug begnügt er sich mit 500 kW.
Die konsequente Anwendung von elektronischen Schaltelementen bewirkt durchaus eine verringerte Leistungsaufnahme und minimiert vor allem Wärmeverluste. Die hohen Anfahrbeschleunigungen und dazu gewisse Leistungsreserven haben aber nun einmal ihren Preis in Form eines höheren Stromverbrauchs - und zu dem sollte man dann auch stehen. Wenn in verschiedenen Meldungen - selbst in der Fachpresse - treu und brav die Pauschalfeststellung verbreitet wird, der Stromverbrauch sinke um ein Drittel, kann dies als unseriös abgehakt werden. Es fehlt sowohl die Bezugsgröße für diese Feststellung (offenbar die Baureihe 480 mit ihrem maximalem Fahrprogramm) als auch ein Vergleich der einzelnen bisher eingesetzten Baureihen.
Bei praktischer Bewährung des neuen Zuges sollten auf jeden Fall die erst in den Jahren von 1990 bis 1994 beschafften Neubauzüge der Baureihen 480 und 485/885 weitestgehend angepaßt werden: Anordnung der Fahrradstellplätze, Türbetätigung, Fahrgastinformation.
Der außenstehende Betrachter wird sich zunächst etwas wundern, daß vor Beginn der Serienlieferung bis 1997 nur Probeeinsätze erfolgen. Angesichts der neuerdings herrschenden Unsitte, Fahrzeuge „vom Reißbrett“ weg zu verkaufen und dann durch unvorhersehbare Probleme den täglichen Betrieb zu gefährden, muß diese vorsichtige Herangehensweise unbedingt begrüßt werden. Erwarten wir also die ersten Einsätze der „Neuen“ im Fahrgastbetrieb. Vieles, was sich bei der Präsentation des Zuges und in den Hochglanzprospekten natürlich nicht offenbaren konnte, wird noch zutage treten.
Die Berliner Fahrgäste sollten den 481er gründlich unter die Lupe nehmen und mit ihrem Testurteil gegenüber der S-Bahn GmbH oder natürlich auch ihrem Fahrgastverband nicht geizen. Nichts ist so gut, daß es nicht noch besser werden könnte.
IGEB
aus SIGNAL 3-04/1996 (Mai 1996), Seite 4-6