Nahverkehr
Zur Ästhetik der Reko-Wagen
1. Mai 1996
In ästhetischer Hinsicht geht mit der Ausmusterung der Reko-Wagen in Berlin eine Epoche zu Ende, die nicht weniger als 130 Jahre dauerte. Denn im Grundmuster wie in diversen Einzelheiten entsprach die Gestaltung dieser Fahrzeuge jener, die seit der Eröffnung der allerersten deutschen „Pferdeeisenbahn” im Berlin des Jahres 1865 verbindlich geblieben war. Wie in den meisten anderen Orten hatte man auch in beiden Teilen der deutschen Hauptstadt eigentlich schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von dieser Formgebung Abschied genommen: Auch in Berlin wurden - wenn auch nur wenige - überlange, sich an den Enden deutlich verjüngende Großraumwagen beschafft, die vor allem dann äußerst elegant aussahen, wenn sie auf ihren Drehgestellen durch den Kurven glitten. Von derlei Schick und Stromlinienästhetik fand sich bei den kurzen Reko-Wagen nicht viel. In Richtung Bug und Heck wurden die Fahrzeugkörper nur ein wenig schmaler, und statt der ursprünglichen Zierleisten unter den Fenstern liefen schließlich um die Fahrzeug-Außenwände nur schwarze Streifen herum. Weitere Erinnerungen an den Geschmack der fünfziger Jahre waren die dynamisch in die Wagenmitte strebenden und sich nach unten hin verjüngenden Befestigungen der Haltestangen.
Doch im großen und ganzen waren die Rekos schon zur Zeit ihrer Entstehung veraltet, und zwar mehr noch als die in vielen Details wesentlich feiner gestalteten Gotha-Wagen, die ihnen als Vorbild gedient hatten. Von außen erinnerten neben dem Zierstreifen der Soloscheinwerfer, der Scherenstromabnehmer in seiner Frühform und der als Bekrönung der Wagenfront aufgesetzte Kasten für das Liniennummernschild an vergangene Zeiten. Noch nostalgischer stimmte der Blick ins Fahrzeuginnere: Kein einheitlicher Großraum, sondern die seit den Anfängen der Straßenbahn übliche und dereinst von der „großen” Eisenbahn übernommene Unterteilung in Plattformen an den Wagenenden und dazwischenliegendem Fahrgastraum, wenngleich dessen Abtrennung nur noch durch holzverkleidete Wandzungen angedeutet wurde. In ihrer oberen Hälfte wurden diese von Glasscheiben unterbrochen, die drei zarte Zierleisten ohne Berührung umfaßten. Wirkt das Innere heutiger Nahverkehrsfahrzeuge oft wie eine Leistungsschau der versammelten Kunststoffindustrie, so fand sich in den Reko-Wagen noch beachtlich viel Holz, nicht nur als Verkleidung, sondern auch in Form der Haltestangen an den Türen oder im eigentlichen Fahrgastraum. Zusammen mit den dicken dunkelgrünen Kunstlederpolstersitzen verlieh dies dem Inneren eine anheimelnde Atmosphäre, erst recht am Abend; denn hinter der milchglasigen Lampenreihe, die auf abermals hölzernen Fassungen ruhte und wie die Fenster von blanken Metalleisten gerahmt wurde, verbargen sich keine Leuchtstoffröhren, sondern simple Glühbirnen.
Nicht die Antisepsis von Arztwartezimmern, sondern die Behaglichkeit eines Durchschnittswohnzimmers war das gestalterische Leitbild dieses Ambientes; seine nostalgische Wirkung bezog es nicht zuletzt auch daraus, daß es massenhaft Dinge bot, die sich leicht aufschlitzen, beschmieren, abbrechen, zerschlagen und sonstwie demolieren ließen. Es wurde damit zu einem Boten der spätestens in den sechziger Jahren untergegangenen bürgerlichen Gesellschaft, die sich auf Grund des gesitteten Verhaltens ihrer Mitglieder so wenig schmutzabweisend und vandalismusresistent gestaltete Nahverkehrsfahrzeuge noch leisten konnte.
Freilich entsprach auch der Fahrkomfort längst vergangenen Zeiten. Statt elektrischer oder gar elektronischer Finessen boten die Reko-Züge noch Mechanik pur. Scheinbar übertrug sich jede Unebenheit im Gleiskörper, der kleinste Stein in den Rillenschienen, direkt auf die Passagiere. Durch - nicht nur besonders enge, sondern nahezu alle - Kurven fuhren die recht gemächlich dahinrumpelnden Wagen weniger, als daß sie ruckweise gestoßen wurden, dabei heftig scheppernd und jede einzelne Schraube einer Belastungsprobe unterziehend; das intensive Dröhnen der Motoren war markerschütternd, ihre Geräuschentwicklung - die von Heulen über Pochen und Rattern bis hin zu tiefem Brummen reichte - ohrenbetäubend. Empfahl es sich schon während der Fahrt, sich in den Wagen, die sich relativ stark aufschaukelten, auch im Sitzen festzuhalten, so war dies beim Stopp dringend geboten, erfolgte er doch mit einem energischen Ruck. Nach vollzogenem Fahrgastwechsel rasselten - welch fast vergessener Laut in Zeiten allgegenwärtigen elektronischen Gefiepses - die Klingeln und die von Hand mit einiger Anstrengung geöffneten Schiebetüren schlossen sich wieder, nicht immer gleichzeitig, doch stets mit jenem lauten Schnarren, das für die Rekos ebenfalls charakteristisch war. Ein besonderes Schauspiel boten die Züge schließlich noch in den Wendeschleifen, die sie mit lautem Quietschen in alle paar Meter wechselnden Tonlagen durchfuhren, scheinbar ein bizarres Stück moderner E- Musik aufführend.
Mit all diesen Eigenschaften waren die Reko-Züge den Fahrgästen wie den Anwohnern der Strecken längst nicht mehr zuzumuten. Doch wirken heutige Fahrzeuge des öffentlichen Personenverkehrs in ihrem Inneren oft steril, erscheinen sie mit ihrer umfangreichen und hochkomplizierten Technik sowie ihrer fast lautlosen Bewegung als abstrakte Gebilde, so waren die Reko-Wagen noch überaus sinnliche Produkte: Rustikal und rabiat, rumpelnd und rasselnd schienen sie, ähnlich den Veteranen der Berliner S-Bahn, lebendig und zwischen Karosserie und Innenraumverkleidung keine Geheimnisse zu verbergen.
Aus: Rekowagen. Die etwas härtere Art Straßenbahn zu fahren. Berlin 1995
Jan Gympel
aus SIGNAL 3-04/1996 (Mai 1996), Seite 14