Nahverkehr

Weniger ist viel mehr


Jan Gympel

1. Nov 1996

Liebe BVG!

Daß wir in einer Zeit des Umbruchs leben, in der nur wenig bleiben kann wie es war, ist längst ein Gemeinplatz. Endlich hast nun auch Du mutig daraus die Konsequenzen gezogen: Zwei Jahrzehnte lang hast Du Abertausende dafür aufgewandt, Deinen Zugabfertigern einen behaglichen Arbeitsplatz zu schaffen: Hinfort mit den alten Bahnsteighäuschen, auf Denkmalschutz und den Gesamteindruck der Bahnhöfe gepfiffen - ein jeder “Zurückbleiben“-Rufer bekam hinter vollverglasten Kanzeln ausreichend Raum zum Kaffeekochen, zum Verstecken vor den lästigen Fahrgästen und zum Weggucken, wenn auf dem Bahnsteig mal jemand drangsaliert wurde.

Nun aber, liebe BVG, hast Du damit Schluß macht und Deine Leute wieder in die harte Welt Deiner U-Bahnhöfe zurückgescheucht. Dank “Zugfahrerselbstabfertigung” sind aus Deinen Abfertigern “Bahnhofsmanager“ geworden, die in "Mobilen Serviceteams“ arbeiten und dabei durch eine Leitstelle und “Helppoints“ unterstützt werden - beschönigende Blabla-Begriffe, gegen die die berühmte "Freisetzung von Arbeitskräften" oder die zur “Tarifanpassung“ umgelogene Preiserhöhung jämmerlich verblassen. Und was Du uns alles dafür, daß Deine Bahnhöfe jetzt zu Big Brother-mäßig vollkameraüberwachten Geisterstationen werden, versprichst: Für die 29 Stationen der U6 sollen beispielsweise fünf “mobile Teams“ à zwei Personen zuständig sein. Donnerwetter! Da entfallen ja auf jedes Pärchen genau 5,8 Bahnhöfe! Was für eine Serviceverbesserung gegenüber ein bis zwei Personen pro Station! Und wenn man dann noch bedenkt, daß diese “Teams“ zwischen ihren Bahnhöfen dauernd hin- und herfahren sollen und Du den Takt auf derlei selbst im Berufsverkehr gerade auf fünf Minuten ausgedünnt hast... Da wird jetzt aber das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste steigen! Und der Vandalismus zurückgehen! Da kannst Du ja noch viel mehr Geld sparen!

Denn gescheit wie Du bist, liebe BVG, hast Du sicherauch schon ein Konzept ausgeklügelt wie Deine neuen "Manager" ihre Arbeitszeit auf die einzelnen Bahnhöfe verteilen: Bestimmt tauchen sie häufig schon nach zwei Minuten wieder auf. Oder tun gelegentlich so, als ob sie weggingen und verstecken sich in Wahrheit nur in irgendwelchen Nebenräumen. Ansonsten könnte sich ja jeder Bösewicht ausrechnen: Sind die Typen erstmal weg, kommen sie so bald nicht wieder, und könnte dann hemmungslos andere Fahrgäste angreifen oder Deine schönen Stationen zuschmieren, die Du bislang so blitzsauber und graffitifrei hälst.

Natürlich gibt es da auch noch die dufte “Leitstelle“ am Bahnhof Osloer Straße, die gleich 29 Bahnhöfe auf einmal (und demnächst auch noch die 17 Stationen der U9) übenwacht und diese damit viel besser im Blick und Griff hat als früher die ollen Zugabfertiger vor Ort. Kaum hat man da per Kamera einen Schmierfinken, sagen wir mal an der Afrikanischen Straße, entdeckt, werder auch schon die "Manager' in Gang gesetzt, die sich vielleicht gerade Reinickendorfer Straße befinden (alternativ könnte man auch die Polizei rufen, die bei manchem Notruf schon nach einer halben Stunde zur Stelle ist). Wenn man in der Leitstelle nicht gerade mit einem der Mißbräuche von Informations- oder gar Notrufknopf auf Deinen "Helppoint“-Säulen beschäftigt ist - das geschah nach Deinen eigenen Angaben aber auch nur 34.000 bzw. 15.000 Mal im ersten Halbjahr '96, bei zwanzig Betriebsstunden täglich also im Schnitt etwa alle zehn bzw. alle fünfzehn Minuten.
Das ist wahre Effizienz.

Jan Gympel

aus SIGNAL 8/1996 (November 1996), Seite 18-19