Nahverkehr
Schon seit der Nachkriegszeit nimmt das Münchener Verkehrswesen in der Bundesrepublik eine Sonderrolle ein. Einst best ausgebautester Straßenbahnbetrieb, sollte dieser nur wenige Jahre später vollständig(!) durch die U-Bahn ersetzt werden, so daß auch ein entsprechendes Engagement an den Tag gelegt wurde. Erst Anfang der neunziger Jahre hat schließlich der Stadtrat nach langer und mühseliger Diskussion erkannt, daß auch die Straßenbahn ein fester Bestandteil des ÖV sein muß und endlich den Weg für den Ausbau und die Modernisierung der Tram bereitet. Mittlerweile wird München sogar vom Bundesverkehrsminister (CDU) für diesen vorbildlichen Ausbau gelobt - und schon beginnt eine neue Diskussion, mit Mer die einstimmig beschlossene “ÖV-Planung” gänzlich in Trage gestellt werden soll. Der Anlaß: die schon 1927 geplante Tram durch den Englischen Garten. Hier soll ein Park auf einigen hundert Metern Länge durchquert werden, so daß Parallelen zur Verlängerung der Berliner Linie 23 durch den Görlitzer Park bestehen und die Diskussion auch für Berlin sehr interessant sein dürfte.
1. Dez 1996
1991 wurde in München die “Integrierte ÖPNV-Planung” beschlossen, mit der in der bayerischen Landeshauptstadt endlich der Streit “Straßenbahn oder U-Bahn” beigelegt wurde und ein sinnvolles Nebeneinander aller existierenden Verkehrsmittel vorgeschlagen wurde. Die Straßenbahn sollte neben der radialen Netzergänzung und Zubringerdiensten zur U-Bahn wieder die Funktion der Tangentialverbindungen zugewiesen bekommen. Schließlich wurden dann auch 70 neue Niederflurwagen bestellt (gleicher Typ wie in Berlin), die seit 1994 ausgeliefert werden. Doch zunächst einmal wurden erst noch über 20 km Straßenbahn eingestellt und z. B. der gesamte Südwesten trambahnfrei gemacht. Die Planungen für die vorgesehenen 21 km langen Neubaustrecken begannen sehr zögerlich, bis mit der Berufung eines neuen Werkleiters sowie dem Amtsantritt des sehr engagierten Oberbürgermeisters endlich Dynamik in den Ausbau kam. Aber schon alleine die Beschleunigung der Linie 20 rief bei der CSU, der Autofahrerlobby und sogar einigen “Straßenbahnfreunden” starke Proteste wegen der angeblichen “Verkehrsschikanen” für den Autofahrer herbei - ein Thema, das in München stärker als in jeder anderen Stadt emotional und hysterisch angegangen wird. Nach der - relativ unproblematischen - Wiederinbetriebnahme der Linie 17 vom Hauptbahnhof zum Romanplatz im Juni 1996 ist nunmehr als erste Tangente die “Osttangente”, d. h. ein trassenidentischer Wiederaufbau der alten Linie 12 im Abschnitt Ostfriedhof-Wörthstraße, an der Reihe. Nach dem Planfeststellungsbeschluß vom 30.09.1996 begannen nun die vorbereitenden Bauarbeiten; eine Eröffnung ist für Oktober 1997 vorgesehen. Nachdem die wenigen Bedenken der (sehr urban gesinnten) Bevölkerung ausgeräumt werden konnten, behindert verwaltungsintern das für den Straßenverkehr zuständige Kreisverwaltungsreferat mit dem einzigen CSU-Referenten massiv den vorgesehenen Bauablauf der Stadtwerke.
Als nächste Strecke ist die sog. “Nordtangente” vorgesehen, und hier beginnt die aktuelle Diskussion. Diese Strecke soll den Elisabethplatz mit der Tivolistraße verbinden und damit eine Direktverbindung Neuhausen-Schwabing-Bogenhausen schaffen und täglich bis zu 17 000 Fahrgäste befördern. Mit 7 neuen Kursen bei der Tram können somit 16 Busse auf den Linien 33, 54 und 154 eingespart werden, die infolge der unattraktiven Linienführung derzeit nur etwa 8000 Fahrgäste am Tag befördern. Da auf diese Weise sogar noch täglich 1000 Autofahrten eingespart werden können, erreicht diese Strecke in der Standardisierten Bewertung den sehr hohen Nutzen-Kosten-Faktor von 2,2 und weist sogar einen betriebswirtschaftlichen Nutzen in Höhe von 1,6 Mio. DM/Jahr auf - im Vergleich zu allen geplanten oder diskutierten U-Bahn-Strecken traumhafte Ergebnisse. So verursacht die in Bau befindliche U2 nach Riem jährlich über 20 Mio DM Betriebskostenunterdeckung.
Ergänzend ist noch zu erwähnen, daß schon 1927 eine Straßenbahn durch den Englischen Garten geplant war, die aber dann nicht verwirklicht wurde. Die Ausgangssituation gestaltete sich ähnlich: mit der neuen Linie 22 (damals schon!) sollte eine Ringlinie, deren erste Hälfte zwischen Sendling und Schwabing in den Jahren zuvor eröffnet wurde, entstehen. Die geplante Verlängerung zum Herkomerplatz und weiter in den Osten hätte dabei den Englischen Garten durchquert, allerdings auf einer anderen und längeren Trasse als in der heutigen Planung. Aufgrund von Protestes aus vornehmen Schwabinger “Künstlet kreisen”, die u. a. auch eine Streitschrift gegen diese Tram herausbrachten, wurde die Strecke nicht gebaut und stattdessen eine Bustrasse durch den Park gelegt, die dann von der Autobuslinie A22, später 54, befahren wurde.
Dieser Park wurde ab 1789 vom damaligen Herzog Karl Theodor als Militärgarten angelegt, entwickelte sich aber aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Hofgarten zu einem stark besuchten Ausflugsgebiet der Münchner. Die Planung erfolgte durch den Gartenbaukünstler Ludwig von Sckell, der den Park als “Englischen Garten” entwickelte und mit den Gartenanlagen von Lenne vergleichbar ist. Neben der hohen Bedeutung in der Gartenbaukunst stellt der Englische Garten - im Verbund mit den Isarauen und der ansschließenden Hirschau - eine durchgehende Freifläche vom Stadtzentrum bis an den Stadtrand dar und ist daher ökologisch besonders wertvoll. Aufgrund der zahlreichen Erholungsmöglichkeiten und der Biergärten besitzt dieser Park auch emotional einen hohen Stellenwert.
Die derzeitige Diskussion erinnert daher sehr stark an die vor 70 Jahren, es gibt allerdings einen großen Unterschied, der selbst von der stark polemisierenden “Abendzeitung” nicht erkannt wurde: im Gegensatz zu 1927 soll keine neue Trasse durch den Englischen Garten geschlagen werden, sondern nur eine bestehende umgenutzt werden - ohne jegliche Eingriffe in den Park. Dessen ungeachtet titulierte eben erwähnte Boulevardzeitung - alle anderen halten sich bislang weitgehend aus der Diskussion heraus - ausgerechnet an einem Wies'n-Samstag, also einem Tag mit der höchsten Auflage, ihr Blatt mit der Schlagzeile “Der Millionen-Schmarrn: Tram durch den Englischen Garten”. Im Innenteil waren farbige Fotos von malerischen Postkutschen sowie eine Fotomontage von 1927, mit der die Künstler gegen die alte Trasse argumentierten, plaziert. Dazu wurde noch eine bekannte Fernsehdame (Welches Schweinderl hätten 's denn gern?) sowie der ehemalige Park-Verwalter zitiert mit dem Tenor, für viel Geld würde das einmalige Naturdenkmal vollkommen zerstört, obwohl keiner die Tram bräuchte. Die “Argumentation beruht auf zahlreichen Tatsachenfälschungen sowie falschen Spekulationen eines Reporters, der sich als „Alt- Linker” und “68er” bezeichnet und in seiner falsch verstandenen Mission den Oberbürgermeister vor “einem großen Fehler” bewahren will, in Wirklichkeit aber nur um seinen Parkplatz fürchtet. Doch bezog sich der Protest nur gegen die geplante Führung im Englischen Garten selbst, nicht jedoch gegen das Projekt als ganzes. Allerdings wurde in der Folge die Argumentation immer fragwürdiger; der einzig tatsächlich diskussionswürdige Punkt, nämlich die Gestaltung der angeblich so zerstörenden Fahrleitung, wurde mit der Forderung nach O-Bussen, die ja eine doppelte Fahrleitung benötigen, vollends ad absurdum geführt. Aufgrund der sonst willkommen widerlegbaren Argumentation stürzten sich die Gegner in der zweiten Stufe auf die gesamte Neubaustrecke mit ihrer Durchquerung von Schwabing und, damit verbunden, auf das verkehrspolitische Lieblingsthema in München schlechthin: dem Stau. Paradoxerweise leisten hier “Alt-Linke” mit ihren Horrorszenarien “mehrfacher Staustufen” - als ob ein Schiffahrtskanal quer durch Schwabing gelegt werden würde - ihren politischen Gegnern, der “Rechtsaußen-CSU” mit ihrem Dauerbrenner der “rot-grünen-Verkehrsschikanen” (alle Zitate entstammen einer Diskussionsveranstaltung!) perfekte Hilfestellung, so daß diese Partei, die noch kurz vorher im Stadtrat die Notwendigkeit der Strecke betont hat, diese Negativstimmung begeistert aufgenommen hat. So tönt es vereint von links und rechts, daß Schwabing “den größten Stau aller Zeiten erleben” wird und die Strecke zudem “maßlose Verschwendung von Steuergeldern” sei. Aus den gleichen Kreisen wird jedoch als langfristige Lösung der angeblich ja nicht notwendigen Verbindung der Bau einer U-Bahn vorgeschlagen, der in München schon wesentlich mehr Bäume als der Trambahn zum Opfer gefallen sind und die gerade unter dem Englischen Garten aufgrund der Grundwasserabsenkung verheerende ökologische Schäden anrichten würde. Auf einer von jenem Boulevardblatt veranstalteten Diskussion, deren “neutrale Leitung” der Chefredakteur war und die von den Gegnern rein emotional geführt wurde, glitten die Behauptungen und Forderungen vollends ins Lächerliche ab: neben dem Vorwurf, die Verantwortlichen seien reine “Ideologen” und “Trambahnfanatiker”, kam die Forderung nach einer ersatzlosen Stillegung der bestehenden Buslinien, deren Fahrplan korrekt zu lesen ein Schriftsteller nicht in der Lage war, auf. Im übrigen störte sich keiner der “Schützer” des Englischen Gartens an dem etwa 1 km nördlich verlaufenden vierspurigen Mittleren Ring, der infolge eines von der CSU initiierten Bürgerentscheids ausgebaut wird und Verkehrszuwächse von bis zu 30 Prozent haben soll, also dann in diesem Bereich weit über 100 000 Autos am Tag!
München ist im ganzen Lande für sein skurriles Verkehrswesen bekannt. In den fünfziger und der ersten Hälfte der sechziger Jahren war München eine der wenigen (west)deutschen Städte, in der die zahlreichen Neubausiedlungen konsequent mit der Straßenbahn erschlossen wurden. In nur 8 Jahren - von 1956 bis 1964 - wurden nicht weniger als 30 km Neubaustrecken gebaut - ein Rekord, der nur mit Ost-Berlin der achtziger Jahre mithalten kann. Aber Mitte der sechziger Jahre begann, etwa mit Vergabe der Olympischen Spiele an München, der plötzliche Wandel, so daß nur noch U- und S-Bahn als Lösung der “Verkehrsprobleme” gefragt waren. Die Straßenbahn fand fortan in den Planungen überhaupt keine Berücksichtigung mehr, da ihr Ersatz durch die Schnellbahn stillschweigend vorausgesetzt wurde. So wurde 1965 keine drei Jahre nach ihrer Eröffnung die vollkommen kreuzungsfreie Neubaustrecke nach Freimann-Nord wegen der U-Bahn eingestellt; und selbst noch drei Jahrzehnte später wurde die modernste und attraktivste Strecke zum Hasenbergl, die andernorts als Vorbild für zahlreiche “Stadtbahnstrecken” diente, durch eine über 500 Millionen teure U-Bahn ersetzt. Der Erfolg: Busorgien, erhöhte Betriebskosten - und “kein nennenswerter Fahrgastgewinn” (ca. 500 zusätzliche Fahrgäste am Tag; d. h. pro hinzugewonnenen Fahrgast wurde 1 Million DM investiert!), so die offizielle Bilanz. Im Olympia- und Baufieber unbemerkt, wurden Ende der sechziger Jahre mit Einstellung der einzigen Tangentiallinien 12 und 22 die größten Fehlentscheidungen getroffen, da seither das gesamte Schienennetz radial auf das Stadtzentrum ausgerichtet ist und keinerlei bedeutsamen Querverbindungen mehr existieren.
Nachdem dann 1983 unter einem berüchtigten Oberbürgermeister und einer extrem straßenbahnfeindlichen Verwaltung 18 km Straßenbahnstrecken (für 6 km neue U-Bahn) eingestellt wurden, sollte den damaligen Planungen zufolge bis zur Eröffnung der U-Bahn zum Hasenbergl der gesamte restliche Straßenbahnbetrieb stillgelegt werden. Als Folge wurden keinerlei Neuinvestitionen mehr vorgenommen und der Betrieb als “Auslaufbetrieb” mit einem museumsreifen Wagenpark geführt.
Interessanterweise ist jedoch nach einem Gespräch des Münchener Oberbürgermeisters mit dem bayerischen Ministerpräsidenten die bayerische Staatsregierung von der Notwendigkeit und der Umweltverträglichkeit dieser Strecke überzeugt und erhebt als Eigentümer des Englischen Gartens keinen Widerspruch gegen das Projekt. Mehr noch: die staatliche Schlösser- und Seenverwaltung akzeptiert sogar den Vorschlag der Stadtwerke, ein befahrbares Rasengleis (zum Beispiel mittels Rasengittersteinen) anzulegen und als Ausgleich einen Radweg neben der Trasse anzulegen, für den an einigen Stellen in den Grünbestand eingegriffen werden müßte.
Trotz der argumentativen Notlage der Gegner wird in einer dritten Stufe nunmehr umso heftiger gegen die gesamten Trambahnpläne geschrieben und diskutiert. Bedauerlich in diesem Zusammenhang ist jedoch auch die Tatsache, daß sich die Stadtwerke sehr zurückhalten und einige Wochen z. B. keine Gegendarstellungen für objektive Falschmeldungen forderten. Vielmehr wurde auf die Mitte November beginnende Öffentlichkeitsarbeit verwiesen, die jedoch dann aus der Defensive heraus geführt wird und somit einen schweren Standpunkt hat, da die Emotionen gegen die Tram schon geweckt sind. So werden derzeit sogar Unterschriften gesammelt mit dem Ziel, einen Bürgerentscheid gegen die Tram herbeizuführen. Das Hauptargument hierbei ist neben den finanziellen Auswirkungen die “Verkehrsschikane” Straßenbahn. Genau mit dem gleichen Argument polemisiert die CSU auch im Westen gegen die anschließend zu bauende Strecke in der Fürstenrieder Straße, der sog. “Westtangente” und fällt damit in die Unzeiten der “autogerechten Stadt” zurück, als die Trambahn als das Verkehrshindernis schlechthin angesehen wurde. Zusammen mit dem bislang erfolgreichen Protestgeschrei gegen die geplante Tram vom Effnerplatz nach St. Emmeram von den Anwohnern der Cosimastraße, die abwechselnd die Straßenbahn einmal als “zu laut” und daher ruhestörend und ein andermal als “zu leise” und daher gefährlich ablehnen, besteht damit derzeit in München eine breite Front gegen alle geplante Straßenbahn-Neubaustrecken (mit der Ausnahme Osttangente). Doch mit einem Verzicht auf die wirtschaftlich notwendigen Neubaustrecken ist langfristig der Bestand der Münchener Straßenbahn wieder einmal gefährdet. Leider scheint die Ursache überwiegend das St. Florians-Prinzip zu sein (“Trambahn find ich toll, aber nicht vor meiner Haustüre”), da die Argumente gegen die Straßenbahn überall zu widerlegen sind. Gleichzeitig nutzen die Oppositionsparteien im Rathaus diese Stimmung aus und prangern so die angeblich rot-grünen, tatsächlich aber auch eigenen, Beschlüsse in der Verkehrspolitik an. Es wird dabei auch deutlich, daß insbesondere in den Medien verkehrspolitische Themen in München wesentlich emotionaler und irrationaler behandelt werden als z. B. in Berlin, und jeglicher Eingriff in den Individualverkehr mit einer unglaublichen und an Urzeiten erinnernden Hysterie geahndet wird. Inwieweit diese Gegenbewegung den Ausbau tatsächlich verhindern kann, ist derzeit nicht absehbar, im Falle der Strecke nach St. Emmeram, die schon seit einiger Zeit in Betrieb sein sollte, erzielt sie aber auf alle Fälle eine Verzögerung um mehrere Jahre. Bei einem Wechsel der politischen Mehrheit im Rathaus sähen jedoch die Perspektiven für einen umwelt- und menschengerechten Stadtverkehr düster aus.
So könnte es geschehen, daß das verkehrspolitische Kabarett in München bald wieder Schlagzeilen im ganzen Lande auslöst und die Skurrilität des Münchener Verkehrswesens abermals steigert.
Thomas Krauß, Arbeitskreis Attraktiver Nahverkehr München
aus SIGNAL 9-10/1996 (Dezember 1996), Seite 13-16