Aktuell
Ab Dezember endlich wieder eine leistungsfähige Schnellbahn zum Olympiastadion
1. Jun 1997
Hertha BSC steigt auf - und nur vier Monate nach dem Start der neuen Bundesligasaison fährt die S-Bahn wieder zum Olympiastadion. Aber "König Fußball" ist es natürlich nicht, der die Strecke Westkreuz - Pichelsberg nach 17 Jahren Dornröschenschlaf wachküßt. Die frühere Reichsbahn, vor allem aber mehrere Berliner Verkehrssenatoren haben es zu verantworten, daß bedeutende Sportstätten, Deutschlandhalle und Waldbühne so lange ohne leistungsfähigen Schnellbahnanschluß auskommen mußten. Dieser vom Berliner Fahrgastverband IGEB beharrlich als skandalös angeprangerte Zustand findet jetzt im Rahmen des Bundesprogramms zur Wiederherstellung von S-Bahn-Strecken ein Ende - endlich.
Der zunächst bis Pichelsberg wieder in Betrieb gehende Streckenabschnitt Westkreuz - Spandau zählt zu den jüngeren des Berliner Eisenbahnnetzes. Ausschlaggebend für den Bau eines ersten Teilstücks war nach der Jahrhundertwende der starke Anstieg des Vorortverkehrs zwischen Berlin-Charlottenburg und Spandau. Um auch die Villenkolonien und eine neue Pferderennbahn im nördlichen Grunewald zu erschließen, wurden die für die Vorortzüge bestimmten Gleise des sogenannten Hamburger Stadtbahnanschlusses nicht parallel zur vorhandenen Trasse über Ruhleben, sondern westlich der Station Heerstraße an der Rennbahn vorbei über Pichelsberg verlegt. Dies erklärt auch die in der Planungsphase gebräuchliche Bezeichnung "Grunewaldbahn", später setzte sich der eindeutigere Begriff "Vorortbahn nach Spandau" durch. Der Name "Westbahn" hingegen ist eine Neuschöpfung der achtziger Jahre und wurde offiziell nie verwendet.
Ab 23. Mai 1909 fuhren anläßlich von Veranstaltungen Züge von der neuen Haltestelle Heerstraße zum Sonderzugbahnhof Rennbahn. Am 5. September 1911 begann auf der Strecke über Pichelsberg nach Spandau (nunmehr zur Unterscheidung vom 1910 eröffneten Vorortbahnhof Spandau West in Spandau Hbf umbenannt) der reguläre Vorortverkehr. Im Abschnitt Charlottenburg - Heerstraße drängelten sich Fern- und Vorortzüge weiterhin auf einem gemeinsamen Gleispaar.
Erst 17 Jahre später folgte am 23. August 1928 die Inbetriebnahme eines neuen, von vornherein mit Gleichstrom elektrifizierten Vorortgleispaares, das von den Stadtbahngleisen Charlottenburg - Grunewald abzweigend zur Heerstraße führte. Im Schnittpunkt mit der Ringbahn entstand der Umsteigebahnhof Ausstellung, die Station Eichkamp wurde von den Stadtgleisen (südlich der Avus) an die neue Strecke (nördlich der Avus) verlegt. Zeitgleich mit Eröffnung der Neubaustrecke wurde auch im Abschnitt Heerstraße - Spandau West der elektrische Betrieb aufgenommen. Damit erhielten die Havelstädter Anschluß an das in rasantem Tempo "elektrisierte" (so der damalige Sprachgebrauch) Berliner S-Bahn-Netz. Der erwähnte Umsteigebahnhof Ausstellung in der Nähe des heutigen Messegeländes am Funkturm ging am 10. Dezember 1928 in Betrieb und wurde 1932 in Westkreuz umbenannt.
Anfangs verkehrten vier Züge pro Stunde und Richtung. Mit Inkrafttreten eines neuen Fahrplanschemas wurden am 20. März 1929 der Zehn-Minuten-Takt und der Zuglauf Spandau West - Stadtbahn - Grünau eingeführt. Außerdem sorgten Großveranstaltungen auf der Rennbahn, dann auf dem Reichssportfeld, und - wie weithin bekannt, dennoch hier zu erwähnen - vor allem die Olympischen Spiele 1936 Für einen Massenandrang, der nur mit Sonderzügen bewältigt werden konnte.
Anläßlich der Olympischen Spiele eröffnete die Deutsche Reichsbahn neben dem regulären Bahnhof Reichssportfeld (bis 1935 noch Stadion-Rennbahn Grunewald genannt) einen großzügig bemessenen Kopfbahnhof mit fünf Bahnsteigen und acht Kanten für den Sonderverkehr. Im Sommer 1936 kamen hier pro Stunde bis zu zwölf S-Bahn-Züge an, und ebenso viele fuhren ab. Außerdem sah die Fahrplananordnung stündlich sechs bei Bedarf einzulegende Dampfzüge vor, die das Stadion über einen von den Ferngleisen abzweigenden Gleisanschluß erreichen konnten. Auf der S-Bahn-Strecke Westkreuz - Reichssportfeld verkehrten einschließlich der Stammzuggruppe nach Spandau West und einer Sonderzuggruppe nach Pichelsberg pro Stunde und Richtung bis zu 24 Züge!
Dieser Rekordwert blieb in der Nachkriegszeit unerreicht. Aber selbst nach 1961, als die S-Bahn in West-Berlin zusehends in Agonie verfiel, konnte die Spandauer Strecke ihre Leistungsfähigigkeit immer wieder bei Großveranstaltungen im Olympiastadion beweisen, so noch im Mai 1980 während des Katholikentages. Voll genutzt wurde der seit 1960 als Olympiastadion bezeichnete Bahnhof mit allen Sonderbahnsteigen zuletzt während der Fußballweltmeisterschaft 1974. Gelegentlich fuhren bei Fußballspielen eingesetzte Sonderzüge noch danach die Schienen einiger Kopfgleise blank.
Auch im Regelbetrieb zählte Westkreuz - Spandau West in den sechziger und siebziger Jahren den vergleichsweise gut ausgelasteten West-Berliner Streckenabschnitten. Die Deutsche Reichsbahn bot hier bis 1976 tagsüber eine Zugfolge von 10 bzw. 8 bis 12 Minuten an, bis 1980 dann nur im Berufsverkehr. Vor dem Mauerbau ergab sich diese Zugfolge durch die jeweils alle 20 Minuten verkehrenden Zuggruppen E Staaken - Stadtbahn - Strausberg und H Falkensee - Stadtbahn - Königs Wusterhausen (Staaken und Falkensee waren ebenso wie Königs Wusterhausen erst 1951 an das elektrische S-Bahn-Netz angeschlossen worden). Nachdem 13. August 1961 beschränkten sich die Zuggruppen auf die Relation Spandau West - Friedrichstraße. Staaken wurde bis 1972 mit Zügen vom Nordring über Siemensstadt-Fürstenbrunn bedient, dann alle 20 Minuten mit der Zuggruppc H von und nach Friedrichstraße.
Am Abend des 17. September 1980 kam infolge des Eisenbahnerstreiks in West-Berlin auch der verkehr zwischen Westkreuz und Spandau/Staaken zum Erliegen. Die Deutsche Reichsbahn nutzte den Anlaß, einen Teil des Streckennetzes im Westteil Berlins stillzulegen. Seither sind Veranstaltungsstätten wie Deutschlandhalle, Olympiastadion und Waldbühne ohne leistungsfähigen Schnellbahnanschluß. Die U-Bahn nach Ruhleben ist seither bei großen Spielen und Veranstaltungen im Olympiastadion hoffnungslos überlastet, und auf dem, verglichen mit dem S-Bahnhof, ungünstig gelegenen und unzureichend dimensionierten U-Bahnhof Olympiastadion kam es wiederholt zu gefährlichem Gedränge. Zusätzlich eingesetzte Busse blieben im Stau stecken. Auch Besuchern der Waldbühne wird so eine Tortur zugemutet.
Der Berliner Fahrgastverband IGEB, Bürgerinitiativen wie der Interessenverband Westbahn oder die BI Spandauer Verkehrsbelange 73 und von den politischen Parteien besonders vehement AL bzw. Bündnis 90/Die Grünen forderten vergebens eine rasche S-Bahn-Reaktivierung. Die Senatsverkehrsverwaltung vertröstete auf ungewisse Termine, denn auf ihrer Prioritätenliste rangierte die Spandauer Strecke weit hinten. Mitte der achtziger Jahre nutzte die BVG ein Gleis zwischen Westkreuz und Heerstraße als Ausbildungsstrecke. Der Vorschlag, hier und weiter bis zum Olympiastadion wenigstens bei Großveranstaltungen auch Fahrgäste zu befördern, wurde vom Senat verworfen.
Von Juni 1994 bis September 1995 diente die Trasse über Pichelsberg als eingleisige Umleitungsstrecke für die Hamburger InterCity-Züge. Die Ankündigung, danach kurzfristig den elektrischen S-Bahn-Betrieb aufzunehmen, erwies sich als leeres Versprechen. Schon wegen der für die Fernzüge großzügiger gestalteten Kurventrassierung war das gar nicht möglich. Schließlich kristallisierte sich für die Wiederinbetriebnahme des Teilstücks bis Pichelsberg ein Termin Ende 1997 heraus.
Unter Leitung der DB Projekt Knoten Berlin GmbH kommen die Bauarbeiten nun endlich voran. Dr. Jürgen Wilms, technischer Geschäftsführer der Gesellschaft, bestätigte den raschen Baufortschritt, der es ermöglicht, den ins Auge gefaßten Termin auch einzuhalten. Nach abschnittsweisem Abbruch des von den IC-Zügen genutzten Gleises wurde mit der Verlegung des- Gleispaars für den S-Bahn-Betrieb (in herkömmlichem Schotterbett), dem Einbau von Weichen und der Erneuerung mehrerer Brücken begonnen. Nördlich des vorläufigen Endpunkts Pichelsberg ist bereits eine eingleisige Kehranlage eingebaut. Am Olympiastadion entsteht ein neues Unterwerk zur Stromversorgung, dort wird auch ein ans elektronische Stellwerk Halensee angeschlossener Stellrechner installiert.
Die von Grund auf zu sanierenden Bahnhöfe erhalten auf den noch vorhandenen Stützen Bahnsteigdächer in alter Form. Was die Dächer betrifft, hatten sich Eisenbahnbundesamt und der Geschäftsbereich Personenbahnhöfe der DB AG zuletzt ein Pingpong-Spiel wegen strittiger Finanzierungsfragen geliefert. Der deshalb zwischenzeitlich drohende Verzicht auf Bahnsteigdächer ist jetzt offenbar nicht mehr zu befürchten. In Eichkamp bleibt es allerdings bei dem schon früher sehr kurzen Dach beidseits des brückenartigen Zugangsbauwerks.
Generell werden alle Stationen mit Aufzügen, nicht aber mit Fahrtreppen ausgestattet. Diese Prioritätensetzung ist grundsätzlich richtig, denn für Fahrgäste im Rollstuhl, mit Kinderwagen, Fahrrad, schwerem Gepäck oder mit einer Gehbehinderung sind Aufzüge stets die bessere bzw. einzige Lösung. Andererseits bedeutet der Verzicht auf Fahrtreppen für eine große Gruppe einen Komfortverzicht, und so muß sich der Berliner Senat als Besteller fragen lassen, warum bei der S-Bahn Fahrtreppen derart konsequent eingespart werden, während beim U-Bahn-Bau bis heute an jeder Station zahlreiche dieser in Anschaffung und Unterhalt so teuren Beförderungshilfen eingebaut werden, darunter sogar noch immer abwärtsführende Fahrtreppen - zuletzt bei der U8-Nord und dem U-Bf Hermannstraße sowie demnächst beim U-Bf Pankow.
Im einzelnen sind für die S-Bahn bis Pichelsberg folgende Zugänge vorgesehen:
Eichkamp
Außer den beiden früheren Zugängen Waldschulallee und Deutschlandhalle erhält der Bahnsteig im Südosten einen Zugang von der Eichkampstraße und am nordwestlichen Ende einen Zugang, der unter der neuen Jaffestraße hindurch direkt vom Messegelände aus erreichbar ist. Alle sollen zur Eröffnung im Dezember dieses Jahres benutzbar sein.
Heerstraße
Der Bahnsteig ist wie früher nur von der Heerstraßenbrücke aus zu erreichen. Pläne für einen weiteren südöstlichen Zugang wurden vorerst zurückgestellt.
Olympiastadion
Der Hauptzugang befindet sich nach wie vor an der Flatowallee (ehemals Reichssportfeldstraße). Wiederhergestellt wird auch die große, die alten Sonderbahnsteige überspannende Fußgängerbrücke zur Trakehner Allee Richtung Olympiastadion. Ein erneuerter Sonderbahnsteig soll möglichst noch Ende 1997, spätestens aber Mitte 1998 nutzbar sein. Drei weitere folgen 1999. Das Vorhaben, den Bahnhof Olympiastadion mit einer gigantischen Veranstaltungshalle zu überbauen, ist übrigens nach dem Rückzieher des Investors vom Tisch.
Pichelsberg
Hier wird zunächst der frühere Zugang von der Schirwindter Allee neu errichtet. Später gibt es auch am nordwestlichen Bahnsteigende wieder ein Zugangsbauwerk, gemäß einem Dreistufenkonzept als erstes mit der Sarkauer Allee verbunden. Im weiteren sind direkte Wege zur Tharauer und Angerburger Allee sowie durch das Wäldchen zur Glockenturmstraße und damit zur Waldbühne vorgesehen. Daß gerade dieser Weg zuletzt realisiert werden soll, ist unverständlich Auch von Anwohnerseite gibt es Unmut. Sie kritisieren, daß der gesamte Zugang am nordwestlichen Bahnsteigende nicht schon jetzt gebaut wird, zum einen wegen der langjährigen Umwege auf dem Weg zur S-Bahn, zum anderen wegen der bei Realisierung unter Betrieb zu erwartenden Verkehrseinschränkungen.
Die S-Bahn Berlin GmbH hat ihr Fahrplankonzept auf Massenandrang ausgelegt. Es erlaubt, außer den beiden Stammzuggruppen der bis Pichelsberg verlängerten Linien S 5 und S 75 bei Bedarf weitere Zuggruppen einzulegen. Normalerweise soll die Strecke im 10-Minuten-Takt, eventuell auch alle 9 bzw. 11 Minuten bedient werden. Zumindest westwärts wären dann am Westkreuz wohl sogenannte Ausgleichshalte erforderlich, denn zur Zeit gibt es hier zwischen S 5 und S 75 auf der Stadtbahn Abstände von 10 bzw. 7 Minuten.
Bei Großveranstaltungen sollen auch die S 9 und die S 3 bis Pichelsberg oder Olympiastadion (Sonderbahnsteig) fahren. Ferner sind zwei Sonderzuggruppen zwischen Charlottenburg (oder Zoologischer Garten) und Olympiastadion vorgesehen, die die Stationen Eichkamp und Heerstraße ohne Halt passieren. Insgesamt ergibt das (bei einem 20-Minuten-Takt pro Gruppe) im Abschnitt Westkreuz - Olympiastadion 18 Züge pro Stunde und Richtung. Damit läßt sich eine Verkehrsleistung von ca. 22.000 Fahrgästen je Stunde und Richtung realisieren. Nach Fertigstellung der Sonderbahnsteige ist sogar ein 2,5-Minuten-Takt geplant, was eine Leistung von ca. 30.000 Fahrgästen je Stunde und Richtung ermöglicht.
Die Spandauer müssen noch ein Jahr länger auf den ersehnten S-Bahn-Anschluß warten. Die Projektgesellschaft Knoten Berlin will den zweiten Bauabschnitt mit dem Haltepunkt Stresow (anstelle des alten Bahnhofs Spandau) und dem neuen Endpunkt Berlin-Spandau an der Klosterstraße Ende 1998 fertigstellen. Die Investitionskosten für die - von Westkreuz aus gerechnet - 8,8 Kilometer lange Strecke haben sich dann auf gut 400 Millionen Mark summiert.
Mit der S-Bahn-Wiederinbetriebnahme nach Spandau kommt dann auch die "Stunde der Wahrheit" für die U7-West. Auf der zum Rathaus Spandau führenden, 1984 eröffneten Tunnelstrecke muß für 1999 mit erheblichen Fahrgastverlusten durch Abwanderung zur schnelleren und attraktiveren S-Bahn gerechnet werden. Dann werden uns die Fehler der West-Berliner Verkehrspolitiker und -planer der Nachkriegsjahrzehnte einholen, die einseitig den U-Bahn-Bau vorantrieben, ohne Rücksicht auf die S-Bahn oder sogar bewußt parallel dazu, ohne Beachtung der betrieblichen Folgekosten, aber mit großem Engagement für die Belange der Tiefbauindustrie.
Doch auch die Staakener und Falkenseer werden noch lange die Spätfolgen der deutschen Teilung spüren, denn der Bund als Geldgeber hat jüngst mitgeteilt, die Wiederherstellung der S-Bahn von Spandau bis Falkensee komme - entgegen den bisherigen Versprechungen - erst nach dem Jahr 2003 in Betracht. In der Hoffnung, diese Terminierung noch entscheiden verändern zu können, wollen wir hier schon mal die noch geplanten Zwischenstationen nennen: Auf Berliner Gebiet völlig neu zu bauen sind Nauener Straße und Hackbuschweg, außerdem soll die S-Bahn in Albrechtshof und Seegefeld (Herlitzwerke), beides derzeit Regionalbahnhöfe, halten.
Wann immer die S-Bahn wieder bis Falkensee fährt - der ursprüngliche Zeithorizont "bis 2000" für die formelhaft so bezeichnete "Wiederherstellung des Netzes von 1961" wird mit Sicherheit deutlich überschritten. Dies gilt selbst für die so dringliche Wiederherstellung des Vollringes - mehr hierzu in den nächsten SIGNAL-Ausgaben.
IGEB
aus SIGNAL 4/1997 (Juni 1997), Seite 4-7