Nahverkehr
Begleitet von heftigsten Auseinandersetzungen hatte sich der Potsdamer Verkehrsbetrieb (ViP) im Ergebnis einer EG-weiten Ausschreibung für das von Siemens entwickelte neue Straßenbahnfahrzeug „Combino“ entschieden (siehe SIGNAL 1/97). Im Sommer wurde den Fahrgästen nun die Möglichkeit geboten, sich im Rahmen eines intensiven Testeinsatzes des Prototypes selbst ein Bild von dem Fahrzeug zu machen.
1. Dez 1997
Nach ausgiebigen Testfahrten auf der Wiener Lokalbahn wurde der Prototyp des "Combino" vom 3. Juli bis 25. August auch in Potsdam intensiv erprobt. Erfreulicherweise gab es kaum technisch bedingte Ausfälle, der Wagen konnte fast täglich eingesetzt werden. Das gute Bild, das der Wagen bereits nach 15.000 Kilometern Testfahrt in Wien abgegeben hatte, bestätigte sich nun auch in der brandenburgischen Landeshauptstadt.
Aufgrund der Erfahrungen mit in ähnlicher Konfiguration zusammengestellten Wagen in Mannheim, Ludwigshafen und Dresden wurden anfangs Probleme hinsichtlich des Geradeauslaufs befürchtet. Diese Befürchtungen erwiesen sich aber als unbegründet, auch nach größerer Laufleistung wurden keine Schlingerbewegungen des Wagens oder sonstige Abnormitäten im Fahrverhalten festgestellt. Auch Vorbehalte, das gewählte Antriebskonzept könnte hinsichtlich Spurkranzverschleiß und Lebensdauer der Getriebe zu Nachteilen führen, konnten ausgeräumt werden. Der Verschleiß an den Radsätzen war minimal.
Der tägliche Fahrgasteinsatz bot der Potsdamer Bevölkerung genügend Gelegenheit, Wünsche und Kritik zu äußern. Insgesamt erwies sich das Fahrzeug durch seine Innenraumgestaltung sehr fahrgastfreundlich, diesbezüglich ist es dem von der BVG beschaftten GT6-Fahrzeug deutlich überlegen. Dennoch gab es Anregungen und Kritik, die bei der nun beginnenden Serienfertigung möglichst weitgehend berücksichtigt werden sollen. So werden die gestalterisch interessanten Gruppensitze über den Antrieben in der Anordnung etwas verändert, um allzu intensiven Beinkontakt von nebeneinandersitzenden Fahrgästen zu vermeiden.
Die bestellten Potsdamer Serienfahrzeuge werden, anders als der Prototyp, Einrichtungsfahrzeuge sein. Als fünfteiliges Fahrzeug werden sie ca. 30 m lang und somit vier Meter länger als der Prototyp. Für Kinderwagen und Rollstühle sind die Flächen gegenüber den Türen III und V vorgesehen. Zu berücksichtigen war hierbei, daß der Stellplatz so gestaltet wird, daß ein Rollstuhl bei einer plötzlichen Bremsung nicht wegrollen kann. Kritik gab es hinsichtlich der Belüftung des Wagens. Dies ergab sich aber aus der nicht seriengerechten Zusammenstellung der Module beim Prototyp. Die Serienwagen werden mit einer ausreichenden Anzahl von Klappfenstern versehen, für den Fahrerplatz ist eine Klimaanlage vorgesehen.
Geradezu anziehend wirkt die erste Tür des Wagens. Ausgerechnet diese ist aber nur einteilig und somit recht schmal. Konstruktiv ist bei diesen Wagentyp aber mehr nicht drin. Es stand Alternative, auf diese Tür völlig zu verzichten. Im Interesse der durchgehenden Begehbarkeit des Zuges wurde aber auf die vordere Tür Wert gelegt. Auch ist es gerade für ältere Fahrgäste sicherer, im Sichtbereich des Fahrers ein- und auszusteigen. Sinnvoll wäre die Möglichkeit einer separaten Betätigung der ersten Tür durch das Fahrpersonal, wie man es vom Bus kennt. Bei der Schaltung im KT4D (und auch bei allen modernisierten und neuen Fahrzeugen in Berlin) kann die erste Tür vom Fahrer nur dann separat geöffnet werden, wenn alle anderen Türen auf "Schließen" stehen. Ein kundenfreundliches Verhalten wird dadurch unnötig erschwert.
Noch immer nicht ausgestanden sind die politischen Querelen um die Auswahl des "Combino". Doch der Aufsichtsrat des ViP steht zu seiner Entscheidung. Maßgebend hierbei: Die Modulbauweise des Fahrzeugs ist ein entscheidender Beitrag zu günstigeren Kostenstrukturen im ÖPNV. Immer wieder auftauchende Wortmeldungen aus politischen Kreisen kann man mittlerweile an Profilierungsversuch fern aller Sachkenntnis einordnen. Sowohl der Verband Deutscher Verkehrsbetriebe (VDV) als auch einzelne Betriebe sehen in dem Wagen eine gelungene Konstruktion, auch die Fachpresse ist sehr optimistisch und schätzt die Potsdamer Entscheidung als richtig ein.
Falsch war nicht die Entscheidung für den "Combino", falsch bis ärgerlich waren die Reaktionen. "Der [Berliner] Senat und die CDU-Fraktion werfen den verantwortlichen SPD-Politikern in Potsdam vor, Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen zu fördern, statt die heimische Region zu stärken", berichtete die Berliner Morgenpost am 26. März. Und in dieselbe Richtung zielte der Kommentar der brandenburgischen Märkischen Oderzeitung vom 27. März: "Kritikwürdig ist allemal, wenn Brandenburg Aufträge an andere Regionen vergibt, ohne von ihnen entsprechende Gegenleistungen zu erhalten. So beim Kauf von Straßenbahnwagen in NRW."
Demgegenüber schreibt der Berliner Tagesspiegel vom 22. November im Hinblick auf eine bevorstehende Straßenbahnbestellung der BVG: "Was aus regionalpolitischer Sicht durchaus nachvollziehbar ist, macht unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten nämlich keinen Sinn." Richtig. Aber dann heißt es: "Auch die Firmen sind gut beraten, sich darauf einzustellen, daß mit der Zeit allein die Kassenlage die Prioritäten bestimmt." Und die Qualität? Ein moderner Verkehrsbetrieb, der Fahrgäste als Kunden und nicht als Beförderungsfälle betrachtet, muß gegebenenfalls auch ein teureres Fahrzeug kaufen dürfen, wenn es eindeutig fahrgastfreundlicher ist. In dieser Hinsicht war und ist die Potsdamer Entscheidung richtig. Bestätigt sieht sich der ViP inzwischen auch durch Freiburg und Augsburg, die im Herbst 1997 ebenfalls den "Combino" bestellten.
Im Oktober 1998 wird in Potsdam der erste von insgesamt 48 Wagen aus der jetzt beginnenden Serienfertigung erwartet. Die Chancen stehen gut, daß er ohne große Probleme dem Betrieb übergeben werden kann und die Potsdamer Straßenbahn mit einem modernen, zeitgemäßen Wagenpark die Schwelle zum neuen Jahrtausend überschreiten wird.
IGEB
aus SIGNAL 7/1997 (Dezember 1997), Seite 12-13