Nahverkehr

Liebe S-Bahn!


Jan Gympel

1. Dez 1997

Furchtbar hat man im verflossenen Sommer über Dich geschimpft und gelacht und Deine allerneuesten, allerschönsten Züge, die mit der Taucherbrille vorn und dem Senfgelb an den Seiten, als "Saunabahn" verspottet. Bloß weil sie sich so stark aufgeheizt hatten, daß Du sie schon gegen Mittag abstellen mußtest. Das hast Du, liebe S-Bahn, wahrlich nicht verdient. Natürlich brauchen Deine neuen Züge riesige Fensterscheiben - in den alten, die seit siebzig Jahren herumfahren, ist es ja stockfinster, und man kommt sich vor wie im Gütenwaggon. Und was soll's schon, wenn die großen Glasflächen im Sommer das Wageninnere auf heizen und im Winter die Wärme an die Umgebung abgeben - dafür hast Du ja so eine supermoderne Belüftungsanlage, die jetzt nur ein kleines bißchen nachgebessert werden muß. (Den Garantieschein für die Züge hast Du doch hoffentlich aufgehoben?)

Früher, ja früher, da öffnete man im Sommer einfach die Fenster und kühlte sich am Fahrtwind ab. Früher konnte man Deine Fenster auch noch richtig weit herunterziehen. Aber erstens sähe das ja aus wie in der "Dritten Welt", wo man sich so tolle Technik nicht leisten kann, wie wir sie uns für vielleicht fünfzig heiße Tage im Jahr zulegen. Und zweitens könnte jeder Depp, der seinen Kopf bei Tempo sechzig aus dem Fenster hält und gegen einen Signalmast prallt, Dich, liebe S-Bahn, auf Schmerzensgeld, Schadensersatz und was nicht noch alles verklagen und würde von unseren Gerichten sicher recht und viel Kohle bekommen.

Ist dies nicht auch der Grund, weshalb Du, liebe BVG, in den letzten Jahren erst die Klappfenster auf der einen Seite Deiner U-Bahn-Züge zugeschraubt und später ganz ausgebaut hast? Waren nicht Klagen zu befürchten von Wilmersdorfer Witwen, die nur darauf lauern, wo es zieht, damit sie Dich wegen eines Schnupfens vor den Kadi zerren können? Jetzt, liebe BVG, zieht es zum Glück nicht mehr. Dafür muß man schon mal in Kauf nehmen, daß es in Deinen Zügen immer stickiger wird (weil auch voller, da immer seltener und mit weniger Wagen verkehrend). Oder liegt das nur an moderner Belüftungstechnik, die genauso wenig funktioniert wie bei der S-Bahn?

Nicht verzagen, liebe S-Bahn, liebe BVG! Wo kämen wir denn hin, wenn wir zum Lüften einfach die Fenster öffnen oder Signale einfach ablesen würden statt ihre Botschaften via Funk auf eine Anzeige im Führerstand übertragen zu bekommen? Oder wenn jemand auf dem Bahnsteig stünde, bei dem man nach dem Fahrplan, dem Weg oder einer Fahrkarte fragen könnte - wieviel schicker ist es doch, dies gebückt an einer "Servicesäule" in Erfahrung zu bringen. Vielleicht haben wir ja auch Glück und werden gerade an dieser Stelle des verwaisten Bahnhofs überfallen, ist sie doch die einzige, die eventuell von der Zentrale mit einer Kamera überwacht wird.

Ich hätte da noch ein paar prima Ideen: Zum Öffnen der Zugtüren muß der Fahrgast künftig einen täglich wechselnden Code eingeben, den man über verschiedene Boulevardzeitungen und Dudelfunksender erfährt (da könnt Ihr auch Kohle machen). In den Zügen werden aus Ersparnisgründen nur noch jene Stellen richtig beleuchtet, an denen sich gerade jemand aufhält - gesteuert durch Infrarotsensoren in den Decken. Fahrpläne hängen nicht mehr aus, sondern werden ONLINE (cool!) von einer Zentrale auf Projektoren übermittelt, die sie auf die Stationswände werfen - natürlich alles via Satellit. Der Fahrer sitzt fortan in einer gläsernen Kanzel in der Mitte des Zuges und lenkt selbigen über Bildschirme.

Wie, dann werden die Züge noch teurer und störungsanfälliger und die Lieferzeiten noch länger? Aber das macht doch nichts - zum Glück habt Ihr ja immernoch die alten Wagen, die dank ihrer einfachen, robusten Technik schon dreißig, vierzig, siebzig Jahre rollen und auch noch ein oder zwei Dekaden mehr laufen werden, meint

Euer Jan Gympel

Jan Gympel

aus SIGNAL 7/1997 (Dezember 1997), Seite 16