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Kleine Verbesserungen machen aus der Niederflurstraßenbahn GT6 noch kein brauchbares Fahrzeug
2. Jan 1998
Wie verkauft man Peinlichkeiten? Wer sich für die Lösung dieses Problems interessiert, sollte Kontakt mit einem bekannten Schienenfahrzeughersteller hier in der Region aufnehmen. Was andernorts Normalität ist, nämlich die kontinuierliche Erneuerung des Wagenparks mit modernen Niederflurwagen, ist in Berlin noch immer ein sich über Jahre hinziehendes Geduldsspiel. Leidtragende sind die BVG-Fahrgäste, Gewinner die Potsdamer, die sich nicht dazu haben verleiten lassen, unzulängliche Fahrzeuge zu kaufen, nur weil diese im brandenburgischen Hennigsdorf hergestellt werden.
Die 1994 von ADtranz für die BVG aufgelegte Serie von 60 Stück GT6 nähert sich nach vielen Problemen langsam der vollständigen Inbetriebnahme. Abzüglich zweier Unfallwagen, die gerade auswärts weilen, fehlt nur noch ein Wagen. Und "schon" 1996 wurde mit dem Bau der zweiten Lieferserie begonnen, doch neue Schwierigkeiten folgten.
Zunächst gab es einige Probleme, die dem Hersteller nicht anzulasten sind. So müssen insgesamt 14 Wagen durch Verschulden einer Zulieferfirma noch einmal neu gebaut werden. Aber im Herbst 1997 sind aus der zweiten Produktionsserie endlich zwei Wagen eingetroffen. Statt nun mit der gebotenen Bescheidenheit zügig für eine Inbetriebnahme der dringend benötigten Fahrzeuge zu sorgen, hat man doch tatsächlich den eher peinlichen, weil erheblich verspäteten Auslieferungstag genutzt, Presse, Funk und Fernsehen zu einer Feier einzuladen. So geschehen am 25. September 1997 am Hackeschen Markt. Das Thema: die 61. Niederflurbahn für Berlin. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Werden auch der 71., 81. und 104. Wagen derart vorgestellt werden?
Daß die Verantwortlichen so "detailversessen" waren und den präsentierten Wagen 1075 notdürftig als "1061" tarnten, zeigt eigentlich nur, daß man offenbar ein schlechtes Gewissen gegenüber der Öffentlichkeit hat, aber nicht in der Lage ist, mit entstandenen Problemen ehrlich und offensiv umzugehen, geschweige denn, sie zu lösen. Parallelen zum Gebaren in einem 1990 verblichenen mitteleuropäischen Staat drängen sich zwangsläufig auf.
Wer die Presse aufmerksam verfolgt, weiß es: ADtranz steckt in ernsthaften Schwierigkeiten. Der angekündigte Arbeitsplatzabbau auch in den Berliner und brandenburgischen Betrieben wird die bestehenden sozialen Probleme noch verschärfen. Dem muß verständlicherweise entgegengewirkt werden. Aber mit potemkinschen Dörfern und offenkundigem Dummverkaufen der Öffentlichkeit? Oder wäre termingerechtes Liefern funktionierender und brauchbarer Fahrzeuge nicht doch eine bessere Variante?
Die jetzt allmählich eintreffende Serie GT6-96 - man beachte die Jahreszahl - wird voraussichtlich erst Ende 1998 vollständig abgeliefert sein. Entschieden zu lange, vergleicht man dies mit anderen Lieferanten. Und: Wenn Jahre nach dem Serienstart noch immer konzeptionelle Mängel zutage treten sowie Fertigung und Inbetriebnahme über Gebühr lange dauern, dann sollte das erforderlichenfalls auch in der Erkenntnis enden, ein nicht ganz so hochgezüchtetes Produkt anzubieten. Ein Problem dürfte es für ADtranz kaum sein, den GT6 zu den Akten zu legen, denn man hat auch noch andere und erfolgreichere Typen im Katalog. Oder konkurriert man gar im eigenen Unternehmen?
Betrachten wir den am 25. September vorgestellten Wagen genauer. Einige Veränderungen gibt es. Auffallend für den Fahrgast sind die Sprechstellen an den Türen. Zum einen sind sie mit der Notbremse verbunden - man kennt es von der U-Bahn. Andererseits kann auch der Fahrer direkt um Auskünfte gebeten werden. Hoffen wir, daß der Betriebsablauf nicht zu sehr darunter leidet. Das aus Fahrgastsicht größte Problem dieses Wagens bleibt die vollkommen ungenügende Beinfreiheit innerhalb der Sitzabteile. Zwar wurde in den am Hackeschen Markt abgehaltenen Reden beteuert, dieses Problem sei gelöst worden. Ein Probesitzen im bereitgestellten Waggen zeigte aber, daß hier der Wunsch der Vater des Gedankens war. Oder deutlicher: Hier wurde gelogen. Subjektiv ist kein Unterschied zur vorherigen Serie feststellbar. Wenn überhaupt dürfte der Unterschied nur einige Millimeter ausmachen.
Bei nüchterner Überlegung ist hier auch kaum etwas zu ändern. Denn der verbleibende Raum unter den Sitzpodesten ist schon völlig ausgereizt, um die Drehgestelle einschließlich Kraftübertragung unterzubringen. Und somit muß wieder die Frage nach der Alltagstauglichkeit des Sorgenfalls gestellt werden. Aus anderen Städten verlautete schon, diesen Typ würde heute niemand mehr kaufen. Denn die altbekannten Probleme mit den Getrieben, Gelenken und mit übermäßigem Radsatzverschleiß sind unverändert aktuell. Dazu kommt das Kurvenverhalten dieses Wagens, der mit den ausschwenkenden Wagenteilen an den Zugenden das Durchfahren enger, dicht befahrener Straßen - wie im Bereich um den Hackeschen Markt oder in der Köpenicker Altstadt - im Vergleich zum KT4D erheblich komplizierter und das Verkehrsmittel Straßenbahn damit langsamer macht.
In der gegenwärtig laufenden Neuausschreibung sollte man sich bei langfristiger Sichtweise doch für ein Fahrzeugkonzept entscheiden, das mehr an den Multigelenkfahrzeugen mit kleinen Zwischenwagen und eingehängten großen Wagenkästen orientiert. Derartige Lösungen sind bei allen Systemhäusem im Angebot, so daß hier keine Bevorzugung eines Anbieters zu befürchten ist. Das Problem der Beinfreiheit wäre dann auch gelöst. Man betrachte die Variobahn von ADtranz, den Combino von Siemens oder die Wagen für Dresden, Mannheim, Ludwigshafen und Karlsruhe.
IGEB
aus SIGNAL 9-10/1997 (Januar 1998), Seite 9-11