Nahverkehr
2. Jan 1998
Auf Deinen bisherigen Chef Konrad Lorenzen mußt Du im neuen Jahr leider verzichten, denn er hat sich für eine große Karriere qualifiziert. Genial, wie er uns erklärte, daß die Fahrkarten dank Verbund zwar noch ein bißchen teurer würden, man dafür ja aber auch viel mehr von ihnen hätte, weil man zum Preis seiner täglichen Tour von Berlin-Schöneberg nach Berlin-Reinickendorf nun womöglich gleich bis Prenzlau fahren könnte. So jemanden braucht man bei der Post, die neulich ganz moderat die Gebühr, pardon: "das Entgelt", für Postkarten um läppische 25 Prozent angehoben hat. Warum nicht künftig für Inlandspost einfach das Porto für, sagen wir mal, Luftpostbriefe nach Argentinien erheben? Das bedeutet zwar eine klitzekleine Entgelterhöhung um 1,90 Mark oder 173 Prozent, aber welch enorme Vorteile die Nutzer davon hätten! Zumal wenn man bedenkt, wieviele Deutsche den allergrößten Teil ihrer Post in Richtung Südamerika schicken.
Auch für die Bahn AG wäre die Lorenzen-Logik hilfreich: Schluß mit diesen eigenartigen und nur verwirrenden entfernungsabhängigen Tarifen! Ein Land, ein Volk, ein Fahrpreis! Künftig wird für jede Bahnreise pauschal der Preis für die Strecke Flensburg - Berchtesgaden berechnet! Das wird vielleicht eine Ersparnis für die Kunden! Und bei der Telekom: Jedes Gespräch von Charlottenburg nach Wilmersdorf künftig zum supergünstigen Mondscheintarif einer Verbindung mit den Oster-Inseln! So wird Deutschland wettbewerbsfähig, so kommt der öffentliche Nahverkehr auf Touren! Dann dürfte es der BVG auch ohne weiteres möglich sein, ihren steten Kundenschwund, der inzwischen fast die Ausmaße der Mitgliederverluste von Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen erreicht hat, auszugleichen. Vielleicht könnte sie da sogar den einen oder anderen der Vandalismusschäden beheben, die zunehmen, seitdem die meisten U-Bahnhöfe Geisterstationen sind.
Aber warum eigentlich nur Berlin und ganz Brandenburg in einem Tarifverbund? Schließlich reisen nicht nur tagtäglich hunderttausende Berliner nach Cottbus und Angermünde, unzählige Spremberger nach Pasewalk und Schwedter nach Brandenburg an der Havel! Wer berücksichtigt die Interessen der Prignitzer, die dauernd nach Schwerin oder Hamburg wollen? Wer die der Fläminger, die gen Leipzig streben? Wer jene der Frankfurter, die nach Polen reisen? Ein Tarifverbund für ganz Deutschland, ach was: für ganz Europa muß her! Jeder Fahrscheinautomat im Spreewald muß dafür ausgerüstet werden, Tickets für die Londoner U-Bahn oder die Moskauer Trolleybusse auszugeben! Kein langes Warten mehr, wenn man in Athen mit dem Bus fahren will oder in Lissabon mit der Straßenbahn! Ein Kontinent, ein Fahrschein! Je größer der Verbund, desto durchschaubarer bekanntlich auch das Tarifsystem und desto einfacher die Bedienung der Automaten, desto geringer folglich die Hemmschwelle für Neukunden, die erstmals seit Jahren wieder ihr Auto stehen lassen wollen. Noch attraktiver als der VBB-Fahrschein für sechs Mark oder die Monatskarte für zweihundert wäre da doch die gesamteuropäische Monatskarte zum Spottpreis von sagen wir mal zweitausend Mark. Im Monat natürlich.
Wo der Bedarf dafür herkommen soll? Ganz klar: Wo immer weniger Menschen Arbeit haben, haben immer mehr Menschen natürlich Zeit, in der Gegend herumzufahren. Die Nachfrage für den gesamteuropäischen Verkehrsverbund wird folglich von Tag zu Tag größer. Die paar hundert Millionen Kosten für die Umrüstung der Automaten sollten für solch ein großes Ziel nicht zu wenig sein, und wenn man an irgendeine Idee das Schild "Europa" hängt, haben ja sowieso alle kleinlichen Kritiker zu verstummen. Sicher kann man da auch noch ein paar Subventionen von der EU locker machen, die stets gern verteilt, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen. Und wenn's um große Ideen ging, haben sich die Deutschen um Kleinigkeiten wie die Finanzierbarkeit schließlich noch nie geschert, konstatiert erleichtert
Dein Jan Gympel
Jan Gympel
aus SIGNAL 9-10/1997 (Januar 1998), Seite 29