München
Der Bau der Westtangente wird intensiv vorbereitet. – Bei dieser Ankündigung zucken Berliner Leser vermutlich zusammen. Doch hier geht es nicht um eine Wiederbelebung von Autobahnplänen in der Hauptstadt. Vielmehr handelt es sich bei der Westtangente, von der hier die Rede ist, um das umfangreichste Neubauprojekt bei der Münchner Straßenbahn seit einem halben Jahrhundert. Dabei ist das Tramnetz der bayerischen Metropole in den vergangenen zwei Dekaden bereits beachtlich gewachsen.
5. Feb 2015
Eigentlich hatte man in München dem schlechten Vorbild West-Berlins und Hamburgs nacheifern wollen: Auch an der Isar sollte die Straßenbahn vollständig verschwinden, auf wichtigen Trassen nach und nach ersetzt durch die U-Bahn, deren erste Strecke 1971 eröffnet wurde.
Doch München hatte Glück, und zwar auch mit seiner U-Bahn: Während die Tunnelnetze von Berlin, Hamburg, Köln oder Frankfurt am Main das Ergebnis immer wieder geänderter und oft nicht zu Ende geführter Planungen sind und daher in mancher Hinsicht Stückwerk blieben, wurde an Münchens Voll-U-Bahn über mehr als vier Jahrzehnte hinweg kontinuierlich und zielstrebig gebaut. So entstand ein schlüssig gestaltetes Netz. Und es entstand, dank der Bemühungen der vergangenen dreißig Jahre, eine Vielzahl architektonisch hervorragend, teilweise kühn gestalteter Stationen, die deutschlandweit Maßstäbe setzten.
Zugleich verabschiedete man sich an der Isar von der irrigen Idee, die 1876 eröffnete Straßenbahn aufs Abstellgleis zu manövrieren. Auch dieser Abschied vom Abschied begann Mitte der achtziger Jahre, als nach früheren Plänen der „Auslaufbetrieb“ starten sollte: Im Sommer 1986 fällte der Stadtrat – das Münchner Gemeindeparlament – den
Grundsatzbeschluss, die Straßenbahn zu erhalten. Allerdings kam es 1991 und 1993 noch einmal zur Stilllegung längerer Strecken, an deren Stelle U-Bahn-Abschnitte traten, die nun in Betrieb gingen. Das Straßenbahnnetz schrumpfte damit auf rund 65 Kilometer, die von nur noch acht Linien befahren wurden.
Im Streckennetz schlug sich die Korrektur der Verkehrspolitik erst am 1. Juni 1996 nieder: Die gut vier Kilometer lange Trasse durch die Arnulfstraße, von der Nordseite des Hauptbahnhofs bis zum Romanplatz, wurde wiedereröffnet. Fast genau dreizehn Jahre zuvor hatte man den größten Teil von ihr – und damit die gesamte Linie 17 – stillgelegt, als der U 1-Abschnitt vom Hauptbahnhof zum Rotkreuzplatz in Betrieb gegangen war. Der Verkehr auf dem Streckenteil am Hauptbahnhof war bereits 1967 eingestellt worden.
Noch länger verschwunden war die Osttangente zwischen Max-Weber-Platz und Ostfriedhof: Auf ihr (ganz genau genommen zwischen Wörthstraße und Ostfriedhof) war der Straßenbahnverkehr bereits 1968 eingestellt worden, also schon Jahre vor der Eröffnung der Münchner U-Bahn. War in der Arnulfstraße wenigstens der von der Tram benutzte Mittelstreifen zu einem nennenswerten Teil erhalten geblieben, so musste beim Wiederaufbau der Osttangente praktisch bei Null begonnen werden. Der Fahrgastbetrieb auf der 2,2 Kilometer langen Strecke wurde am 8. November 1997 aufgenommen.
Für den Bau der U 4 war Anfang der achtziger Jahre der – erst 1970 eröffnete – Straßenbahnverkehr östlich des Effnerplatzes „vorübergehend“ eingestellt worden. Nach der Jahrtausendwende entstand über die frühere Endhaltestelle Cosimabad hinaus bis St. Emmeram eine neue, insgesamt 4,3 Kilometer lange Strecke. Sie erschließt ein Gebiet in den Stadtteilen Bogenhausen und Oberföhring, in dem in den letzten Jahren viele neue Wohnungen und Arbeitsplätze entstanden sind bzw. noch entstehen werden. Der reguläre Verkehr auf der Trasse, die durchweg einen besonderen Bahnkörper besitzt, wurde am 11. Dezember 2011 aufgenommen. Der Bau hatte, für Berliner Verhältnisse unglaublich, gerade einmal neunzehn Monate gedauert.
Der Effnerplatz in Bogenhausen ist nicht nur wegen des Tramausbaus umgestaltet worden, sondern auch weil der berühmtberüchtigte Mittlere Ring des Münchner Straßensystems den Platz künftig in einem Tunnel queren sollte. In diesem Zusammenhang entstand als „Kunst am Bau“-Projekt auf der Mittelinsel die 52 Meter hohe, von der US-Künstlerin Rita McBride entworfene Skulptur „Mae West“. Durch die „Füße“ dieses aus Rohren gebildeten Stabwerks in Form eines Rotationshyperboloids fahren die Züge der Linien 16 und – in der Hauptverkehrszeit – 18 hindurch.
Kein spektakuläres künstlerisches, aber ein beeindruckendes Ingenieurbauwerk besitzt die zwei Jahre zuvor, am 12. Dezember 2009, in Betrieb gegangene Linie 23: Für sie errichtete man die Schenkendorffbrücke, eine 84 Meter lange Schrägseilbrücke, die den Mittleren Ring überquert und auch Fußgängern und Radfahrern dient. Vielleicht noch bemerkenswerter an dieser Strecke: Wie jene nach St. Emmeram erschließt sie zwar unter anderem ein – zuvor durch Industrie und Kasernen genutztes – Gebiet, in dem viele neue Wohnungen und Arbeitsplätze entstanden sind, stellt aber keine Verlängerung einer bestehenden Straßenbahntrasse dar.
Vielmehr handelt es sich bei der knapp 3 Kilometer langen Linie 23 aus Fahrgastsicht um einen Inselbetrieb, der am U-Bahnhof Münchner Freiheit (wo sich die gemeinsame innerstädtische Stammstrecke von U 3 und U 6 verzweigt) in einer Haltestellenanlage mit eigenwillig gestalteter Überdachung beginnt und, teils auf einer ehemaligen Güterbahntrasse, nach Schwabing Nord führt. Die Verbindung zum übrigen Münchner Tramnetz stellt eine eigens gebaute, rund 1 Kilometer lange Strecke her, die am Parzivalplatz abzweigt und lediglich von ein- und aussetzenden Zügen befahren wird. Nur diese bedienen dann auch die Haltestelle Kölner Platz.
Übrigens befinden sich lediglich drei der sieben Haltestellen der Linie 23 in bzw. an dem Neubaugebiet „Parkstadt Schwabing“, das man in anderen Städten vermutlich einfach durch einen Bus angebunden hätte. Zudem besteht in München bekanntlich kein Überangebot an Wohnraum, ein Neubaugebiet durch eine eigens errichtete Straßenbahnstrecke möglichst attraktiv zu gestalten, wäre von daher also gar nicht notwendig gewesen. Hier handelte es sich folglich um eine verkehrspolitische Entscheidung, wie sie leider nicht selbstverständlich ist.
Durch die Beschleunigung aller Münchner Tramlinien konnte die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit zwischen 1994 und 2004 um 22 Prozent erhöht werden. Ende 2013 betrug sie 19,1 km/h. Das Netz hat eine Streckenlänge von 79 Kilometern (1964 waren es 134 Kilometer gewesen), auf denen dreizehn Tages- und vier Nachtlinien verkehren. 2013 zählte die Münchner Verkehrsgesellschaft mbH (MVG), eine Tochter der Stadtwerke, bei der Straßenbahn 105 Millionen beförderte Personen (beim Bus 184 Millionen, bei der U-Bahn 384 Millionen). 1997 waren es erst 73 Millionen gewesen. Für die Planung zum Bau eines zweiten Betriebshofes (direkt neben der Hauptwerkstatt an der Ständlerstraße) sind die ersten Ausschreibungen kürzlich veröffentlicht worden.
Die jüngste Streckenneueröffnung wurde am 14. Dezember 2013 gefeiert, stellte jedoch nur eine kleine Netzergänzung dar: Statt am Pasinger Marienplatz zu enden, kann die Linie 19 im verkehrsberuhigten Zentrum dieses westlichen Münchner Stadtteils seither eine Schleife fahren. Dadurch wird der Pasinger Bahnhof mit seinem S-, Regional- und Fernbahnverkehr besser angebunden.
Bis dahin hatte die Lücke zwischen ihm und der Tram rund 250 Meter betragen. Zugleich wurden die Bushaltestellen am Bahnhof übersichtlicher angeordnet. Das Neubauvorhaben umfasste ungefähr 950 Meter Strecke.
Am anderen Ende Münchens, im östlichen Stadtteil Steinhausen, haben bereits die Vorarbeiten für die zirka 1,3 Kilometer lange Verlängerung vom Betriebshof Einsteinstraße zum S-Bahnhof Berg am Laim begonnen. Durch sie sollen ein Entwicklungs- und ein bereits bestehendes Gewerbegebiet erschlossen werden. Nach vielen Jahren erhält damit auch die rund 1,4 Kilometer lange Strecke vom Max-Weber-Platz zum Betriebshof wieder regulären Linienbetrieb. Die Bauarbeiten sollen im Frühjahr 2015 beginnen, als „ehrgeiziges Ziel“ wird eine Eröffnung Ende 2015 angestrebt.
Vergleichsweise bescheiden nimmt sich dies jedoch gegen die Westtangente aus, das größte Neubauprojekt bei der Münchner Straßenbahn seit einem halben Jahrhundert: Vom Romanplatz in der Nähe des Schlosses Nymphenburg soll die Strecke durch die Wotanstraße zunächst nach Südwesten führen und dann geradlinig nach Süden die Fürstenrieder Straße entlang, vorbei am S-Bahnhof Laim, dem westlichen U 5-Endpunkt Laimer Platz und an der U 6-Station Holzapfelkreuth. An der Autobahn München-Garmisch soll sie Richtung Osten schwenken und über die Boschetsrieder Straße zum Bahnhof Aidenbachstraße der U 3 in Obersendling verlaufen. Die gesamte Trasse, die auch zwei andere Tramstrecken kreuzt, wird bisher von der Metrobuslinie 51 bedient. Durch die Westtangente erhielte auch der große Waldfriedhof wieder eine Anbindung an das Schienennetz, zu dem bis 1993 eine Straßenbahn gefahren ist.
Wie der Name „Westtangente“ schon andeutet, handelt es sich dem Projekt um eine Querverbindung am Rande der Innenstadt, die so entlastet werden soll. Auch in den von dieser Strecke durchquerten Gebieten wird ein Wachstum von Wohnund Arbeitsstätten erwartet. Sie soll 15 Haltestellen haben und knapp 9 Kilometer lang sein – zum Vergleich: die Berliner Straßenbahnlinie M 10 vom Nordbahnhof zum U-Bahnhof Warschauer Straße misst „nur“ 7,8 Kilometer.
Derzeit befindet sich das Projekt, das den vorläufigen Höhepunkt der Renaissance der Münchner Tram darstellen würde, in der Entwurfs- und Genehmigungsplanung. Diese muss dann noch einmal vom Stadtrat bestätigt und anschließend der Regierung von Oberbayern vorgelegt werden.
Freilich hat die Straßenbahn auch in München mit Widerständen zu kämpfen. So wird der Bau einer Nordtangente zwischen Schwabing und Bogenhausen mit der Querung des Englischen Gartens, die eine gut 2 Kilometer lange Lücke im Tramnetz schließen würde, seit Jahrzehnten erfolgreich verhindert. Und gegen die Westtangente streitet allen voran die CSU und lässt sich dabei auch nicht von Fakten beeindrucken: Waren zum Beispiel für den am stärksten frequentierten Trassenteil in der Arnulfstraße zur Wiedereröffnung 11 500 Fahrgäste täglich prognostiziert worden, sind es inzwischen fast doppelt so viele. Ebenso übertrafen andere wieder- oder neu eröffnete Strecken die in sie gesetzten Erwartungen.
Auch haben die Stadtratsfraktionen von CSU und SPD gerade für den Bau neuer U-Bahn-Strecken plädiert (siehe SIGNAL 6/2014 ). Neben Verlängerungen an der Peripherie geht es dabei insbesondere um eine „U 9-Spange“ genannte zweite Stammstrecke für die U 3/U 6, westlich von der 1971 in Betrieb genommenen. Zwischen Münchner Freiheit oder Giselastraße in Schwabing und Implerstraße in Sendling die Innenstadt durchquerend, soll sie den bestehenden Tunnel und wichtige Umsteigestationen entlasten, auch diese beiden Linien an den Hauptbahnhof anbinden und neue Direktverbindungen ermöglichen. MVG und Stadtwerke haben für das Projekt – das sie angesichts des prognostizierten weiteren Wachstums der Bevölkerung und der Fahrgastzahlen als dringlich für die Zeit nach 2020 erachten – eine bauliche Machbarkeitsstudie erstellt.
Zudem wird nach wie vor darüber nachgedacht, die Stammstrecke der S-Bahn zwischen Haupt- und Ostbahnhof durch einen zweiten, etwas weiter nördlich verlaufenden Tunnel zu ergänzen. Anders als beim zweiten Berliner Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel besteht dafür tatsächlich Bedarf, da die einzige innerstädtische Ost-West-Verbindung der S-Bahn überlastet ist und sich Verspätungen und andere Störungen sofort auf das ganze Netz auswirken.
Oberirdische Alternativen für eine solche Entlastungsstrecke wurden verworfen – obwohl für diese Verbindung ebenso wie bei den U-Bahn-Bauplänen die Finanzierungsfrage offen ist. Allein schon die drei unterirdischen Bahnsteighallen am Hauptbahnhof um zwei weitere zu ergänzen, dürfte schwierig und teuer werden.
Vielleicht sollte man in München lieber einmal darüber nachdenken, die Straßenbahn auch im Stadtzentrum auszubauen?
Weitere Infos:
www.mvg-mobil.de/projekte/index.html
Jan Gympel
aus SIGNAL 1/2015 (Februar/März 2015), Seite 18-20