Aktuell
Am 3. April haben Klaus Landowsky und Klaus Böger ihr Konzept einer „Berliner Nahverkehrs-Holding” der Öffentlichkeit vorgestellt. Die von beiden vorgelegten Ausführungen sind unehrlich und zeugen von fachlicher Inkompetenz. Zugleich sind sie aber auch das Eingeständnis, daß sich die große Koalition von allen bisherigen Absichtserklärungen einer stadtentwicklungspolitisch, verkehrlich, umweltpolitisch und sozial verantwortbaren Verkehrspolitik verabschieden will.
1. Mai 1998
Die tatsächlichen Ziele der beiden Politiker sind ein weitgehender Ausstieg des Landes Berlin aus der Verantwortung für den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) und die Einsparung von öffentlichen Geldern. Dies geht zulasten der Fahrgäste und der BVG-Mitarbeiter. Nur das von Landowsky/Böger genannte Ziel „Entlastung des Haushalts" ist ehrlich. Die vier anderen Ziele (Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, Aufbau Berlins zum verkehrlichen Kompetenzzentrum, Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs in Berlin, Stärkung der BVG) werden nicht erreicht und rücken durch die aktuelle Verkehrspolitik und durch die neuen Pläne in immer weitere Ferne.
1. Durch die angestrebte Einsparung von Verkehrsleistungen werden weder Arbeitsplätze sicherer noch wird der Nahverkehr besser oder die BVG gestärkt. So viel Ehrlichkeit kann man sogar von Politikern erwarten!
2. Die katastrophale Finanzsituation der BVG ist nicht das Ergebnis falscher Unternehmenspolitik, sondern falscher Senatspolitik. Die Streichung vertraglich vereinbarter Zuschüsse, die ständige Benachteilung von Straßenbahn und Bus gegenüber dem Autoverkehr, die Altlast des teuer und aufwendig gebauten Berliner U-Bahn-Netzes und die West-Berliner Personalpolitik, die aus der BVG eine Versorgungsanstalt machte, sind einige der wahren Ursachen für die Misere.
3. Die gute Finanzsituation der S-Bahn Berlin GmbH ist auch das Ergebnis guter Unternehmenspolitik, vor allem aber das Ergebnis einer angemessenen finanziellen Ausstattung durch Bundesgelder. Hier wird entsprechend den Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern zum Regionalisierungsgesetz eine Überprüfung („Revision") erfolgen. Es ist naiv zu glauben, daß auch künftig nennenswerte Überschüsse aus Geldern des Bundes zur Verfügung stehen, die zur Finanzierung verkehrlicher Verpflichtungen des Landes Berlin transferiert werden können.
4. Die Ausgründung der Berliner S-Bahn aus der „großen Bahn" ebenso wie die Übernahme lokaler Bahnstrecken durch lokale Betriebsgesellschaften in vielen Bundesländern haben gezeigt, daß Dezentralisierung zu verkehrlichen und wirtschaftlichen Verbesserungen führt. Wieso nun in Berlin plötzlich eine „Elefantenhochzeit" Vorteile für Fahrgäste und Wirtschaftlichkeit bringen soll, bleibt Geheimnis von CDU und SPD.
5. Aufgrund von EU-Recht muß künftig eine Trennung zwischen Besteller und Betreiber von Verkehrsleistungen erfolgen. Der Besteller - hier das Land Berlin, künftig vertreten durch die Verbundgesellschaft - gibt vor, wo welche Leistungen gefahren werden sollen. Er schreibt diese aus, erteilt dem günstigsten Betreiber den Auftrag und bezahlt dafür. Eine Zusammenlegung von BVG und S-Bahn wäre also eine rein unternehmensorganisatorische Maßnahme, die nichts mit der Notwendigkeit zur Ausschreibung und mit dem vom Senat zu verantwortenden Umfang an Verkehrsleistungen zu tun hat. Wenn der Senat (fälschlicherweise) meint, daß in Berlin zu viele Nahverkehrsleistungen gefahren werden, und dies angeblich oft auch noch im Parallelverkehr, hat er seine Rolle noch nicht verstanden. Um Verkehrsleistungen besser koordinieren zu können, ist in Form der Verbundgesellschaft nach den schweren Geburtswehen eine praktikable Lösung gefunden worden - man braucht dazu nicht zwei Betreiber zusammenzulegen.
6. Wer weiß, ob ein Elefant BVG/S-Bahn bei Ausschreibungen von Verkehrsleistungen, z.B. im Busbereich, überhaupt zum Zuge kommen wird? Angesichts niedrigerer Löhne anderer Busunternehmen werden diese sich vermehrt durchsetzen können. Also wird auch der neue Betrieb hier reagieren müssen, durch Lohnsenkungen ebenso wie durch betriebsbedingte Kündigungen. Dem stehen aber alte Versprechen des Regierenden Bürgermeisters Diepgen entgegen. Also will man diese unangenehme Arbeit der Bahn AG übertragen, um die eigenen Hände in Unschuld waschen zu können.
7. Wer bei der BVG nach Jahren beachtliche Rationalisierungserfolge noch immer Einsparpotential von 600 Mio DM sieht, sollte ehrlich sagen, daß er eine Verkehrs-, sozial- und umweltpolitisch verantwortbare Politik nicht mehr will. Derartige Einsparungen erfordern drastische Reduzierungen bei Bahn und Bus. Damit wird die Mobilität all derer, die gezwungenermaßen oder auch freiwillig ohne Auto leben, dramatisch eingeschränkt werden. Viele Berliner werden somit zu Mobilitätsbehinderten.
8. Als Einsparpotential wird Parallelverkehr genannt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es Parallelverkehre über längere Strecken zwischen Bahn- und Buslinien bereits seit den 80er Jahren nicht mehr. Auch künftig ist es sinnvoll und unverzichtbar, zum Erreichen von Einkaufszentren oder wichtigen Umsteigeknoten über ein oder zwei Stationen Linien parallel zu führen. Werden die Fahrgäste kurz vor Erreichen wichtiger Ziele zum Umsteigen gezwungen, verliert der ÖPNV weitere Fahrgäste. Die Einnahmesituation würde sich weiter dramatisch verschlechtern.
9. Wegen der polyzentrischen Stadtstruktur und der Linienstruktur des
U-Bahn-Netzes müssen Fahrgäste schon heute häufig umsteigen. Jedes Umsteigen
ist mit Einschränkungen und aufgrund zum Teil langer Umsteigewege und
langer Taktzeiten mit deutlichen Reisezeitverlängerungenverbunden. Zugleich
werden damit gehbehinderte Menschen und solche mit Gepäck oder
Kinderwagen benachteiligt. Jedes Umsteigen ist beschwerlich, weil
viele Bahnhöfe und Fahrzeuge auf Jahre hinaus nicht behindertengerecht
sind und auch nicht entsprechend ausgerüstet werden.
Andere Städte mit höheren Kostendeckungsgraden zeigen: Parallelverkehre
in begründeten Fällen sind verkehrlich sinnvoll und wirtschaftlich.
10. Parallelverkehr in erweiterter Definition mit rechnerisch hohen Einsparpotentialen gibt es bei den U-Bahn-Strecken, die in West-Berlin zu Zeiten des "Kalten Krieges" parallel zu vorhandenen S-Bahn-Strecken gebaut wurden. Die U8 ist auf dem Nordabschnitt parallel zur S1 (Nordbahn) nicht ausgelastet. Dasselbe wird beim U7-Westast nach Spandau eintreten, wenn die S-Bahn ab Ende 1998 bis Spandau fährt. Um diese U-Bahn-Strecken künftig nicht mit Geisterzügen oder unattraktiven Takten zu befahren, muß die Verkehrs- und Tarifpolitik des Senates zugunsten des ÖPNV verändert werden.
11. Der Senat hat aus diesen Erfahrungen nichts gelernt. Andernfalls müßte er die Neubaupläne für die U5-West vom Alexanderplatz zum Lehrter Zentralbahnhof sofort auf unbestimmte Zeit verschieben. Die hier prognostizierten Fahrgastzahlen werden, wenn überhaupt, nur durch Abwanderung von vorhandenen parallelen S- und U-Bahn-Strecken erreicht, deren Betrieb damit unwirtschaftlicher wird. Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert zum wiederholten Mal, den Bau der U 5 so lange zurückzustellen, bis dieses Vorhaben durch tatsächlichen Neuverkehr verkehrlich und wirtschaftlich gerechtfertigt wird. Voraussetzung dafür ist jedoch eine grundsätzlich andere Verkehrspolitik, von der Berlin weiter denn je entfernt ist.
12. Wenn es entsprechend den Vorstellungen von CDU und SPD zu massiven Einschränkungen beim ÖPNV-Angebot kommt, wandern viele auf das Auto ab. Infolgedessen nehmen die Verkehrsprobleme zu, und es werden dann breitere und zusätzliche Straßen gefordert - und gebaut - werden; für Straßenbau war in Berlin immer genug Geld da. Durch den ÖPNV-Abbau wird der Landeshaushalt nur bis zum Beginn massiver Straßennetz-Investitionen entlastet. Diese erfolgen wie immer ohne Angabe der späteren, vom Land Berlin kontinuierlich zu zahlenden Folgekosten. Solche Kosten werden stets nur bei Bahn und Bus ausgerechnet.
13. Es mangelt nicht an Konzepten für attraktiveren und wirtschaftlicheren ÖPNV. Doch diese werden seit Jahren ignoriert. Das sog. Verkehrskompetenzzentrum Berlin wird immer mehr zum Anschauungsbeispiel für eine rückschrittliche Verkehrspolitik, die die Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel im wesentlichen als Finanzproblem betrachtet.
IGEB
aus SIGNAL 3/1998 (Mai 1998), Seite 4-5