Stadtverkehr
Stellen Sie sich mal vor: Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert, dass in Berlin neue U-Bahn-Strecken gebaut werden müssen, zum Beispiel eine Verlängerung der U-Bahn-Linie 1 vom Endbahnhof Warschauer Straße zum Ostkreuz. Widerspruch, Kopfschütteln, ja mitleidiges Lächeln über so viel Naivität wären den Fahrtgastvertretern sicher gewesen.
13. Apr 2015
Haben die denn nicht mitbekommen, was Sache ist? Bis mindestens 2020 baut Berlin an der U5 zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor – natürlich mit ungeplanten Mehrkosten. Bis 2030 könnte es dauern, bis die sogenannte S 21, also der zweite Nordsüd-Tunnel der S-Bahn von Gesundbrunnen über Hauptbahnhof zum Potsdamer Platz fertig ist. Die Kosten für dieses Projekt explodieren zwar, aber will die IGEB hier weit über 100 Millionen Euro, die bisher für die S 21 verbaut wurden, ungenutzt liegen lassen? Wäre angesichts der vielen Sperrungen des alten kurvenreichen Nordsüd-Tunnels, wie gerade jetzt wieder für vier Monate, eine zweite Nordsüd-S-Bahn nicht ein Segen für die Fahrgäste? Die S 21 kommt also – koste es, was es wolle.
Deshalb hat das Land Berlin in den nächsten 15 Jahren, so hätte man den IGEB-Vertretern vorgerechnet, kein Geld für weitere Großprojekte. Zumal ja unklar ist,
ob es für die Zeit nach 2019 eine Nachfolgeregelung zum Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) gibt, ob also der Bund weiterhin Investitionsgelder für kommunale Verkehrsinfrastruktur bereitstellt.
Genug der Fiktion. Die IGEB hat nie eine Verlängerung der U 1 zum Ostkreuz gefordert. Aber seit Monaten wird in Berlin über genau dieses Projekt diskutiert. Ingulf Leuschel, Konzernbeauftragter der Deutschen Bahn für Berlin, hatte die Idee und konnte die BVG dafür gewinnen. Diese hat daraufhin Studien zur technischen Machbarkeit, zu den ungefähren Kosten und zu den verkehrlichen Auswirkungen erstellt bzw. erstellen lassen. Das Ergebnis: Die U 1 kann und soll von der Endstation Warschauer Straße als Hochbahn parallel zur S-Bahn über einen Zwischenhalt „Modersohnbrücke“ zur neuen Endstation Ostkreuz verlängert werden.
Als das bekannt wurde, hat sich der Berliner Fahrgastverband IGEB am 23. November 2014 in einer Presseerklärung deutlich gegen diese Projekt ausgesprochen, denn eine U-Bahn-Verlängerung vom S-Bahnhof Warschauer Straße zum Ostkreuz ist bautechnisch sehr anspruchsvoll, erfordert aufwändigen Lärmschutz und ist mit Sicherheit nicht unter 200 Millionen Euro zu realisieren. Die von der BVG genannten 120 bis 140 Millionen Euro sind unrealistisch.
Hinfällig wären mit dem BVG-Projekt auch die langjährigen Planungen, für die vielen Umsteiger zwischen U-Bahn- und S-Bahnhof Warschauer Straße den Fußweg durch eine Verschiebung des U-Bahnhofs zu verkürzen. Im Gegenteil: Mit der U1-Verlängerung wäre das ebenerdige Verlassen des U-Bahnhofs nicht mehr möglich. Umsteiger zur S-Bahn und zur Straßenbahn auf der Warschauer Straße müssten das U-Bahn-Gleis Richtung Westen mit vielen Treppenstufen unter- oder überqueren. Und Aufzüge wären erforderlich.
Natürlich hätte eine U1-Verlängerung viele Fahrgäste. Aber ein erheblicher Teil davon wären Umsteiger von der S-Bahn und auch von der Straßenbahn. Dass eine U1-Verlängerung somit nachteilige Auswirkungen auf das umgebende Straßenbahnangebot in Friedrichshain hätte, ist der BVG bewusst.
Doch es droht noch eine weitere Gefahr: Da mit einer U1-Verlängerung Vorleistungen auf der S-Bahn-Strecke zwischen Warschauer Straße und Ostkreuz erforderlich oder zumindest sinnvoll sind, würde der laufende S-Bahn-Umbau ein weiteres Mal verzögert werden. Hohe Mehrkosten und ein Jahr Verzögerung gab es ja bereits durch die Vorleistungen am Ostkreuz für eine eventuelle Verlängerung der Autobahn A100.
Aus all diesen Gründen hat sich der Berliner Fahrgastverband IGEB seit November 2014 wiederholt gegen eine U1-Verlängerung ausgesprochen – und ist dafür insbesondere von vielen BVG-Mitarbeitern kritisiert worden.
Es ist ein Phänomen, dass sich bei der BVG viele für dieses Projekt regelrecht begeistern. Vermutlich sind das eher psychologische als sachliche Gründe. Denn ein großer Teil der Straßenbahnprojekte wird einen günstigeren Nutzen-Kosten-Faktor erreichen, als dieses und auch andere U-Bahn-Projekte. Aber bei der U-Bahn sehnt man sich nach einem Zukunftsprojekt. Auf unabsehbare Zeit nur den Bestand zu pflegen, während Straßenbahn und Bus ihr Netz erweitern, ist perspektivlos. Da ist es verlockend, mit einer nur 1,5 km langen oberirdischen Neubaustrecke zu Berlins wichtigstem Bahnhof Ostkreuz zu fahren, dessen Bedeutung mit dem Halt der Regionalzüge noch steigen wird.
Außerdem muss die U-Bahn etwas für ihr Image tun, denn sie ist wegen ihrer Probleme beim Fahrzeugpark zu Recht in die Kritik geraten. Immer wieder wurde und wird befürchtet, dass der Berliner U-Bahn eine ähnliche Fahrzeugknappheit wie der S-Bahn nach dem Zusammenbruch 2009 drohen könnte. Immer wieder musste die U-Bahn es ablehnen, bei S-Bahn-Bauarbeiten auf den Umfahrungstrecken zusätzliche U-Bahn-Züge zu fahren.
Jahrelang wurde der IGEB-Forderung nach Anschaffung neuer Fahrzeuge für das Großprofilnetz von Finanzsenator, Verkehrssenator und BVG widersprochen. So ging wertvolle Zeit verloren. Regelmäßig muss die BVG nun zu kurze Züge einsetzen, weil ihr Großprofil-Fahrzeuge fehlen.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es nun durch die guten Steuereinnahmen des Landes Berlin 2014. Davon bekommt die BVG 58 Millionen Euro für neue U-Bahn-Fahrzeuge im Großprofilnetz. Geplant waren sieben Züge mit sechs Wagen. Weil es aber zur Behebung der aktuellen Probleme zu lange dauern würde, bis die unvermeidbare Entwicklung einer neuen Baureihe für das Großprofil abgeschlossen ist, hatte die BVG die Idee, eine Option zur Bestellung weiterer IK-Züge (siehe auch Seite 10) zu ziehen und diese Kleinprofilzüge dann (mit „Blumenbrettern“ versehen) im Großprofilnetz einzusetzen. Nach derzeitigem Stand reicht das Geld für elf Vier-Wagen-Einheiten.
Beim Fahrzeugpark und bei der Sanierung und Modernisierung der vorhandenen Strecken und Bahnhöfe, gibt es so viel zu tun, dass der BVG eigentlich keine Zeit bleiben dürfte, sich Phantom-Projekten wie der U1-Verlängerung zum Ostkreuz zu widmen.
Das heißt natürlich nicht, dass Berlin sich für die fernere Zukunft nicht auch Gedanken machen muss, ob und wo zumindest langfristig das U-Bahn-Netz sinnvoll zu ergänzen ist. Aber das ist Aufgabe des Landes Berlin. Das muss im Rahmen des nächsten Stadtentwicklungsplans Verkehr passieren – durch den Berliner Senat und nicht durch die BVG.
Die BVG hat mit dem U1-Projekt nicht nur die Zuständigkeit des Verkehrssenators missachtet, sie hat auch viel Geld (Fahrgeldeinnahmen!) für Untersuchungen ausgegeben, für die sie gar nicht zuständig ist – will aber zum 1. Januar 2016 schon wieder die Fahrpreise erhöhen. Infrastrukturplanungen wie eine U1-Verlängerung zum Ostkreuz gehören in die Hand des Verkehrssenators und sind aus seinem Etat, also aus Steuergeldern statt Fahrgeldern, zu bezahlen.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 2/2015 (April/Mai 2015), Seite 8-9