Reise & Bericht
„Die Reichsautobahn muß wie die chinesische Mauer, wie die Akropolis der Athener, wie die Pyramiden Ägyptens ein Turm im Weichbild der Weltgeschichte werden, muß dastehen wie ein Herzog in der Heerschau menschlicher Werke”, hatte Emil Maier-Dorn, Schulungsleiter der Autobahnbauer, 1938 getönt. Von der Substanz der Autobahnen, von denen 3819 Kilometer offiziell in Betrieb genommen wurden, ist nicht mehr viel übrig. Bis heute üben sie dennoch eine starke Faszination aus.
1. Jun 1998
Als angebliche technische wie politische Großtat werden die Autobahnen noch immer einer positiven Seite der NS-Bilanz zugerechnet Und bis heute zeigt das Verkehrszeichen für „Autobahn" jene zwei hellen Bänder, von einem dünnen dunklen Streifen getrennt, als die sich die Reichsautobahnen anfangs darboten (noch vor Kriegsbeginn wurden die weißen Straßen freilich aus Gründen des Luftschutzes geschwärzt). Die gesamte Vorgeschichte, Entstehung, Zerstörung und das weitere Schicksal der Reichsautobahn inklusive des historischen Umfeldes darzustellen, würde es wohl eines Werkes von Telefonbuchdimensionen bedürfen. Erhard Schütz und Eckhard Gruber widmen sich daher in ihrem Buch vor allem eben diesem Mythos der „Straßen Adolf Hitlers". Trotz dieser notwendigen Beschränkung gelingt ihnen eine recht instruktive Darstellung der Geschichte dieser nach NS-Lesart„Weltwunder des 20.Jahrhunderts" samt der wesentlichsten Fakten.
So kommt leider die Auseinandersetzung zu kurz, welcher Baustil der Reichsautobahn insbesondere bei deren großen Brücken angemessen sei, deren Gestaltung wesentlich von Friedrich Tamms und Paul Bonatz, dem Architekten des Stuttgarter Hauptbahnhofes, beeinflußt wurde: Die Tradition beschwörende und jahrhundertelange Existenz verheißende Steinviadukte („Diese Bauwerke sollen nicht gedacht sein für das Jahr 1940, auch nicht für das Jahr 2000, sondern sie sollen hineinragen gleich den Domen unserer Vergangenheit in die Jahrtausende der Zukunft", gab ihnen Fritz Todt 1937 auf). Oder Stahl- und Betonkonstruktionen von kühner Modernität, die man auf den ersten Blick eher der Ästhetik der fünfziger Jahre zuschreiben würde. Vermieden werden sollten im Ringen um eine „deutsche Technik" hochaufragende Bögen oder Stabwerk - all dies erinnerte zu sehr an die Eisenbahn und die angeblich seelenlosen Ingenieursbauten der Vor-NS-Zeit.
Doch womit sich das Buch ausführlicher beschäftigt, ist interessant genug: Etwa, wie es die Nazis verstanden, die Autobahnen nach und nach als höchstpersönliche Erfindung Hitlers auszugeben; in Wahrheit konnte dessen erster Spatenstich nur deshalb schon am 23.September 1933 erfolgen, weil bereits zu Weimarer Zeiten detaillierte Baupläne ausgearbeitet worden waren, die sich jedoch nicht gegen Widerstände von Reichsbahn, Industrie und auch der NSDAP durchsetzen ließen. Gründlich räumen die Autoren auch mit der Legende auf, mit dem Autobahnbau seien „die Arbeitslosen von der Straße geholt" worden: Sechs Millionen Erwerbslose gab es bei Machtübernahme der Nazis, der Höchststand der Beschäftigten im Autobahnbau war erst dreieinhalb Jahre später erreicht - mit nicht einmal 125.000 Personen und nochmal etwa ebensovielen in der Zulieferindustrie. Auf den Baustellen wurde Knochenarbeit für einen Hungerlohn geleistet, der unter dem Wohlfahrtssatz lag, die Unterkünfte waren erbärmlich, Arbeitstempo und -bedingungen mörderisch, Unfälle an der Tagesordnung; nach fünf Jahren kam auf jeden sechsten fertiggestellten Kilometer ein tödlich verunglückter Arbeiter. Letztlich konnte auch dieses „grandiose Werk" der Nazis nur durch massive Einschüchterung bis hin zum offenen Terror von Gestapo und SA verwirklicht werden.
Wichtig war das propagandistische Potential, das die Autobahnen boten: Ein nationales Werk, das - zumindest potentiell - das ganze Reich erfaßte und mit dessen Bau an vielen Stellen gleichzeitig begonnen werden konnte (anfangs folgte jeder Landnahme denn auch prompt der umgehende Autobahnbaubeginn, ob in Österreich, Böhmen oder Danzig). Und ein Werk das, anders als bei Gebäuden, nicht nur zu Grundsteinlegung, Richtfest und Einweihung Anlaß zu pompösen Feiern bot. Die 187 Kilometer lange Strecke zwischen Frankfurt am Main und Kassel wurde beispielsweise im Laufe von 26 Monaten in zehn (!) Teilstücken dem Verkehr übergeben, jeweils mit großem Tamtam.
Mehr als Propaganda war hingegen die Vorstellung von der Autobahn als einem Vehikel zur Einigung des Reiches. Und in kaum einem anderen Projekt schlagen sich Wahn wie Widersprüchlichkeit der real existierenden Nazi-Ideologie deutlicher nieder: Zum einen waren die Autobahnen Ausweis der eigenartigen Modernität, die das doch eigentlich militant reaktionäre „Dritte Reich" in eher Hinsicht besaß. Wie den Massentourismus oder den Ausbau des Fernsehens zum alles beherrschenden Medium leiteten die Nazis auch die Massenmotorisierung ein; die Autobahnen wurden dabei auf Vorrat gebaut. Zum anderen sollten sie als Paradebeispiel für den von den Nationalsozialisten gewiesenen Ausweg aus dem modernen Zeitalter dienen, „als ins Werk gesetzte Versöhnung von Technik, Kultur und Natur", wie Schütz und Gruber schreiben: „Autowandern (man dachte bei den Autobahnen mehr an die Wochenenderholung denn an den Berufsverkehr oder Gütertransporte, J.G.) war folglich die motorisierte Fortsetzung des 'Wandervogel'". Fast alle der an der Konzeption und Realisierung der Streckenführung und Infrastruktur Beteiligten seien aus der völkischen oder der naturschwärmerischen Jugendbewegung gekommen, die seit der Jahrhundertwende von der „Gesundung" des modernen Menschen durch die Natur geträumt hatte. Immens wichtig war bei den neuen Straßen folglich der ästhetische Aspekt, der im Selbstverständnis der Nazis ja stets eine große Rolle spielte: Die Autobahnen sollten sich als „schwingende Bahnen" harmonisch in die Landschaft einfügen und diese verschönen, Kunstwerke und geistig-moralische Kraftwerke für die „Volksgenossen" sein, die von ihnen aus schon bald im Volkswagen das „Kunstwerk" des „neuen", nationalsozialistischen Deutschland betrachten sollten. „Die Autobahn war eine, wenn nicht DIE Kultstätte des 'Dritten Reiches'."
In zunehmendem Maße wurden die Autobahnen weniger nach verkehrlichen als nach ästhetischen Gesichtspunkten geplant, nach Kriterien der klassischen englischen Gartenarchitektur Durchblicke und Rahmenschauen in die tief gestaffelte Landschaft eingebaut, auf malerische Blickführungen und wechselnde Panoramen geachtet (Schütz und Gruber erinnern daran, wie stark generell Aspekte des Gartenbaus die NS-Vorstellungen von einer „gesunden" Gesellschaft und „Rassenpflege" bestimmten und wie symptomatisch es ist, daß man diejenigen, die dabei angeblich störten, vornehmlich mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel ermordete). Rasen war verpönt und verboten: Hitler persönlich legte die Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h fest, im Krieg wurde sie gar auf 80 km/h reduziert. Der immer wieder behauptete militärische Wert der Autobahnen war dagegen fast null: Erst im März 1939 begann man überhastet zu prüfen, ob die Brücken überhaupt schwere Fahrzeuge aushalten würden, an den - aus ästhetischen Gründen eingebauten - starken Steigungen wären Panzer wohl ohnehin gescheitert. Schon damals wußte man auch, daß ein Gütertransport via Straße mehr Energie erfordert als über die Schiene, außerdem wäre das noch kleine Autobahnnetz für Angriffe viel anfälliger gewesen wäre als das riesige Eisenbahnsystem.
Schließlich war es nicht zuletzt die Wehrmachtsspitze, die im Spätsommer 1941 - als längst Autobahnen für das ganze besetzte Europa geplant wurden - den Baustopp bewirkte. Sehr wohl eine strategische Rolle spielte dagegen die Schaffung eines großes Reservoirs an Baumaschinen, Erfahrungen mit dem Masseneinsatz von Arbeitern und der Organisation weiträumiger Bauaufgaben - wichtig für die Errichtung und Ausbesserung von Nachschubstraßen, den Bau von Bunkern und militärischer Anlagen. Nicht zufällig hatte der legendenumwobene „Ingenieurminister" Fritz Todt bevor er den Bau des Westwalls leitete und schließlich zu Hitlers Rüstungsminister aufstieg, als „Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen" über die Autobahnen gewacht - über ihre Entstehung wie ihren Betrieb und ihre Darstellung in der Öffentlichkeit.
Schütz und Gruber, die eine wissenschaftlich exakte Arbeitsweise mit einem flüssigen Schreibstil zu verbinden wissen, können es sich nicht verkneifen, in ihrem Resume eine enge Verbindung vorzunehmen zwischen dem Rausch, in den man bei Benutzung der Autobahnen verfallen konnte und dem Wahn des Nationalsozialismus, der in wie besinnungslos verübten Verbrechensorgien endete und in einem fast wollüstig inszenierten Untergang. Aber war dies denn der einzige verheerende Kollektivwahn dieses Jahrhunderts? Haben denn auch andere autobahnbauende Staaten und Systeme im schaurigschönen Untergang geendet? Sind die Deutschen, die in ihrer Mehrheit wohl kaum etwas so sehr lieben wie die Autos und die „freie Fahrt für freie Bürger", deshalb noch immer potentielle Nazis? Und wenn auch die vielgelobte Landschaftsqualität der Reichsautobahn „nicht ideologiefrei" gewesen ist - ist deshalb eine gradlinig durch die Natur geschlagene Straße „antifaschistisch"?
Statt sich am Ende noch einmal zu einer etwas gewaltsamen Generaldenunzierung der Reichsautobahn zu versteigen, hätten die Autoren einen einfacheren und sinnfälligeren Abgesang auf die „Straßen des Führers" vornehmen sollen: Die von der Wehrmacht gesprengten Brücken - für Schütz/Gruber nicht zu unrecht Symbole des Debakels, in dem der Nationalsozialismus endete - wurden nämlich wieder aufgebaut, das Netz an Hand der Streckenpläne aus der NS-Zeit vergrößert. Doch längst hat die von den Nazis herbeigesehnte Massenmobilisierung (von deren Folgen man sich offenbar nicht die geringsten Vorstellungen machte) die „Pyramiden des Dritten Reiches" aufgefressen: Begradigte und abgeflachte Strecken, sechsspurig und von Leitplanken umschlossen, endlose Blechlawinen, Lärm und Gestank, schließlich gigantische Staus und ein permanenter Krieg unter den Fahrern (der übrigens schon in den dreißiger Jahren begann, wie man in dem Buch erfährt) - der Mobilitätsrausch hat längst zu immer häufigerem Stillstand geführt, die Autobahnen von heute sind Fremdkörper in der Landschaft, Alpträume für viele Benutzer wie Anwohner und kein ästhetisches Erlebnis mehr. Schade, daß das Buch diese Brücke in die Gegenwart nicht schlägt.
Erhard Schütz, Eckhard Gruber: Mythos Reichsautobahn. Ch. Links Verlag, Berlin 1997. 180 Seiten mit zahlr. Abbildungen, 68 DM.
Jan Gympel
aus SIGNAL 4-05/1998 (Juni 1998), Seite 32-33