Titelthema 150 Jahre Straßenbahn

Gute Straßenbahn-Beispiele aufnehmen statt alte Fehler neu machen

Was Berlin beim Blick über die Stadtgrenzen lernen kann


IGEB Stadtverkehr

25. Jun 2015

Das ist KEIN Park, sondern der attraktiv gestaltete Mittelstreifen einer vierspurigen Straße im französischen Dijon. Solche Straßenbahn-Strecken rufen auch keine Proteste von Bürgern bei der Planung hervor Foto: Artur Frenzel

Immer, wenn der Senat begründen wollte, warum in Berlin neue Straßenbahnstrecken nicht möglich sind, wurde mit einer angeblichen Sonderstellung dieser Stadt argumentiert. Gute Beispiele aus anderen Städten wurden dadurch abgewertet, dass die betreffenden Vorbilder als mit Berlin nicht vergleichbar dargestellt wurden, meist mit dem Satz garniert, dass eine so kleine Stadt wie Karlsruhe, Bremen, Kassel usw. nicht mit der Metropole dieses Landes in einen Topf geworfen werden könne. Zu Ende gedacht bedeutete das aber, dass die Berliner alles neu erfinden müssten: Straßen, Wasserleitungen, Ämter und eben auch Straßenbahnen, denn keine andere Stadt in Deutschland ist mit Berlin vergleichbar. Jeder sieht sofort ein, dass diese Argumentation unhaltbar ist, und auch der Senat weiß das. Darum sollen an dieser Stelle Anregungen aus anderen Orten dazu dienen, einige Fehler der hiesigen Verkehrspolitik in Zukunft zu vermeiden oder für neue Probleme schon erfolgreich erprobte Lösungen parat zu haben.

Beispiel 1: Überfahrbare Haltestellenkaps

Das Grundprinzip eines überfahrbaren Haltestellenkaps ist hier schön zu sehen: Eine auf Wagenbodenniveau angehobene Fahrbahn, die für Autos weiter benutzbar bleibt (kein Platzverbrauch für Bahnsteige). Leider ist diese erste Ausführung in Berlin-Friedrichshagen durch den trotzdem vorhandenen Bordstein und das Kopfsteinpflaster für die Zielgruppe (Gehbehinderte, Rollstuhl- und Rollatorennutzer) nicht optimal. Foto: Artur Frenzel

Obwohl gerade in Berlin genug Platz für eigene Bahnkörper der Straßenbahn vorhanden ist, werden selbst Neubaustrecken wie in der Bernauer oder Invalidenstraße so geplant, dass sich die Straßenbahn im

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Stau hinten anstellen muss. Dabei ist seit den 1970er Jahren bekannt, dass eines der Hauptprobleme des Autoverkehrs der überproportionale Platzbedarf ist, der gerade bei Straßenumbauten für neue Straßenbahnen etwas eingedämmt werden könnte.

Wenn aber dieses Manko hier schon nicht angegangen wird, dann sollte wenigstens die Anlage der Haltestellen den neuesten Erkenntnissen der barrierefreien Zugänglichkeit entsprechen. Dazu gehören zum Beispiel erhöhte Zugangsbereiche (also Bahnsteige) für einen niveaugleichen Einstieg auf Wagenbodenhöhe. Wenn im Falle der angesprochenen Beispiele die Anlage der Trassen keine klassischen Bahnsteige zulässt, dann müssen wenigstens die Fahrbahnen, die den Platz des Bahnsteigs einnehmen, entsprechend angepasst werden. In vielen anderen Städten haben diese erhöhten Fahrspuren – überfahrbare Haltestellenkaps genannt – ihre Bewährungsprobe längst bestanden und die Autofahrer dort kommen damit auch gut klar, selbst bei zwei Fahrstreifen.

Beispiel 2: Integration von Gleistrassen in Parkanlagen

Finden Sie die Schienen? Ein schönes Beispiel für eine naturnahe Trasse in Leipzig. Dazu gehört auch, dass die Oberleitungsmasten nicht das Bild verstellen, sondern trotz Mehrkosten so platziert sind, dass der freie Blick über die Wiese erhalten bleibt. Foto: Michael Dittrich

In vielen Debatten der jüngeren Zeit wird von Straßenbahngegnern behauptet, neue Trassen verschandeln das Stadtbild. Bezeichnend daran ist, dass das von neuen Autobahnen nicht behauptet wird, obwohl es bei denen wirklich so ist – im Gegensatz zu Tramstrecken, die sich geradezu organisch in bestehende Strukturen einbinden lassen. Ein schönes Beispiel dafür sind Rasengleise in Parkanlagen, die man nahezu unsichtbar ausführen kann. Und als weiterer positiver Effekt wird bei dieser Ausführung im Gegensatz zu neuen Straßen auch nicht der Boden versiegelt. Das trifft natürlich nur auf die Bauarten mit Oberleitung zu, denn die neuen Techniken mit der Stromzuführung von unten benötigen einen massiven Unterbau. Im Gegensatz zu neuen Straßen gelingt bei Gleisen nicht nur die bauliche Integration, sondern auch die betriebliche. Schließlich kommt auch bei den sehr dicht befahrenen Strecken wesentlich seltener ein Zug als ein Auto auf der Straße – also ist das oft beschworene Gefahrenpotenzial für querende Fußgänger bei Straßenbahnen gering.

Beispiel 3: Bei Bauarbeiten unnötiges Umsteigen vermeiden

Gerade in Berlin, wo es wohl die breitesten Stadtstraßen Deutschlands gibt, wird bei Baustellen oft am Platz für den öffentlichen Verkehr gespart. So werden regelmäßig Straßenbahnlinien eingestellt, und durch Schienenersatzverkehr (SEV) entstehen für die Fahrgäste Umsteigezwänge.

Leipzig. Die Straßenbahn fährt eingleisig an der Baustelle vorbei, während der Autoverkehr umgeleitet wird. Offenbar funktioniert sogar im autofreundlichen Sachsen, was der Berliner Senat scheut. Foto: Michael Dittrich

In anderen Städten wird weiter gedacht und bei länger dauernden Baustellen werden provisorische Gleistrassen eingerichtet oder immer nur eines der beiden Streckengleise saniert und auf dem anderen gefahren. Dafür müssen die warm und trocken sitzenden Autofahrer eventuell auch mal in einer Richtung eine Umleitung fahren, aber angesichts der mit dem Umsteigen verbundenen viel größeren Härten für die Fahrgäste (Wetter, Anschlussverlust, geringerer Komfort im Bus, zu wenig Plätze gegenüber der Bahn usw) ist das eine vertretbare Lösung.

Eine andere Spielart dieses Problems sind Umleitungen. Wenn wirklich einmal eine Strecke voll gesperrt werden muss, dann bietet sich in einem so engmaschigen Netz wie in Berlin eine Umfahrung der Baustelle oft an. Dadurch müssen nur die unmittelbaren Anlieger der gesperrten Strecke in den Bus umsteigen und alle „Transitreisenden“ können in der Bahn sitzen bleiben.

Leider gibt es im hiesigen Straßenbahnnetz nicht genug Gleisverbindungen an den Kreuzungen, um alle Potenziale dieser Betriebsform ausnutzen zu können. Aber selbst wenn die BVG eine Linie wegen Umleitung einmal teilen muss, ist das immer noch eine Erleichterung für die durchfahrenden Fahrgäste, denn einmal Umsteigen ist besser als zweimal Umsteigen wegen SEV. Die IGEB fordert daher schon seit Jahren eine bessere Ausstattung des Netzes mit Gleisverbindungen für den Störungsfall.

Wenn mal was dazwischen kommt, dann kann die Leitstelle in Karlsruhe sofort Umleitungen anordnen, während die Berliner Straßenbahnen in einem langen Stau auflaufen, weil keine Weichen zum Abbiegen oder Wenden vorhanden sind. Foto: Artur Frenzel

Oft wurde dann entgegnet, dass das wegen der Umstellung des Betriebes auf Zweirichtungswagen nicht nötig sei, mithilfe von Kletterweichen könne man dann von beiden Seiten bis an die Baustelle heranfahren, und bei kurzen gesperrten Abschnitten (wie aktuell in Rummelsburg praktiziert) wäre ein Ersatzverkehr dann ganz entbehrlich. Dem ist zu widersprechen, weil es ja leider nicht nur langfristig geplante Baumaßnahmen gibt, sondern auch kurzfristige Sperrungen wegen Unfällen, Sportereignissen usw. Für diese Fälle sind fest eingebaute Gleisverbindungen unverzichtbar. Außerdem hat die BVG gerade bei den fassungsstarken neuen Flexity-Bahnen Bedenken, über Kletterweichen zu fahren, so dass die ganze Argumentation gegen eine Verbesserung der Infrastruktur haltlos wird.

Beispiel 4: Fahrgastinformation bei veränderter Betriebsführung

Gute Fahrgastinformation erleichtert die Orientierung bei veränderter Betriebsführung.

Alle Anstrengungen aus Beispiel 3 nützen nichts, wenn die Fahrgäste wegen falscher Information trotz guter Umfahrungsmöglichkeiten zum SEV mit mehrmaligem Umsteigen geschickt werden. Das hat sicher auch mit dem Geld des Verkehrsbetriebes zu tun, denn auch bei allen Baustellen-Unterbrechungen immer unverändert zu schildern, ist billiger, als jede Abweichung neu bebildern zu müssen.

Auch dafür gibt es gute Beispiele aus anderen Städten. So werden in Karlsruhe im Zusammenhang mit der großen Tunnelbaustelle in der Innenstadt auch extra Netzpläne mit Hervorhebung der gesperrten Abschnitte gedruckt. Und die veränderten Linienführungen sowohl in diesen Plänen als auch an und in allen Zügen erleichtern den Fahrgästen das Finden umsteigearmer Fahrtvarianten.

Die Baustelle dauert nur zweieinhalb Wochen, aber die Karlsruher Fahrgäste sind ihrem Verkehrsbetrieb ein extra Flugblatt wert, dass über das veränderte Liniennetz einfach und effektiv informiert. Quelle: VBK

Das beste Beispiel in dieser Kategorie gaben aber die Dresdner Verkehrsbetriebe beim Elbehochwasser im Jahr 2002. Dort wurden entsprechend den freigegebenen Strecken teilweise täglich aktuelle Linien-Netzpläne gedruckt und direkt an den wichtigen Umsteigehaltestellen an die Kunden verteilt. Bei einer solchen Vielzahl von Linienänderungen ist diese Lösung auch besser, als einen Text durch die Haltestellenanzeiger laufen zu lassen, bei dem der Fahrgast Minuten zum Lesen braucht – abgesehen davon, dass bei dem Hochwasser auch die Haltestellentechnik nicht mehr zur Verfügung stand.

Aber im Regelfall reicht es, die befahrene Strecke korrekt an den Zügen und Haltestellen anzuzeigen, um den erfahreneren Kunden damit Hinweise auf bessere Umsteige- und Fahrtmöglichkeiten zu geben und ihnen die Falle Ersatzverkehr zu ersparen.

Die hier aufgezeigten Möglichkeiten sind längst nicht vollständig, aber sie zeigen, dass die Straßenbahn kein unflexibles oder störendes, aber notwendiges Übel ist, sondern eine zeitgemäße Lösung für die verschiedensten Verkehrsfragen der modernen Stadt. Hoffentlich können die Berliner in Zukunft mehr davon profitieren! (af)

IGEB Stadtverkehr

aus SIGNAL 3/2015 (Juli 2015), Seite 16-18