Wartezonen des Grauens

Wer kennt das nicht: Die Bahnhöfe und Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sind wahre Kathedralen und Orte des Wohlfühlens. Nirgends sonst, außer vielleicht in den eigenen vier Wänden, ist es schöner. Von Müll und Unrat keine Spur, Zerstörung und Beschmierungen sind hier gänzlich unbekannt.


Luigi Cotani

12. Nov 2015

Während ich dies schreibe, sitze ich in genau solch einem Kleinod der BVG. Nur leider gleicht dieses mehr der Dresdner Frauenkirche vor dem Wiederaufbau. Es regnet, ich rutsche von einem mit kryptischen Zeichen beschmierten Sitz zum nächsten, da mich die Wartehalle der Firma Wall buchstäblich im Regen sitzen lässt. Von oben tropft es, an Stützen und Scheiben der Rückwand läuft das Regenwasser hinab – im Innern versteht sich.

Aber trotz allem habe ich Glück. Müll liegt nur in geringem Umfang auf dem Boden, und auch die Zigarettenkippen im nahen Umfeld beschränken sich auf etwa 40 Stück. Dafür zündet sich zwei Meter links von mir eine Dame gerade einen neuen Lungentorpedo an. Unter diesen Umständen kann ich mich fast zu der Aussage hinreißen lassen, dass ich mich hier so richtig wohl fühle.

Und dann plötzlich macht´s flup! Flup die Fluppe in die Ecke. Der orangefarbene Müllbehälter ist schließlich gut eineinhalb Meter

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entfernt. Zu weit und zu beschwerlich dieser Weg, um diese Strapazen auf sich nehmen zu können.

Ein bedauerlicher Einzelfall, denke ich und begebe mich in die Obhut einer anderen Wartehalle bereits genannter Firma. Neuer Stadtbezirk, neues Glück. Es kann ja nicht überall so aussehen.

Mit der Überlegung sollte ich Recht behalten. Kein Müll, die Zigarettenkippen nur durch aktives Suchen zu finden. Doch halt. Eine Kleinigkeit stört die fast makellose Idylle – zunächst nicht gleich von anderen Schmierereien zu unterscheiden. Aber einmal entdeckt lässt mich der Anblick nicht mehr los. Sitzflächen, Glasscheiben, Fahrplanaushänge: Überall Hakenkreuze, SS-Runen, Hassschriften gegen Ausländer und Religionen. Für einen Moment lang bin ich sprachlos über so viel Kleingeistigkeit. Doch nicht nur das. Neben spontan eingetretener Sprachstörung scheint sich ein Ausdruck von Fassungslosigkeit in meinem Gesicht breit gemacht zu haben, denn eine Dame neben mir erkundigt sich nach meinem Befinden. Es gibt sie also doch noch, die aufmerksamen Menschen.

Während ich die gefühlt drei Liter Galle wieder hinunter schlucke, die mir beim Betrachten dieser Schmiererei reflexartig hoch gekommen sind, verständige ich die Polizei und erstattete Anzeige. Zum Glück dauert es nicht lange, bis dieser literarische Erguss inklusive Putzmittel wieder dort verschwindet, woher er kam. Nämlich im braunen Sumpf der Kanalisation.

Eine Wartehalle – wie sie sein sollte. Foto: Florian Müller

In den folgenden Wochen mache ich leider immer wieder ähnliche Entdeckungen. Je nach Ausmaß werden wieder Polizei oder, sofern es sich um „legalen Rassismus“ handelt, das Callcenter der BVG bemüht. Bemüht deswegen, da es scheinbar nur wenige Mitarbeiter gibt, die in der Lage sind, das richtige Formular aufzurufen, dies richtig auszufüllen und dann anschließend an die richtige Stelle zur Bearbeitung weiterzuleiten. Teilweise bis zu fünf Tage muss ich mit ansehen, wie „No Asylanten“ die Umgebung vergiften. Nebenbei sei bemerkt, dass wohl jeder vor dem Tod fliehende Syrer ohne deutsche Sprachkenntnisse eine sprachlich elegantere Aufschrift hinbekommen hätte.

Nicht nur die BVG hat mit Beschmierungen solcher und allgemeiner Art zu kämpfen. Auch die S-Bahn leidet unter der fortschreitenden Kultur des „gehört ja nicht mir, ist mir doch egal“. Nur werden dort die dem Kundentelefon gemeldeten Vorkommnisse meist schneller bearbeitet. Ausnahmen gibt es, wenn sich im Kompetenzgerangel der DB-Konzerntöchter wieder einmal niemand zuständig fühlt.

Eines fällt aber auf, sowohl bei der BVG als auch bei der S-Bahn. Egal zu welcher Tagesoder Nachtzeit ich knietief im Dreck stehe: Die Werbeflächen sehen aus wie neu geboren. Und von diesen lächelt dann eine Dame mit grünen Gummihandschuhen, werbend für eine Putzhelfervermittlung, auf einen bereits getrockneten Haufen Erbrochenes und ich denke so bei mir: Merkste was?!

Nein, ich möchte nicht meckern um des Meckerns willen. Ich möchte wachrütteln. Ich möchte sensibilisieren. Ich möchte, dass sich noch mehr als bisher tut. Ich möchte ein gesundes Miteinander. Nur so können wir uns wohlfühlen, und nur so funktioniert Gemeinschaft.

Luigi Cotani

aus SIGNAL 5/2015 (November 2015), Seite 26