Bahnhöfe des Jahres 2015
Mit dem Wettbewerb „Bahnhof des Jahres“ prämiert die Allianz pro Schiene bereits seit 2004 die kundenfreundlichsten Bahnhöfe in Deutschland. Auch 2015 hat die Jury ihr Urteil erst nach ausgedehnten Testreisen durch ganz Deutschland gefällt. In der Kategorie „Alltagsmobilität“ gewann den Titel Marburg in Hessen, in der Kategorie „Tourismusbahnhof“ das Bahnhofs-Duo Obstfelderschmiede/Lichtenhain in Thüringen.
12. Nov 2015
Die sechsköpfige Jury, welche jedes Jahr die Bahnhöfe prüft und bewertet, besteht aus Vertretern der Allianz pro Schiene, des Deutschen Bahnkunden-Verbands (DBV), von Pro Bahn, des Auto Club Europas (ACE), des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) und des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Bei der Auswahl des Tourismusbahnhofs sind an der Entscheidung auch Experten vom Deutschen Tourismusverband (DTV) und der Kooperation Fahrtziel Natur beteiligt.
Ausgezeichnet werden von der Jury nach einer festen Kriterienliste grundsätzlich nur Bahnhöfe, bei denen die Bedürfnisse von Bürgern bzw. Bahnkunden gut berücksichtigt sind und die zugleich Vorbildfunktion für eine (allzu oft überfällige) Revitalisierung anderer Bahnhöfe haben. Objektive Erfordernisse wie Kundeninformation, Sauberkeit, Integration
in die Stadt und die Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln sind dabei ebenso entscheidend wie ein eher subjektiver Wohlfühlfaktor. K.-O.-Kriterien sind zum Beispiel fehlendes Service-Personal an Ort und Stelle, fehlende Barrierefreiheit, Sicherheitsmängel – beispielsweise an Bahnsteigbelägen – oder schmutzige bzw. defekte Toiletten.
Die Jury-Entscheidung für die Auszeichnung der 2015 prämierten Bahnhöfe ist nachfolgend zusammengefasst.
Das heute denkmalgeschützte neobarocke Empfangsgebäude entstand in den Jahren 1907–1909 und ersetzte seinerzeit einen klassizistischen Vorgängerbau aus den Jahren 1848–1850. Im Dezember 2009 begannen die Arbeiten für eine umfassende Sanierung bzw. den barrierefreien Umbau des Bahnhofsgebäudes, der erste Spatenstich für die Arbeiten am Bahnhofsvorplatz folgte im Oktober 2010. Das Gesamtprojekt wurde schließlich im Frühjahr 2015 abgeschlossen.
Im Ergebnis sind die Wandlung des Bahnhofs und seines Umfelds beeindruckend und in Deutschland in dieser Form leider viel zu selten. Der ehemals vom Autoverkehr eingeschnürte Bahnhof, eine Folge der Bausünden aus den 1970er Jahren, ist zu einer attraktiven Mobilitätsdrehscheibe geworden. Alle Verkehrsteilnehmer sind nunmehr gleichberechtigt: Fußgänger, Radfahrer, Busreisende, aber auch Autofahrer, die z.B. jemanden vom Bahnhof abholen wollen.
Die geschmackvoll erneuerte Empfangshalle verfügt heute über acht Ladengeschäfte mit rund 1200 m² Gesamtfläche. Im Obergeschoss befinden sich ein Hostel und Studentenwohnungen.
Hervorzuheben ist die vorbildlich gestaltete Barrierefreiheit des Bahnhofs, so dass auch mobilitätseingeschränkten Reisenden der Zugang zum System Bahn ermöglicht wird. So finden sich beispielsweise für Seheingeschränkte nicht nur taktile Leitsysteme, sondern an Schildern, Treppengeländern und nicht zuletzt auf dem Übersichtsplan des Empfangsgebäudes auch Hinweise in Brailleschrift. Und nicht zu vergessen: Für weitere Hilfestellungen sorgt aufmerksames, gut geschultes Personal.
Fazit: Der Bahnhof Marburg hat heute bundesweit Vorbildcharakter bzw. ist wegweisend für den öffentlichen Verkehr.
Der Haltepunkt Obstfelderschmiede liegt an der Schwarzatalbahn Rottenbach–Katzhütte und wurde am 15. Februar 1922 eröffnet. Am 15. März 1923 erfolgte die offizielle Eröffnung der Bergbahn Obstfelderschmiede—Lichtenhain. Die Strecke der denkmalgeschützten eingleisigen Standseilbahn ist 1387,8 m lang und überwindet einen Höhenunterschied von 323 m (Spurweite 1800 mm). Im Oktober 2001 wurde der Betrieb auf der Steilstrecke für die Sanierung eingestellt, die Wiedereröffnung erfolgte am 14. Dezember 2002 (zeitgleich mit der sanierten Schwarzatalbahn).
Die Strecke ist ein historisches Kleinod und hat bis heute große Bedeutung für den Tourismus der Region. Die Talstation mit dem historischen Fachwerkgebäude wurde 2002 umfassend saniert und für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste umgebaut.Auf der Hochebene im Oberweißbacher Ortsteil Lichtenhain bieten sich Ausflüglern vielfältige Möglichkeiten. Rundgänge im benachbarten Fröbelwald, ein Besuch im Feldbahnmuseum oder die Weiterfahrt auf der 2,54 km langen, mit 600 V Gleichstrom elektrifizierten Flachstrecke der Oberweißbacher Bergbahn Lichtenhain—Cursdorf (Spurweite 1435 mm, Eröffnung 1921).
Aber auch für das leibliche Wohl der Besucher bzw. Touristen ist sowohl an der Talstation als auch im Bereich der Bergstation (hier wurde ein ehemaliger Reisezugwagen als „Bistropa“ entsprechend umgebaut) gesorgt. Eine Smartphone-Tour, bei der detaillierte technische Infos zur Berg- und Talstation online abrufbar sind, rundet das Angebot ab. Aber auch bei der Oberweißbacher Bergbahn gilt: Zu dem sehr positiven Gesamteindruck hat ganz wesentlich das engagierte Personal vor Ort beigetragen. So wurden die Kunden nach Ankunft des Triebwagens der Schwarzatalbahn in Obstfelderschmiede von einer freundlichen Bahnmitarbeiterin empfangen, die Standseilbahn wurde während der Fahrt vorgestellt und die zahlreichen Fragen auch noch nach Fahrtende ausführlich beantwortet. Selbst in touristisch bedeutsamen Regionen mit vielen Ortsfremden/Gästen ist dies in der heutigen Zeit leider keine Selbstverständlichkeit mehr.
Als Siegerbahnhöfe wurden in den vergangenen Jahren gekürt:
2004 – Hannover Hbf und Lübben
2005 – Mannheim Hbf und Weimar
2006 – Hamburg-Dammtor und Oberstdorf
2007 – Berlin Hbf und Landsberg am Lech
2008 – Karlsruhe Hbf und Schwerin Hbf
2009 – Erfurt Hbf und Uelzen („Hundertwasserbahnhof“)
2010 – Darmstadt Hbf und Baden-Baden
2011 – Leipzig Hbf und Halberstadt
2012 – Bremen Hbf und Aschaffenburg Hbf;
Sonderpreis „Tourismus“ für den Bahnhof
Bad Schandau
2013 – Göttingen und Oberursel
2014 – Dresden Hbf und Hünfeld
Eine gute Zusammenarbeit vor Ort ist dabei letztlich entscheidend für den Sieg. Im Fall von Marburg ist diese Gemeinschaftsaufgabe u. a. durch das Engagement der Stadt Marburg, der GeWoBau, der Deutschen Bahn sowie von Bund und Land vorbildlich gelungen.
Bei den Tests 2015 zeigte sich aber leider auch, das etliche der für die Prämierung vorgeschlagenen Stationen die Qualitätsmerkmale nur teilweise erfüllten. Die vielfach hohen Investitionen für die Modernisierung der Bahnhöfe bleiben aber letztlich Stückwerk, wenn in der Folgezeit bei der Pflege (hierzu gehört auch das direkte Bahnhofsumfeld) und beim Erhalt gespart wird. Letzteres ist zweifellos eine Herausforderung und Daueraufgabe.
Deutscher Bahnkunden-Verband (DBV)
aus SIGNAL 5/2015 (November 2015), Seite 28-29