28. Februar 2016 gab es bei der Berliner U-Bahn zwei wichtige Jubiläen, die wenig beachtet wurden: Fünfzig Jahre zuvor war das bis heute benutzte System der Linienkennzeichnung eingeführt worden. Und am selben Tag hatte die Geburtsstunde der U 7 geschlagen: Aus dem Neuköllner Zweig der Nord-Süd-Bahn entstand in den folgenden 18 Jahren die längste U-Bahn-Linie Deutschlands, die ausschließlich im Tunnel verläuft. Ein Bauwerk, das auch architektonisch bemerkenswert ist, diesen Wert jedoch zunehmend einbüßt.
8. Mai 2016
Am 1. Juni 1958 begann bei der Berliner U-Bahn eine eigenartige Episode, die weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Die Stadt besaß damals nicht nur das größte, sondern neben Hamburg auch das einzige U-Bahn-Netz Deutschlands. Es wurde von zwölf Linien befahren. Doch die West-BVG hielt es für eine gute Idee, diese fortan nicht mehr zu kennzeichnen, sondern nur noch nach ihren Endpunkten zu benennen. Was umso verwirrender wirkte, als die seit rund 40 Jahren benutzten Bezeichnungen vom Senat für den seinerzeit eifrig betriebenen Bau neuer U-Bahn-Strecken weiter verwendet wurden. (Gleiches galt für die Ost-BVG, die ab dem Mauerbau freilich nur noch die beiden von ihr betriebenen Linien A und E kannte.)
Es dauerte einige Jahre, bis die West-BVG ein Einsehen hatte: Mit den Streckenneueröffnungen am 28. Februar 1966, einem
Montag, wurde das bis heute verwendete System von Liniennummern eingeführt.
Die Zahlen waren vage nach dem Eröffnungsdatum des ältesten Streckenteils einer Linie vergeben worden. Willkommener Nebeneffekt: Auf diese Weise wurde das Rückgrat des West-Berliner Netzes, die Verbindung zwischen Schlesisches Tor und Ruhleben, zur „Linie 1“. Die 1913 in Betrieb genommene Wilmersdorf-Dahlemer Bahn (die heutige U 3) befuhr noch bis 1972 die 1902 eröffnete Hochbahn in der Bülowstraße und erhielt damit zu Recht die Nummer 2. Bis 1985 wurde auf den Netzplänen der West-BVG auch gezeigt, dass sie eigentlich weiterführt nach Pankow.
Ein Bruch in der Systematik war es aber, der ebenfalls 1913 eröffneten Strecke zwischen Wittenbergplatz und Uhlandstraße die Nummer 3 zu geben, der 1910 eröffneten Schöneberger U-Bahn jedoch die Nummer 4 und dem 1906 in Betrieb gegangenen Abzweig von Deutsche Oper nach Richard-Wagner-Platz die 5.
Bei Letzterem spielte womöglich eine Rolle, dass schon 1966 die Einstellung dieser Minilinie vorgesehen war. Ab 1970 gab es dann keine Linie 5 mehr, und allgemein wurde es so verstanden, dass diese Zahl nun für die einzige vollständig in Ost-Berlin verlaufende Linie vorgehalten würde. Da nach der Wiedervereinigung tatsächlich in dieser Weise verfahren wurde, erscheint die U 5 heute von der Zahlenfolge her fälschlicherweise als die älteste Großprofillinie.
Für die Fahrgäste änderte sich durch die Einführung der Liniennummern nicht viel. Schon im Juli 1958 hatten die „Berliner Verkehrsblätter“ bemerkt, es wäre „sehr zu wünschen, wenn sowohl die Züge als auch die Fahrtrichtungsanzeiger auf den Bahnhöfen mit den betreffenden Linienbezeichnungen ausgestattet würden“. Aber noch im Tagesspiegel vom 25. Januar 1970 beklagte Günther Kühne in einer „So stell´ ich mir die U-Bahn vor“ betitelten Generalkritik: „Zwar sind auf den kleinen – viel zu kleinen und zu sparsam angebrachten – Netzplänchen in den U-Bahn-Wagen die Linien mit Farben und Nummern bezeichnet, doch entpuppt sich das als formale Spielerei eines Graphikers. Weder Farben noch Nummern haben Informationswert – sie kehren nirgendwo als bildhafte Erinnerungsmarke wieder.“
Erst im Laufe der siebziger Jahre sollte sich daran etwas ändern. Und erst so konnte die Linie 1 zu Musicalruhm gelangen: Bevor diese Bezeichnung auf vielen Stationen prangte, hätte mit ihr in Berlin kaum jemand etwas anzufangen gewusst.
Entgegen einer weitverbreiteten Annahme nahm die West-BVG am 28. Februar 1966 auch keine große Neuordnung der U-Bahn-Linien vor. Wie ein Blick auf den offiziellen Netzplan von 1965 zeigt, wurde das Netz bereits damals in fast der gleichen Weise befahren. Das bedeutete vor allem: Die Streckenverzweigungen wurden nicht mehr für durchgehende Verbindungen genutzt. Im Kleinprofilnetz, das vor dem Ersten Weltkrieg nach anderen Kriterien entworfen worden war, hatte dies die Entstehung der Stummellinien 3, 4 und 5 zur Folge.
Im Gegensatz zur Abschaffung der Linienbezeichnungen ist klar, welche Ideologie hinter diesem Vorgehen steckte: Man meinte, es „vereinfache die Betriebsführung“, wenn jede Strecke nur von einer einzigen Linie befahren würde. Außerdem wäre es für die Fahrgäste übersichtlicher, wenn an jeder Bahnsteigkante nur eine Linie hielte.
Das sind gute Argumente, nur: Sie beeinträchtigten die effiziente Nutzung der Kapazitäten. Bis heute wird die nicht einmal drei Kilometer lange U 4 mit ihren Zwei-Wagen-Zügen von vielen als sonderbar, von manchen sogar als überflüssig betrachtet. Die obere Bahnsteighalle der Station Kurfürstendamm war nach ihrer Eröffnung über 30 Jahre lang weitgehend verwaist – nur Touristen und andere Unwissende stiegen hier in die Linie Wittenbergplatz—Uhlandstraße um. Der eine Endbahnhof war besser via Zoo oder Spichernstraße zu erreichen, der andere besser mit dem Bus, zumal wegen des geringen Fahrgastaufkommens die Zwei-Wagen- Züge nur im Zehn-Minuten-Takt fuhren. Gut frequentiert wird diese Bahnsteighalle erst, seit die BVG 1993 den dogmatischen Verzicht auf Linienverzweigungen aufgab und wieder Züge zwischen Uhlandstraße und Schlesisches Tor verkehren ließ.
Warum auch nicht? In München baute man seit 1965 ein wohldurchdachtes U-Bahn-Netz, in dem jeweils zwei Linien auf einer gemeinsamen Stammstrecke durch die Innenstadt verkehren. Und die Berliner S-Bahn wurde in vergleichbarer Weise schon betrieben, als sie noch gar nicht so hieß.
Der Verzicht auf Linienverzweigungen und -bündelungen reduziert die Zahl der Direktverbindungen und zwingt damit zum häufigeren Umsteigen. Letztlich scheint dahinter das Konzept des „gebrochenen Verkehrs“ durch, das in der Nachkriegszeit nicht nur in Deutschland schwer in Mode war: Straßenbahn abschaffen, den Bus möglichst zum Einsammeln der Fahrgäste benutzen und diese dann gebündelt mit der U-Bahn befördern. Also warten, treppab, warten, womöglich noch mal warten, treppauf, warten.
In einer Zeit, in welcher der Privat-Pkw – der immer eine Direktverbindung bietet – zum Inbegriff von Fortschritt und Wohlstand avancierte, glaubte man allen Ernstes, so ließe sich attraktiver öffentlicher Personennahverkehr schaffen. Und wunderte sich, dass die Fahrgastzahlen immer weiter sanken und das Defizit bei den Verkehrsbetrieben immer weiter wuchs.
Nur eine wesentliche Veränderung gab es 1966 in der Liniengestaltung: Die einzige Verzweigung im Großprofilnetz, die 1923 eröffnete Nord-Süd-Bahn, die ab 1930 von Seestraße nach Tempelhof bzw. Grenzallee geführt hatte, wurde aufgegeben. Die Veränderung war um so größer, als der Tempelhofer Zweig seit je her als nachrangig behandelt, in der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bei Wagen- oder Strommangel auch wiederholt stillgelegt worden war. Meist pendelten die Züge nur zwischen Mehringdamm und Tempelhof. Diese Verbindung erscheint im BVG-Netzplan von 1965 denn auch als eigenständige Linie.
Das Ende der alten Nord-Süd-Bahn am 28. Februar 1966 brachte die neue Linie 6 als, bis auf einen „Knick“ am Oranienburger Tor, nahezu geradlinig verlaufende Nord-Süd-Verbindung, die am selben Tag von Tempelhof bis Alt-Mariendorf verlängert wurde. Und es brachte die neue Linie 7 aus dem zu jener Zeit bis Britz-Süd reichenden Neuköllner Zweig und einer neuen Strecke nach Möckernbrücke.
Der U-Bahnhof Mehringdamm war dafür vom dreigleisigen Abzweigbahnhof zum viergleisigen Kreuzungsbahnhof umgebaut und bei dieser Gelegenheit auch verlängert worden. Die Idee, die Linie 7 geradlinig von der Gneisenau- in die Yorckstraße zu führen, hatte man verworfen, um den Fahrgästen von und nach Neukölln die direkte Verbindung zur Linie 1 zu erhalten. Außerdem konnte an der Möckernbrücke bequemer umgestiegen werden als am Halleschen Tor, wo die Nord-Süd-Bahn die Hochbahn kreuzte. Derweil es dort 1966 noch nicht eine einzige Rolltreppe gab, erhielt die Station Möckernbrücke neun, darunter zwei parallel angeordnete, die vom Zwischengeschoss der Linie 7 zur neuen Brücke über den Landwehrkanal führen. Dieser bis dahin bei der Berliner U-Bahn einzigartige Vorgang zeigt, welches Fahrgastaufkommen man erwartete. Aus dem gleichen Grund versuchte man auf dem U-Bahnhof Alt-Mariendorf mit getrennt voneinander angeordneten aufwärts bzw. abwärts führenden Rolltreppenpaaren die Ströme der Ankommenden und der Abfahrenden zu trennen.
Weil sie auch aus einem kurzen Stück Vorkriegsstrecke besteht, scheint die historische Bedeutung der U 7 manchmal etwas unterschätzt zu werden. Dabei ist sie neben der vollständig neu errichteten U 9 das Hauptergebnis des West-Berliner U-Bahn- Baubooms der fünfziger bis siebziger Jahre.
„Die ersten hundert sind voll“ titelte Der Abend vom 26. Februar 1966 mit Blick auf den durch die anstehenden Neueröffnungen erreichten Umfang des U-Bahn-Netzes von 101,5 Kilometern Bauwerkslänge. Zur selben Zeit wurde an der westlichen wie der östlichen Verlängerung der U 7 ebenso gearbeitet wie an der südlichen der U 9. Bis 1984 (also, gerechnet vom Baubeginn der Verlängerung nach Britz-Süd, innerhalb von 25 Jahren) entstand mit der U 7 die mit knapp 32 Kilometern längste U-Bahn-Linie Deutschlands, die vollständig unterirdisch verläuft. Für einige Jahre galt sie sogar als der längste Tunnel der Welt.
In dem Abschnitt zwischen Möckernbrücke und Jungfernheide möchten manche einen überflüssigen Parallelverkehr zur Ringbahn erkennen. Aber man stelle sich vor, diese müsste die Fahrgäste aufnehmen, welche von der U 7 im Berufsverkehr im Vier- bis Fünf-Minuten-Takt mit Sechs-Wagen-Zügen befördert werden.
In Wahrheit handelte es sich beim Bau der U 7 um einen der wenigen Fälle, wo das seinerzeit nicht nur in Berlin gern gegebene Versprechen, die Straßenbahn auf ihren wichtigsten Trassen durch die U-Bahn zu ersetzen, auch einmal eingelöst wurde.
Ebenso trat die 1966 eröffnete Strecke der U 6 an die Stelle der Tram – allerdings nur bis Alt-Mariendorf. Dort hieß es: Umsteigen auf den Bus. Manche Lichtenrader schmerzte der Verlust der bequemen Direktverbindung nach Tempelhof und in die Innenstadt so, dass sie jahrelang die Verlängerung der U-Bahn bis in ihren Stadtteil forderten (die dort verkehrende S-Bahn wurde seinerzeit ja nicht nur boykottiert, sondern ignoriert).
Der U 7-Abschnitt zwischen Mehringdamm und Mierendorffplatz war schon in jenem ambitionierten Ausbaukonzept vorgesehen gewesen, das Ernst Reuter, Johannes Bousset und Hermann Zangemeister 1929 unter dem Titel „Denkschrift über das künftige Berliner Schnellbahnnetz“ vorgelegt hatten. Wie die U9 rangierte diese Strecke allerdings nicht unter den als vordringlich erachteten Bauten, sondern nur unter jenen, die „das Schnellbahnnetz in wünschenswerter Weise ergänzen“.
U 7 und U 9 sind vor allem insofern Produkte der Teilung Berlins, als diese die Verkehrsströme verändert hatte. Aber ein richtiges West-Berlin-Denkmal stellt der U 7-Abschnitt zwischen Jakob-Kaiser-Platz und Rathaus Spandau dar: Die naheliegende Idee, mit einer Weiterführung nach Norden das gerade im Entstehen begriffene neue Terminal des Flughafens Tegel anzubinden, wurde um 1970 verworfen. Man wollte die Arbeitsplätze im West-Berliner Tiefbau sichern. Und zwar nicht mit der Errichtung sinnvoller Strecken wie der U 9 nach Lankwitz, sondern indem man sich durchs Industriegebiet von Haselhorst buddelte und mit immensem Aufwand unter der Havel hindurch.
Spandau erhielt so nicht den ursprünglich geplanten, schnell und kostengünstig, da weitgehend oberirdisch herzustellenden U-Bahn- Anschluss via Ruhleben – und damit auch keine U-Bahn-Direktverbindung zum Zoo, zum Potsdamer Platz, zum Alex. Das Ergebnis sind ein mäßig ausgelastetes Westende der U 7 und ein schlecht ausgelastetes Westende der U 2, für das ebenfalls immer mal wieder Stilllegungspläne auftauchen und von wo die Züge vermutlich nie bis zum U-Bahnhof Rathaus Spandau fahren werden, wo seit 1984 zwei leere Gleiströge auf sie warten.
Älteren Besuchern aus Westdeutschland kann man zwischen Jakob-Kaiser-Platz und Rathaus Spandau zeigen, wo zu Mauerzeiten Bundesgelder versenkt wurden. Noch besichtigenswerter ist die U 7 aus einem anderen Grund: Von Kreuzberg nach Spandau kann man auf ihr eine Reise in die Postmoderne unternehmen, die auch dem Laien eindrucksvoll verdeutlicht, wie sich die Architekturmode zwischen den sechziger und den achtziger Jahren wandelte.
Die 1966 eröffneten Stationen Mehringdamm und Möckernbrücke wurden noch ganz im kühl-sachlichen Stil der Sixties gehalten, bestimmt von geraden Linien und rechten Winkeln, größtenteils verkleidet mit Keramikriemchen. Auf dem folgenden, 1971 in Betrieb gegangenen Abschnitt bis Fehrbelliner Platz wurde die Gestaltung abwechslungsreicher: Auch große Fliesen, kunststoffbeschichtete Eternitplatten oder Metallelemente kamen zum Einsatz. Eine erste Abkehr von der Sachlichkeit, die bei der Berliner U-Bahnhofs-Architektur vorgeherrscht hatte, brachte die vorläufige Endstation Fehrbelliner Platz: Dem Zeitgeist gemäß war hier alles klobig, klotzig, knallig, mit breiten Rahmen, vielen Rundungen, übergroßer Schrift.
Die Verkleidung von Stützen, Aufbauten, Treppenhäusern und der Wände in den Zwischengeschossen mit hohen Platten aus eloxiertem Aluminium stellte nicht nur einen ruhigen Kontrast zu dieser lauten Gestaltung dar. Die Modefarbe silber-metallic zeigend, wirkten diese Elemente auch als Versatzstücke einer technoiden, futuristischen, dem Raumfahrtzeitalter angemessenen Architektur – man betrachte das Äußere des 1979 eröffneten ICC.
Auf den 1978, 1980 und 1984 eröffneten Abschnitten wurde die Formgebung der Bahnsteighallen dann immer bunter, verspielter und disfunktionaler. Weltweit avancierte damals die postmoderne Architektur zur Mode, die in den Achtzigern ihren Höhepunkt erlebte. Ernüchtert von der Moderne und deren Sachlichkeit überdrüssig, wurde ihr gern bemühtes Motto „form follows function“ gekontert mit „form follows fiction“ oder „form follows fantasy“.
Die Auskleidung unterirdischer Bahnsteighallen sollte nun stets Bezug nehmen auf den Namen der Station oder auf deren Umgebung. Was so zwingend klingt, führte zu völliger Beliebigkeit, da keine Idee zu sehr an den Haaren herbeigezogen war: So wurde die Station Paulsternstraße als nächtliche Phantasieheidelandschaft dekoriert, in Erinnerung an die verlorene Natur in dem zersiedelten Industriegebiet, in dem sie liegt. Und damit das Publikum staunt und applaudiert, wurde auch noch die Decke bemalt – blau mit weißen Sternchen, die ja auch zum Namen passen.
Dieser jüngste Abschnitt der U 7 sollte besonders prachtvoll wirken, wobei die Devise aber lautete: viel hilft viel. So blieb dann selbst der Bahnsteigboden nicht mehr von auffälliger Musterung verschont. Am Rathaus Spandau, wo auch im übertragenen Sinne „großer Bahnhof“ gemacht werden sollte, wirkt die Perronhalle mit vielen Details überladen und daher letztlich klein – man vergleiche es mit der sachlich gestalteten Halle der U 5 am Alexanderplatz.
Doch wer weiß, wie lange dieser Vergleich noch möglich ist: Die „Reise in die Postmoderne“, die man von Mehringdamm bis Rathaus Spandau unternehmen konnte, war um so bemerkenswerter, als alle diese Stationen vom selben Architekten ausgekleidet wurden: Rainer Gerhard Rümmler, der fast alle zwischen 1966 und 1996 neu eröffneten (West-) Berliner U-Bahnhöfe gestaltete. Zwölf Jahre nach seinem Tod verschwindet das Schaffen dieses Beamten der Senatsbauverwaltung aber immer schneller.
Von allen nach 1961 in Betrieb genommenen Stationen steht nur eine einzige unter Denkmalschutz: Pankstraße, als „Mehrzweckbau U-Bahnhof mit Zivilschutzanlage“. Darüber, ob es nicht Zeit wäre, die erhaltenswerten Werke der späten Moderne und der Postmoderne auszuwählen, wird nicht einmal diskutiert. Für die behördliche Denkmalpflege gilt das Thema als erledigt, seit sie vor mittlerweile 15 Jahren mit der BVG darüber eine Grundsatzvereinbarung geschlossen hat, zu der auch eine Liste mit Schutzgut gehörte. So wird nun ein Rümmler-Werk nach dem anderen teilweise oder vollständig seines Gesichts beraubt. Da dieses zeittypisch war, konnte man an ihm erkennen, wann die Station, mehr noch: wann der ganze Streckenabschnitt entstanden war.
Während auf diese Weise Geschichte getilgt wird, hat die BVG in den letzten Jahren einen Hang zur Heimatkunde entwickelt: An verschiedensten Stellen wurden in den U-Bahnhöfen großformatige historische Photos angebracht. Derweil die Architektur der siebziger Jahre schlechte Karten hat, besitzt die gern als Geschmacklosigkeit jener Zeit verschriene Phototapete bei der BVG offenbar große Fans.
Während die eloxierten Aluminiumplatten aus den Siebzigern abgebaut werden mit dem Argument, die ollen verbeulten Dinger seien den Fahrgästen nicht länger zuzumuten, gehört andernorts die Wandverkleidung mit Blech zu den großen Favoriten der BVG-Bauabteilung.
Während einerseits die Helligkeit in den Stationen erhöht werden soll und auch deshalb überall helle Bodenfliesen verlegt werden, auf denen Schmutz besonders gut ins Auge fällt, wichen die weißen Wandfliesen im U-Bahnhof Bundesplatz solchen in einem trüben, stumpf und schmuddelig wirkenden Blau und Beige. Vergleichbares geschah auf den Stationen Adenauerplatz und Blaschkoallee.
Natürlich gibt niemand gern zu, dass er einfach einer Mode folgt. Schöner ist es, das aktuelle Faible als alternativlos hinzustellen. Und wer gar nicht diskutieren möchte, kommt mit der Sicherheit.
So wurde gegen die in Ungnade gefallenen Asphaltbeläge (1971 in einer Senatsbroschüre noch als „bewährt“ bezeichnet) schon ins Feld geführt, diese wären feuergefährlich. Und Eingangsportale, die die BVG inzwischen selbst an Stationen aufstellt, die nie damit ausgestattet waren, wurden in der Nachkriegszeit abgesägt, weil diese, so damals eine Begründung, die Sicht der Autofahrer behinderten.
Abgehängte Decken gelten seit einiger Zeit als mögliche Todesquellen. Sie verschwanden daher auch bei der jüngsten Neugestaltung des U-Bahnhofs Mehringdamm. Allerdings orientierte sich diese, bei der im Moment noch die letzten Spuren der Sixties-Architektur ausgemerzt werden, ohnehin „am historischen Vorbild“, wie vielerorts zu lesen war. Freilich sind die schlanken Stützen auf dem östlichen Bahnsteig, die zwischenzeitlich freigelegt worden waren, wieder zu wuchtigen Pfeilern geworden. Die Hintergleisflächen, ursprünglich hell verputzt, verkleidete man mit grau-braunen Steinplatten. Wo 1924 Emailleschilder hingen, prangen nun große silberfarbene Lettern. Die Leuchten sind viel größer, der Bahnsteig ist nicht mehr asphaltiert, seine Möblierung besteht aus der aktuellen Standardware. Aber sonst alles „nach historischem Vorbild“. Denn das klingt immer gut.
Allmählich werden so die seit dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Stationen von Zeugnissen ihrer Zeit, die sich teils deutlich voneinander unterschieden und an denen man die Geschichte des Berliner U-Bahn-Baus ablesen konnte, allesamt zu Beispielen für die Gestaltungsmoden, denen die BVG in unseren Tagen folgt.
Jan Gympel
aus SIGNAL 2/2016 (Mai 2016), Seite 18-22