Stadtverkehr

Oh wähn se seens go matsching in

Dem geneigten Leser und Musikkenner wird es sofort aufgefallen sein. Bei diesem Titel handelt es sich nicht um die neuste Komposition von Agathe Bauer, sondern um einen Evergreen der Popularmusik: „When the saints go marching in“, welches oftmals mit Louis Armstrong in Verbindung gebracht wird.


Mario Fischbach

8. Mai 2016

Wie? Haben Sie es doch nicht erkannt? Dann ist ein Ausflug mit der Berliner S-Bahn auf der Stadtbahn zwischen den Bahnhöfen Alexanderplatz und Zoologischen Garten wärmstens zu empfehlen. In diesem Bereich ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass Sie dieses Lied in einer sehr freien Interpretation nicht zu Gehör bekommen. Aber auch andere Werke der Musikgeschichte werden dargeboten: „Kalinka“ des russischen Komponisten Larionow oder der Rock ‘n‘ Roll-Klassiker „Tutti Frutti“ von Little Richard. Zum Entstehungszeitpunkt dieses Artikels sind auch diverse Stücke der weihnachtlichen Unterhaltung bunt unter die vorgenannten gemischt. Selbstverständlich in gleichbleibender – ausbleibender – Qualität. Wie zu sehen ist, oder besser noch zu hören, wird alles getan, um den Fahrgästen für die gezahlten und auch zum Jahreswechsel wieder gestiegenen Fahrpreise ein möglichst umfangreiches Angebot zu bieten.

Bei genauerer Betrachtung der unrhythmischen Reisebegleitung sucht man die sonst unter DB-Mitarbeitern mit Kundenkontakt übliche Unternehmensbekleidung vergebens. Ebenso die eigentlich verplombt erwartete Spendendose in Form eines gebrauchten Kaffeepappbechers mutet beim

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taktlosen Marschieren durch die S-Bahn-Züge merkwürdig an. Und spätestens jetzt sollte auch dem letzten taubblinden Fahrgast klargeworden sein, dass hier etwas nicht stimmen kann.

Exakt. Denn bei beschriebenem Personenkreis handelt es sich mitnichten um Freunde der guten Musik oder gar um, der Nächstenliebe Willen, selbstlose und großherzige Menschen im Feldzug für eine bessere und gerechtere Welt. Vielmehr ist hier eine brutale und gut organisierte Bande am Werk, die nur (oh Wunder, wer hätte es gedacht) darauf aus ist, ahnungslosen Mitbürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Und nicht nur das.

Die Methode hierbei ist denkbar einfach: Mittels dargebotener „Musik“ (Kenner würden diese Form der Emission auch schlicht als Lärm bezeichnen.), welche über einen mp3-Player samt eines mobilen Verstärkers erzeugt und vom Getröte der dazugehörigen Personen begleitet wird, soll das Portemonnaie gutgläubiger Fahrgäste geöffnet werden. Ist der Spendenwillige nicht schnell genug oder gar unwillig, wird mit dem Becher (in einer edel anmutenden Ausführung auch aus Plastik) solange penetrant vor der Nase beglückter Personen umher gefuchtelt, bis das Geld seinen Bestimmungsort erreicht hat. Die verplombte Spend… äh … den Kaffeepappbecher.

Vielfahrer kennen und lieben diese Form der Unterhaltung. Besonders in den zur Hauptverkehrszeit gut gefüllten Bahnen ist sie eine lieb gewonnene Abwechslung zum entspannten Schlürfen eines koffeinhaltigen Heißgetränks oder dem vertieften Lesen einer hiesigen Tageszeitung. Wobei Letzteres beim Zusammentreffen mit einem der fünf bis zehn (!) Spielmannszüge dann tendenziell doch eher nicht möglich ist.

Und selbstverständlich kommen auch die Touristen in Berlin während ihrer Fahrt mit der S-Bahn in diesen auditiven Hochgenuss. Zufall? Wohl kaum, denn genau jene sind es, die ihr Portemonnaie im Urlaub immer ein wenig mehr geöffnet haben, als der geizige Einheimische. So kommt es, dass gerade bei größeren Gruppen gleich mehrere Personen scheinbar zu viel Geld übrig haben. Animiert vom klimpernden Kleingeld im Pappbecher des Kapellmeisters rollt der Euro. Ganz nebenbei und natürlich vollkommen ungeplant kann dann schon einmal die ein oder andere Brieftasche des gutgläubigen Lärmliebhabers den Besitzer wechseln. Natürlich nur versehentlich und das während eines nicht einmal gut getarnten Antanzversuchs. Oder einfach dann, wenn sich weitere, nicht als Blasharmonikaspieler getarnte, Taschendiebe zwischen den schunkelnden Touristenschwärmen hindurch schlängeln und an der nächsten Station mit einer beachtlichen Auswahl neuster Handymodelle die S-Bahn wieder verlassen. Und Verlass ist auch darauf, dass es im nächsten Wagen mit gleicher Masche weiter geht.

Sollte einem treuen Fahrgast das akustische Hintergrundrauschen nun doch etwas laut erscheinen, dem ist ein Wechsel des Wagens oder Zuges zu empfehlen. Denn angesprochen auf ihr Tun (wahlweise in Kombination mit der Bitte, das Lärmen einzustellen), folgt nicht selten keine sachliche Grundsatzdiskussion, sondern der direkte Schlag auf den Kopf des Kritikers. Gewählt werden kann hier lediglich, welche Art von Trompete oder Saxophon als Abdruck im Nacken genehm ist. Daher sollte grundsätzlich eine direkte Konfrontation mit besagten Sängerknaben vermieden werden. Wer sich aber trotz fluchtartigem Wagenwechsel den Anblick besagten Personenkreises nicht entgehen lassen möchte, dem ist ein Besuch einer oder mehrerer Fastfoodketten entlang der Stadtbahn ans Herz zu legen. Hier trifft man sich, tauscht Beute und Geld und stärkt sich für die nächste Vergnügungstour durch die S-Bahn.

Weshalb dieser Artikel entstanden ist? Weil der Umstand dieser (organisierten) Bettelei nicht nur verboten, sondern äußerst lästig und unattraktiv für den ÖPNV ist. Eine Stadt wie Berlin mit einem historisch so stark verwurzelten Verkehrsmittel wie der S-Bahn in den Farben Rot und Ocker, hat es nicht nötig, sich von solchen Banden als Mittel zur Bereicherung ausnutzen zu lassen. An dieser Stelle ist einmal mehr ein klares und entschiedenes Handeln des Unternehmens in Kooperation mit der Exekutive nötig, um das Fahren mit der S-Bahn wieder zu einem möglichst entspannten und positiven Erlebnis werden zu lassen. Aber auch der normale Fahrgast ist hier gefragt: So lange mit dieser Form der Bettelei Geld und weitere Wertgegenstände erbeutet werden können, lohnt es sich und wird weiter praktiziert. Daher: Hand auf Portemonnaie und Tasche. Denn auch der Euro fühlt sich im heimischen Sparschwein viel wohler als im gebrauchten Kaffeepappbecher.

Mario Fischbach

aus SIGNAL 2/2016 (Mai 2016), Seite 28