Neue S-Bahn
Der vorliegende Entwurf für die neue Berliner S-Bahn-Baureihe 483/484 ignoriert ohne Rücksicht auf die eigene Geschichte die Erfahrungen aus mehr als 80 Jahren.
9. Nov 2016
Zwischen Ende 1927 und 1931 erhielt die Berliner S-Bahn 1276 Wagen, die später als Bauart Stadtbahn bezeichnet wurden (ET/ES/EB 165, ab 1970 Baureihe 275, ab 1991 Baureihe 475/875). Dies war stilprägend für Berlin und die S-Bahn. (Mehr dazu in „Züge der Berliner S-Bahn. Die eleganten Rundköpfe.“, Anhang „Die Farben der Fahrzeuge“, Seite 242ff, GVE-Verlag 2003)
Mit Beginn der Serienlieferung von Zügen der Bauart Stadtbahn (Bauarten 1927–30) hatte die Deutsche Reichsbahn verschiedene Anstrichvarianten geprüft und sie dem Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn und späteren Reichsverkehrsminister Julius Dorpmüller vorgelegt, der sie persönlich auswählte. Dabei verfolgte man mehrere Ziele: Die Züge sollten in ihrem Erscheinungsbild ansprechend und einladend wirken,
die beiden Wagenklassen (3. und 2. Klasse) sollten gut voneinander zu unterscheiden sein, und man wollte sich mit dem Farbkonzept von den städtischen Verkehrsmitteln abheben, insbesondere von den U-Bahn-Wagen. Die Farben wurden nach der Farbkarte für Fahrzeuganstriche Nummer 840 B 2 der RAL-Liste (Reichsausschuss für Lieferbedingungen) ausgewählt:
Offenbar war die Reichsbahn mit dem Anstrichschema nicht ganz zufrieden, insbesondere sollten die Züge eine Begrenzung nach oben erhalten. Deshalb erhielt die erste Neubeschaffung für die zu elektrisierende Wannseebahn (Bauart Wannsee, Bauarten 1932 und 1932a) einen farbig abgesetzten Obergurt über den Fenstern und Türen als zwei dünne schwarze Zierstreifen, die einen roten Zierstreifen begrenzten. Dies erhielten in den 30er Jahren alle Fahrzeuge (u. a. alle der Bauart Stadtbahn) sowie alle neu gelieferten (ab 1935), so dass sich ein einheitliches Erscheinungsbild bei mehr als 2000 Wagen ergab. Erst während des Zweiten Weltkriegs entfielen ab August 1942 aus Einsparungsgründen („Entfeinerung“) verschiedene Zierleisten, so der farblich abgesetzte Obergurt. Jedoch kehrten diese Elemente in der Friedenszeit spätestens ab den 1950er Jahren zurück und wurden seither beibehalten.
Ein weiterer Einschnitt war mit dem stark vereinfachten Kriegs-S-Bahn-Zug (Baureihe ET/EB 165.9) geplant. Bei diesem sollten alle Zierelemente entfallen, außerdem sollte bei diesem erstmals der schwarze Absetzstreifen zwischen gelber und roter Farbe entfallen, so wie dies im Augenblick bei den Baureihe 483/484 vorgesehen ist (und bisher nur bei der Panorama-S-Bahn angewendet wurde). Zwar plante man noch bis Anfang 1945 an dem Zug, jedoch ist nie ein derartiger Wagen gebaut worden.
Anfang 1984, anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins im Jahr 1987, wurde für die Hauptstadt der DDR ein neues Farbkonzept mit helleren und freundlicher wirkenden Farben für die dortigen Nahverkehrsmittel entwickelt. S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn und Omnibus sollten eine einheitliche Grundfarbe in elfenbeinbeige erhalten, und zur Unterscheidung sollten die Front- und Türbereiche farblich hervorgehoben werden:
Die Deutsche Reichsbahn testete dieses Konzept an den S-Bahn-Zügen 277 297/298, 323/324, 393/394, 405/406 und 447/448, die im April und Mai 1987 entsprechend umlackiert wurden. Unterschiedlich waren bei den fünf Viertelzügen die Aufteilung des Anstrichs auf den Obergurten über und auf den Mittelgurtbändern unter den Fenstern, auf der Dachpartie am Führerstand sowie in den Türbereichen.
Während bei U-Bahn und Bus das neue Farbkonzept recht ansprechend wirkte, befriedigte das neue Erscheinungsbild bei S-Bahn und auch Straßenbahn nicht. Wegen der vielen dunklen Türen wirkte ein vorbeifahrender S-Bahn-Zug wie der optische Effekt beim schnellen Entlanglaufen an einem Lattenzaun, was den Wagen den Spitznamen „Lattenzaun“ einbrachte. Andere Bezeichnungen waren „Bunte Kuh“ oder „Zirkuszüge“. Die S-Bahn probierte noch im Mai eine weitere Variante, bei der die bisherige Farbaufteilung im Wesentlichen erhalten blieb.
Nach den politischen Veränderungen in der DDR ab November 1989 wurde die als „Hauptstadtfarben“ bezeichnete Farbgebung elfenbeinbeige/bordeauxrot zunächst noch weiterverwendet; zuletzt bekam Ende Oktober 1990 der Viertelzug 277 293/294 im Rahmen einer Hauptuntersuchung der Instandhaltungsstufe T7 diesen Anstrich. Zuerst wurde im November 1990 der Viertelzug 277 315/316 wieder in rehbraun/bordeauxrot lackiert.
Seit März 1992 hielten bei der S-Bahn neue, hellere Farbtöne Einzug: ockergelb (RAL 1024) und rubinrot (3003).
Mathias Hiller
aus SIGNAL 5/2016 (November 2016), Seite 7