Berlin
Der rot-rot-grüne Senat verspricht eine neue Verkehrspolitik für Berlin
1. Jan 2017
Berlin hat ein neu gewähltes Abgeordnetenhaus – und seit dem 8. Dezember 2016 einen neuen Senat. Vorausgegangen waren Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Linken und Grünen, die am 16. November mit der Unterzeichnung einer Koalitionsvereinbarung für die Legislaturperiode 2016 bis 2021 abgeschlossen wurden. Kapitel 1 ist dem „Investieren in die Stadt von Morgen“ gewidmet, das vierte Unterkapitel auf elf Seiten der Mobilität mit der programmatischen Überschrift: „Sauber, bequem und sicher durch die Stadt – Mobilitätswende einleiten und Umweltverbund stärken“. Nachstehend dokumentieren wir dieses Unterkapitel auszugsweise, ergänzt um Kommentare des Berliner Fahrgastverbands IGEB.
Metropolengerechte Mobilität ist Daseinsvorsorge für alle. Sie ist ein wichtiger Schlüssel für das Zusammenleben in Berlin und für wirtschaftliches Wachstum. Die Koalition stärkt den Umweltverbund, der einen gleichberechtigten und barrierefreien Zugang zu Mobilität gewährleistet. Und sie fördert eine umweltgerechte, integrierte Infrastrukturpolitik.
Die Koalition passt das Berliner Mobilitätskonzept kontinuierlich an die Bevölkerungsentwicklung, die sich wandelnden Mobilitätsbedürfnisse, Gender- und Diversityanforderungen und demografische Veränderungen an. Bei der Planung von Mobilitätsprojekten räumt die Koalition dem Erhalt
und einer Förderung des Umweltverbundes grundsätzlich Priorität vor einem Neubau ein. Im Stadtentwicklungsplan Verkehr wird der Beitrag der Projekte zum Ziel der klimaneutralen Stadt Berlin 2050 als qualifiziertes Bewertungskriterium berücksichtigt.
Vorrang für den Umweltverbund bedeutet auch Umverteilung des Straßenraums zugunsten des ÖPNVs, des Rad- und Fußverkehrs. Die Koalition will den Straßenraum gerechter nutzen und noch mehr lebenswerte Straßen und Plätze schaffen. Dabei soll auch die temporäre Umnutzung erleichtert werden. Die Pläne zum Umbau der Schönhauser Allee werden weiterverfolgt. Die Koalition setzt sich für die Wiedergewinnung von Plätzen und Orten ein. Dazu sollen auch Bundesmittel eingesetzt werden.
Ein besonderer Schwerpunkt der Mobilitätspolitik ist der Erhalt der bestehenden Infrastruktur. Zur Sicherstellung einer kontinuierlichen Straßen- und Brückeninstandhaltung ist ein Erhaltungsmanagementsystem einzurichten. Die entsprechenden Baumittel sind dauerhaft zu sichern bzw. angemessen zu erhöhen. Die Effizienz des Berliner Baustellenmanagements wird gesteigert.
Mit dem Ziel der Leistungsverbesserung der Verkehrslenkung Berlin (VLB) wird die Koalition das beauftragte Organisationsgutachten auswerten und daraus kurzfristig Schlussfolgerungen für die Reorganisation ziehen, in Abstimmung mit den Aufgaben der Bezirke. Bis dahin wird durch entsprechende Zielvereinbarungen insbesondere sichergestellt, dass die Projekte ÖPNV-Beschleunigung und Verbesserung der Radwegeinfrastruktur zügig vorangetrieben werden. Durch eindeutige Richtlinien stellt die Koalition die Priorität des Umweltverbundes bei der Abwägung von straßenverkehrsbehördlichen Anordnungen innerhalb der rechtlichen Möglichkeiten sicher.
Die Koalition wird gemeinsam und mit den Bezirken stadt- und umweltverträgliche Mobilitätskonzepte für Großveranstaltungen und große Veranstaltungskonzepte entwickeln und umsetzen.
IGEB: „Vorrang für den öffentlichen Verkehr“ war über Jahrzehnte in vielen Koalitionsvereinbarungen zu lesen. Tatsächlich wurde in Deutschland fast immer und überall dem Autoverkehr Vorrang eingeräumt. Ob das vorstehende allgemein gehaltene Kapitel (Ausnahme: Benennung des Umbaus der Schönhauser Allee) dieses Mal der Auftakt zu einer verkehrspolitischen Wende ist, wissen wir erst am Ende der Legislaturperiode in fünf Jahren.
Allen Verkehrsteilnehmenden mehr Sicherheit
bieten
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Jugendverkehrsschulen ausbauen
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Die Koalition wird das ÖPNV-Gesetz bis Ende 2017 zu einem zukunftsfähigen, integrierten „Mobilitätsgesetz“ weiterentwickeln, in dem u. a. auch der Fuß- und Radverkehr umfassend neu geregelt werden sollen. Ferner sind die rechtlichen Rahmenbedingungen an geltendes Bundes- und EU-Recht anzupassen. Dieses beinhaltet den Umweltverbund, Digitalisierung und Sharing sowie Gender- und Diversity-Kriterien. Und es soll eine Zweckbindung für die Mittel aus dem Entflechtungsgesetz und dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für die Finanzierung des Umweltverbundes enthalten.
IGEB: Auch hier sollte man (vorerst) keine zu großen Erwartungen haben. Ein neues Gesetz reicht nicht, wenn es nicht von neuen Köpfen umgesetzt wird. Positiv ist aber die Aussage, die Fördergelder des Bundes nur noch für Projekte des Umweltverbundes einzusetzen.
Fußverkehr komfortabler und sicherer gestalten
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Neue Impulse für einen großstadtgerechten
Radverkehr
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Radverkehrsinfrastruktur ausbauen
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Die Koalition will den Ausbau der Straßenbahn vorantreiben. Unter Beteiligung der Öffentlichkeit wird sie innerhalb der nächsten fünf Jahre ein Zielnetz für den Ausbau der Straßenbahn festlegen, dieses in den StEP Verkehr einarbeiten und im Flächennutzungsplan verankern. Durch Verwaltungsrichtlinien oder Verordnungen wird die Koalition für die Landes- und Bezirksverwaltungen sicherstellen, dass bei der Aufstellung von Bebauungsplänen, der Umgestaltung oder dem Neubau von Straßen, sowie der Untersuchung von Brücken und deren Neu- oder Ersatzbau Trassenfreihaltungen vorgesehen und die Anforderungen durch einen Straßenbahnbetrieb berücksichtigt werden.
Für die nächsten zehn Jahre soll die Priorität bei den Netzbereichen Innenstadt, Ersterschließung von Entwicklungsstandorten und Erschließung von Stadtgebieten außerhalb des Innenstadtrings mit Netzwirkung liegen. Die vier in der Planung befindlichen Strecken Trassenverlegung Ostkreuz, Verbindung Hauptbahnhof—U Turmstraße, S Schöneweide—Wista Adlershof (mit Realisierung eines Betriebshofes) werden mit dem Ziel der Inbetriebnahme in dieser Legislaturperiode weiterverfolgt, ebenso der Ausbau zum S-Bahnhof Mahlsdorf.
Für die folgenden Strecken wird die Koalition die Vorplanungen und Planfeststellungsverfahren sofort einleiten, so dass die bauliche Umsetzung innerhalb der Wahlperiode 2016 bis 2021 beginnen kann: Alexanderplatz—Kulturforum—Kleistpark—Rathaus Steglitz (M 48 und M 85); Turmstraße—Mierendorffplatz; S+U-Bahnhof Warschauer Straße—Hermannplatz (unter Prüfung alternativer Routen zur Querung des Görlitzer Parks); Erschließung des Neubaugebiets Blankenburger Pflasterweg (Verlängerung M 2 ab Heinersdorf) und die Tangentialstrecke Pankow—Heinersdorf—Weißensee. Die Planungen der mittelfristigen Maßnahmen: S-Bahnhof Schöneweide—Sonnenallee—Hermannplatz—Potsdamer Platz (M 9/M 41) und Potsdamer Platz—Wittenbergplatz/Zoologischer Garten; Mierendorffplatz—Jungfernheide—Entwicklungsgebiet Urban Tech Republic (Flughafen TXL); Pankow—Wollankstraße—Turmstraße (M 27)—Mierendorffplatz—Luisenplatz; (Alexanderplatz—)Spittelmarkt—Lindenstraße—Hallesches Tor—Mehringdamm (mit der M 2); Johannisthal—U-Bahnhof Zwickauer Damm werden in dieser Wahlperiode begonnen, so dass ein Baubeginn spätestens 2026 möglich ist. Für die Durchführung der konkreten Planverfahren für die Sofortmaßnahmen und die mittelfristigen Maßnahmen sind die personellen Kapazitäten bereitzustellen.
Für die Bau- und Planungsleistungen zur Realisierung der fünf Sofortmaßnahmen und der fünf mittelfristigen Maßnahmen wird der jährliche Finanzbedarf in Höhe von 60 Mio. Euro von der Koalition für alle Haushaltsjahre ab dem Haushaltsjahr 2019 vorgesehen und mit einer Übertragbarkeit auf die folgenden Haushaltsjahre, zum Beispiel durch Auflage eines Fonds, ausgestattet. Es sind verschiedene Finanzierungsquellen und Fördermöglichkeiten vorhanden, so dass die Finanzierung lediglich zu ca. 50 Prozent aus Landesmitteln erfolgen muss.
Die Beschaffung der für den Betrieb der neuen Strecken erforderlichen Straßenbahnfahrzeuge ist im jährlichen Budget von 60 Mio. Euro nicht enthalten. Eine auskömmliche Finanzierung der Fahrzeugbeschaffung und des dauerhaft benötigten Fahrzeugsparks wird im Rahmen des Fahrzeugpools sicherstellt.
IGEB: In diesem Kapitel werden die drei Koalitionsparteien außergewöhnlich konkret. Wenn es gelingt, diesen Maßnahmenkatalog überwiegend oder gar vollständig abzuarbeiten, wäre das 26 Jahre nach der Wiedervereinigung der Durchbruch für den Ausbau des Berliner Straßenbahnnetzes und damit für den öffentlichen Nahverkehr insgesamt. Voraussetzung für das Gelingen ist aber nicht nur mehr Personal bei der Senatsverkehrsverwaltung, sondern auch der Verzicht, für jedes Straßenbahnprojekt zunächst eine langwierige und teure Nutzen-Kosten-Untersuchung zu machen. Diese ist lediglich bei Projekten erforderlich, bei denen Gelder des Bundes eingesetzt werden. Das ist in Berlin aber nur bei wenigen Straßenbahnprojekten der Fall und wird auch künftig eine Ausnahme bleiben.
Die Koalition setzt sich für weitere Verbesserungen bei der Berliner S-Bahn ein. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und ein stabiler Taktverkehr stehen für die Koalition dabei im Vordergrund. Mittelfristig soll die S-Bahn durch Ausbau und neue Fahrzeuge attraktiver und schneller werden. Aber auch die Deutsche Bahn AG selbst muss einen noch stärkeren Beitrag für ein zuverlässiges S-Bahn-Netz und sichere, attraktive Bahnhöfe über ihre Tochtergesellschaften leisten. Der Anteil von Umweltbundesamt-zertifiziertem Ökostrom bei der Berliner S-Bahn soll schrittweise auf 100 Prozent angehoben und bei Ausschreibungen sichergestellt werden.
Von der Deutschen Bahn AG fordert die Koalition, die S 21 zügig fertigzustellen, insbesondere den Baubeginn für den zweiten Bauabschnitt zeitnah anzugehen und die Planungen für den dritten Bauabschnitt rasch voranzubringen. Sie setzt sich auch für den Bau eines zusätzlichen Bahnhofs Perleberger Brücke ein. Die Koalition unterstützt das integrierte Express-Konzept der Berliner S-Bahn von Nauen über Spandau in die Berliner Innenstadt. Entsprechende Untersuchungen für diese schnelle, fahrgastfreundliche Verbindung werden vorangetrieben.
In Zukunft will die Koalition die Abhängigkeit von einem/r einzelnen Betreiber*in verringern, um mehr Einfluss auf die Qualität des S-Bahn-Verkehrs zu erreichen und die Kosten zu senken. Für die zukünftigen S-Bahn-Ausschreibungen für den Betrieb ab 2028 will die Koalition daher die Schaffung eines landeseigenen Fahrzeugpools oder andere Modelle, die die Übernahmemöglichkeit durch eine/n neuen Betreiber*in prüfen. Die Voraussetzungen für eine gesellschaftsrechtliche Beteiligung des Landes an der Berliner S-Bahn sollen untersucht werden.
IGEB: Anders als bei der Straßenbahn überwiegen hier allgemeine Absichtserklärungen. Aber die Absicht, einen Fahrzeugpool zumindest zu prüfen, ist bemerkenswert, nachdem sich in der Vergangenheit der einstige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und große Teile seiner SPD solchen Überlegungen grundsätzlich verschlossen haben.
Bemerkenswert ist auch, dass die Koalition den dritten Bauabschnitt der S 21 thematisiert (Potsdamer Platz—Yorckstraße), denn angesichts der großen Hürden beim zweiten Bauabschnitt (Hauptbahnhof—Potsdamer Platz) sollte ein Vorziehen des dritten Abschnittes zumindest geprüft werden. Und ein Lob verdient die Koalition natürlich dafür, dass sie die jahrelange IGEB-Forderung nach einem Bau des S-Bahnhofs Perleberger Brücke aufgegriffen hat.
Die Koalition wird den Takt von S-Bahn, U-Bahn, Bus und Straßenbahn, insbesondere in den Außenbezirken, verbessern und die Anschlusssicherheit erhöhen.
Sobald ausreichend Fahrzeuge zur Verfügung stehen, setzt die Koalition auf dem S-Bahn-Ring tagsüber auf einen 5-Minuten-Takt. Dafür soll in den kommenden Jahren auch das nötige dritte Bahnsteiggleis in Westend gebaut werden. Bis zur Lieferung neuer S-Bahn-Züge setzt die Koalition auf punktuelle Verbesserungen der Taktzeiten im S-Bahn-Netz zum Fahrplanwechsel 2017: Der 5-Minuten-Takt auf dem Ring soll ebenso ausgeweitet werden wie andere Takte auf der Berliner Stadtbahn und im Nordsüd-Tunnel. Noch vorhandene eingleisige Strecken im S-Bahn-Netz will die Koalition Schritt für Schritt beseitigen. Hierzu zählt insbesondere die Strecke der S 25 nach Tegel, die Strecke der S 2 im Norden und Süden sowie die Strecke zwischen Wannsee und Griebnitzsee.
In den Außenbezirken wird das Angebot durch Rufbusse und Sammeltaxis verbessert. Auf den Nachtbuslinien soll im Tarifbereich B im Bedarfsfall auch zwischen zwei Haltestellen gehalten werden können. Der Einstieg beim Bus soll in der Hauptverkehrszeit grundsätzlich an allen Türen erlaubt werden.
IGEB: Auch hier sind einige langjährige IGEB-Forderungen wiederzufinden. Das gilt insbesondere für die Ausweitung des 5-Minuten-Takts auf der Ringbahn, den Ausbau des S-Bahnhofs Westend und den Bau bzw. den Wiederaufbau zweiter S-Bahn-Gleise. Ein ganz dickes Lob verdienen die Koalitionäre für die Freigabe aller Türen zum Einstieg in die BVG-Busse. Peinlich für Berlin, dass so etwas überhaupt in einer Koalitionsvereinbarung stehen muss. Aber es ist gut für die Fahrgäste, dass es hier steht, denn BVG-Personalrats- und Gewerkschaftsvertreter werden sicherlich schon an Abwehrstrategien arbeiten.
Ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung des ÖPNV-Angebots, von Pünktlichkeit und Wirtschaftlichkeit sind Maßnahmen zur Verkehrsbeschleunigung. Der ÖPNV soll konsequent Vorrang erhalten. Die Koalition verfolgt die nachstehenden Zielsetzungen: Alle existierenden Lichtsignalanlagen-Vorrangschaltungen, die abgestellt wurden, sollen kurzfristig wieder in Betrieb genommen werden. Um die Beschleunigung zu effektivieren, werden die entsprechenden LSAMaßnahmen als absolute Beschleunigung realisiert. Es wird eine „Task-Force Beschleunigung“ eingerichtet. Neue Busspuren werden dort eingerichtet, wo die Busse im Stau stehen, und Lücken im existierenden Busspurennetz geschlossen. Die zeitliche Beschränkung der bestehenden Busspuren wird aufgehoben. Die Koalition wird mehr Umweltspuren mit einer Breite von 4,75 m einrichten. Durch ein nachhaltiges Ahnden seitens der Polizei und der Ordnungsämter sollen die Busspuren konsequent von parkenden Autos freigehalten werden. Durch den Bau von Buskaps ist ein ungehindertes An- und Abfahren zu ermöglichen. Weitere Maßnahmen zur Beschleunigung sind Abmarkierungen und verkürzte Haltestellen-Aufenthaltszeiten.
Der barrierefreie Ausbau des U- und S-Bahn-Netzes soll bis 2020 erfolgen, barrierefreie Straßenbahnhaltestellen werden bis 2022 angestrebt. Für den schrittweisen barrierefreien Ausbau der Bushaltestellen, der im Regelfall mit Kasseler Borden und problemlos anfahrbaren Buskaps erfolgen soll, werden zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt.
In Zusammenarbeit mit dem Fahrgastbeirat wird die Koalition ein Gesamtkonzept für die Mobilitätssicherung von Menschen mit Behinderung erarbeiten, mit dem Ziel, die Verkehrsmittel besser miteinander zu verzahnen. Das Konzept soll u. a. auch konkrete Maßnahmen zur Einführung sprechender Busse und Bahnen sowie zum Erhalt und der qualitativen Entwicklung des Sonderfahrdienstes enthalten. Der VBB-Begleitservice wird weitergeführt. Die Eigenbeteiligung der Nutzer*innen des Sonderfahrdienstes wird auf Sozialverträglichkeit überprüft.
Durch Investitionshilfen werden die Voraussetzungen geschaffen, dass eine ausreichende Zahl (rund 10 Prozent) barrierefreier und multifunktionaler Taxen (Inklusionstaxi) sichergestellt und die Eigenbeteiligung an den Fahrtkosten innerhalb des Taxikontos an das Niveau des Sonderfahrdienstes angepasst werden.
Sicherheit im ÖPNV ist wesentlich für die Attraktivität des öffentlichen Verkehrsangebots. Die Koalition wird die Voraussetzungen schaffen, um das Sicherheitspersonal der BVG zu verstärken. Gemeinsame Streifen von BVG-Sicherheitspersonal und Polizei sowie die Besetzung der BVG-Sicherheitsleitstelle mit der Berliner Polizei werden gewährleistet. Auch die Sicherheit bei der Berliner S-Bahn soll erhöht werden.
IGEB: Auch dieses Kapitel ist im Allgemeinen wie bei den Details aus Fahrgastsicht zu unterstützen. Und auch dieses Kapitel enthält (richtigerweise) Details, die für Berlin nur peinlich sind. Buskaps sind andernorts eine Selbstverständlichkeit und bedürfen keiner Erwähnung mehr. Am peinlichsten aber ist, dass es erforderlich ist, die Inbetriebnahme vorhandener Vorrangschaltungen an Verkehrsampeln zu vereinbaren. Das veranschaulicht, wie die Autolobbyisten mithilfe der „Verkehrslenkung Berlin“ jahrelang die BVG ausgebremst haben. Interessant ist der Verweis auf „den“ Fahrgastbeirat. Will die Koalition einen solchen zentralen Beirat einrichten? Es wäre eine gute Entscheidung.
Die Koalition wird als ersten großen Schritt den Preis für das Berlin-Ticket S zeitnah an den im ALG II-Regelsatz vorgesehenen Anteil für Mobilität angleichen.
Die Koalition gründet eine Facharbeitsgruppe, die unter Leitung der zuständigen Senatsverwaltung die zukünftige Fahrpreisgestaltung erarbeitet, solange werden die Fahrpreise eingefroren. Die Koalition prüft, ob und wie durch eine Änderung der Tarifstruktur und eine Senkung der Fahrpreise neue Fahrgäste und damit zusätzliche Einnahmen gewonnen werden können. Die Facharbeitsgruppe befasst sich dabei auch mit folgenden Maßnahmen: Der Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten des Berlin-Ticket-S auf Wohngeldempfänger*innen, der Einführung eines vergünstigten Zeitfahrausweises für junge Menschen bis 18 Jahre, die keinen Anspruch auf ein Schüler*innen-/Azubi-Ticket, Ticket S oder Semesterticket haben, und eines solidarischen Azubi-Tickets, der Einführung einer 10-Fahrten-Karte, eines solidarischen/attraktiven Jobtickets, der Fahrradmitnahme in der Umweltkarte, der Vereinfachung des gesamten Fahrscheinsortiments und Zusammenfassung vergleichbarer Angebote sowie der Änderung der Mitnahmeregelung bei der VBB-Umweltkarte von 20 Uhr auf eine frühere Uhrzeit. Die Möglichkeiten einer ermäßigten Vierfahrtenkarte und von ermäßigten Anschluss- Fahrausweisen (A/C) werden kurzfristig geprüft. Die Koalition will Kombiticket-Angebote ausweiten, auch auf Fluggäste. Das Leihfahrradsystem wird in das Tarifsystem des VBB integriert, so dass der Pauschaltarif in der Umweltkarte enthalten ist.
Die Koalition gibt eine umfassende Machbarkeitsstudie in Auftrag, deren Ergebnis bis Ende 2019 vorgelegt werden soll. Darin werden die Einführung einer Nahverkehrsabgabe/Infrastrukturabgabe für Berlin und das Tarifgebiet des VBB, die Einführung einer solidarischen Umlagefinanzierung im ÖPNV in Berlin und im Tarifgebiet des VBB und die Übernachtungspauschale für Gäste getrennt voneinander untersucht. Dabei wird auch die Prüfung der Preiselastizität für touristische Produkte mit einbezogen.
Zur Nahverkehrsabgabe/Infrastrukturabgabe wird zusätzlich im Rahmen eines Prüfauftrags die Rechtmäßigkeit einer Beitragsfinanzierung sowie einer Übernachtungspauschale für Gäste und bereits bestehender Systeme (zum Beispiel wie in Wien oder Frankreich) geprüft. Nach Auswertung der Ergebnisse der wirtschaftlichen und rechtlichen Untersuchungen wird die Koalition erste Maßnahmen umsetzen.
IGEB: Beim Thema Tarif ist – wie beim Thema Straßenbahn – zu erkennen, dass sich alle drei Parteien damit schon intensiv befasst haben. Die Schwerpunktsetzung ist richtig. Seit Jahren bestimmen die Verkehrsunternehmen die Tarifstruktur und die Tarifentwicklung. Der VBB hat sich von ihnen weitgehend instrumentalisieren lassen, die Politik hat sich weitgehend ausgeklinkt. Betriebswirtschaftliche Aspekte dominieren. Verkehrspolitische, sozialpolitische und umweltpolitische Aspekte sind oft nachrangig. Mit den letzten „Tarifanpassungen“ wurde der VBB-Tarif mehrfach unübersichtlicher statt (wie einst von Berlins Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer versprochen) einfacher. Das gilt auch für die Erhöhungen zum 1. Januar 2017 (siehe Seite 15. Deshalb ist es gut, wenn der Berliner Senat vor weiteren Tariferhöhungen das gesamte System auf den Prüfstand stellen will. Auch die vorgeschlagenen Details gehen aus IGEB-Sicht „in die richtige Richtung“. Aber eine wichtige Maßnahme fehlt: Der Zeitfahrschein für 2 Stunden muss innerhalb dieser Frist wieder uneingeschränkt in alle Richtungen gelten.
Taxiverkehr
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Das Land Berlin wird die BVG mit Wirkung ab 2020 für 15 Jahre durch einen neuen Verkehrsvertrag weiterhin direkt mit der Erbringung der Verkehrsleistungen im U-Bahn-, Straßenbahn- und Busverkehr beauftragen. Der Bestand der BVG als öffentliches Unternehmen wird für diesen Zeitraum garantiert.
Alle Verkehrsverträge werden verstärkt darauf ausgerichtet, bei den Verkehrsunternehmen durch Anreizsysteme eine klare Orientierung auf die Fahrgäste zu fördern und einen qualitativ hochwertigen, zuverlässigen und regelmäßigen Verkehr sicherzustellen. Über vertragliche Anreizsysteme und ein striktes Controlling wird die sachgerechte Verwendung der eingesetzten Finanzmittel gewährleistet.
Die Koalition wird gemeinsam mit der BVG und dem VBB eine intermodale Plattform entwickeln. Die VBB-FahrCard soll zu einer multimodalen Mobilitätskarte mit Bestpreisabrechnung ausgebaut werden, unter anderem mit einer Verknüpfung mit Fahrrad und CarSharing. Ein Bonussystem mit Drittanbieter*innen für Stammkund*innen soll damit verbunden werden. Öffentlich gesammelte digitale Informationen über die Berliner Mobilität sollen für alle in Echtzeit verfügbar sein. Die Koalition unterstützt die Einrichtung von Mobilitätspunkten in der Nähe von ÖPNV-Knotenpunkten.
IGEB: Nicht nur die Weiterentwicklung der VBB-Tarifstruktur muss untersucht werden, sondern auch das Thema „VBB-Fahrcard“. Überlegungen zu einer „Bestpreisabrechnung“ legen den Verdacht nahe, dass die Koalitionäre sich von der Umweltkarte mit Flatrate-Regelung verabschieden wollen. Das wäre nicht im Sinne der Fahrgäste.
Die Koalition wird Formen kollektiver Elektromobilität befördern und sich dafür einsetzen, dass Car-Sharing-Angebote ökologisch ausgerichtet werden. Gegenüber dem Bund wird die Koalition dafür eintreten, dass anstelle der bislang wenig genutzten Kaufprämie für Elektroautos ein Förderprogramm für die Umrüstung der Taxiflotte auf Elektromobilität aufgelegt wird. Einsatzmöglichkeiten autonom fahrender Fahrzeuge im Umweltverbund sollen untersucht werden.
IGEB: Die Fördergelder für Taxis statt für private Fahrzeuge einzusetzen, ist ein richtiger Ansatz. Ansonsten aber gilt: Jedes Elektroauto nimmt Platz weg, verursacht Unfälle und Rollgeräusche wie jedes herkömmliche Auto. „Elektromobilität ausbauen“ muss deshalb vorrangig immer auf Bahnen und Busse ausgerichtet werden.
Der Fern- und Reisebusverkehr wird durch eine Konzentration auf wenige geeignete Zu- und Abfahrten außerhalb des S-Bahn Rings stadtverträglich gestaltet. Die Koalition setzt sich auf Bundesebene für eine Busmaut ein. Die Einnahmen der Busmaut sollen auch nach Berlin fließen. Die Koalition wird ein Konzept für den Reisebusverkehr erarbeiten, mit dem das Parken und Abstellen von Reisebussen in der Innenstadt stadtverträglich geregelt und eingeschränkt wird. Zudem werden Maßnahmen ergriffen, um emissionsarme Reisebusse durchzusetzen.
Die mit der DB AG und dem Bund ursprünglich abgestimmte Eisenbahnkonzeption Berlin („Pilzkonzept“) ist auch künftig Grundlage der Koalition. Der Bahnhof Zoo soll wieder ein Fernzughalt werden, der Ostbahnhof als Fernzughalt erhalten bleiben und wieder gestärkt werden. Mit der Wiederinbetriebnahme der Stammstrecke der Heidekrautbahn einschließlich der Weiterführung bis Gesundbrunnen, der Kremmener Bahn (Prignitz-Express) und der Stammbahn soll die Anbindung des Umlandes an den ÖPNV verbessert werden. Die Koalition setzt sich gegenüber der DB AG für einen möglichst langen Betrieb des Regionalbahnhofs Karlshorst ein. Darüber hinaus wird sich die Koalition auf allen Ebenen für eine zügige Verbesserung der Schienenwege vorrangig nach Stettin sowie auch nach Breslau und Prag einsetzen. Auch die Schienenanbindung zur Insel Usedom (Karniner Brücke) soll verbessert werden.
IGEB: Die Kürze dieses Kapitels ist einerseits nachvollziehbar, da eine Landesregierung auf den Fernverkehr relativ wenig Einfluss hat. Andererseits wären mehr und konkrete Aussagen zum Regionalverkehr wünschenswert. Auch wenn der Stadt-Umland-Verkehr in Berlin nicht eine solche Bedeutung hat wie beispielsweise in Frankfurt am Main oder München, so wird er doch von (West-)Berliner Politikern gern unterschätzt. Attraktiver Regionalverkehr mag im einen oder anderen Fall den Wegzug von Berlinern ins Umland begünstigen, aber angesichts des starken Zuzugs muss Berlin sich nicht sorgen, deshalb zur schrumpfenden Stadt zu werden. Und je mehr Brandenburger zum Arbeiten, Einkaufen oder Kinobesuch mit der Bahn nach Berlin fahren, umso besser ist das auch für die Berliner. Im Übrigen hat bekanntlich rund die Hälfte der Berliner Haushalte kein eigenes Auto, weshalb viele Berliner insbesondere am Wochenende die Regionalzüge für Ausflüge in das Umland nutzen.
Die Koalition will die Parkraumbewirtschaftung schrittweise bis 2021 ausweiten, mit dem Ziel einer Flächendeckung innerhalb des S-Bahn-Rings. Dafür werden die rechtlichen, verkehrlichen und personellen Voraussetzungen geprüft, um Klarheit über die notwendigen Ressourcen zu erlangen. Die Hauptverwaltung wird hier künftig eine koordinierende Rolle übernehmen und durch fachliche Unterstützung die Einführung der Parkraumbewirtschaftung erleichtern. Der Masterplan Parken wird abgeschlossen. Die Koalition wird eine Verordnung in Kraft setzen mit dem Ziel der Begrenzung von Stellplätzen.
In Neubaugebieten will die Koalition alternative Mobilitäts- und Wohnformen ermöglichen, bei denen mit Car-Sharing-Stationen und Mobilitätspunkten multimodale Angebote geschaffen werden, um zusätzliche oberirdische Parkplätze zu vermeiden.
Die Koalition spricht mit der Landesregierung Brandenburg unter Einbeziehung des VBB über die Lösung der Pendler*innenverkehre.
IGEB: Die Koalition hat richtigerweise erkannt, dass es nicht ausreicht, den öffentlichen Verkehr attraktiver zu machen. Zugleich muss es auch Restriktionen für den Autoverkehr geben, insbesondere beim Parken. Doch damit macht man sich nicht beliebt, weshalb die Berliner Verkehrspolitik bisher immer den teuersten Weg gewählt hat: Ausbau der Angebote sowohl für Autofahrer wie auch für Fahrgäste.
Die Koalition wird in dieser Legislaturperiode keinerlei Planungsvorbereitungen bzw. Planungen für den 17. Bauabschnitt durchführen. Der 16. Bauabschnitt erhält einen Abschluss am Treptower Park. Dieser wird so gestaltet, dass er kein Präjudiz für den Weiterbau der A100 darstellt. Es wird ein qualifiziertes Mobilitätsmanagement für den Bereich um den Treptower Park und die Elsenstraße erarbeitet und umgesetzt. Die statisch beim Bau der Autobahn bereits berücksichtigte Fuß- und Radverkehrsbrücke über den Britzer Zweigkanal zur Verbindung des Grünen Netzes und der Erholungsflächen in Treptow wird als Teil eines Radschnellweges/Multifunktionswegs von Adlershof bis Treptow geplant und gebaut.
Bei der Reform der Auftragsverwaltung für Bundesautobahnen (BAB) und Bundesfernstraßen setzt sich die Koalition dafür ein, dass eine (Teil-)Privatisierung von Fernstraßen oder von Anteilen der Infrastrukturgesellschaft ausgeschlossen wird.
Die Planungen und der Bau der Tangentialverbindung Ost (TVO) als Stadtstraße mit einem parallelen Radschnellweg werden fortgesetzt. Gleichzeitig wird die Planung für die Schienen-TVO (Nahverkehrstangente) begonnen. Die Trasse der Nahverkehrstangente ist frei zu halten für damit verbundene neue Bahnhöfe sowie den Umbau des Wuhlheider Kreuzes. Als Vorlaufmaßnahme wird die Koalition eine Verbesserung der Regionalbahnverbindungen in der östlichen Stadt prüfen.
IGEB: Es ist sehr bedauerlich, dass diese Koalition erst jetzt zustande kommt und damit der Bau des 16. Abschnitts der A100 schon fortgeschritten ist und weitergeführt wird. Denn schon jetzt wissen alle, dass die neue Stadtautobahn von Neukölln nach Treptow für den Autoverkehr zumindest in den Hauptverkehrszeiten mehr Probleme als Erleichterungen bringen wird. Und wenn dieser Fall eintritt, werden alle nach der nächsten Autobahnverlängerung rufen. So kalkulieren zumindest die Autobahnbefürworter in der SPD und haben deshalb diesem Kompromiss zugestimmt. Ob aber nicht doch an den Planungen für den 17. Abschnitt weitergearbeitet wird, muss sich noch erweisen, denn die Autobahnlobby in der Senatsverkehrsverwaltung ist groß – und trickreich. So wurden beim Umbau des Bahnknotens Ostkreuz Vorleistungen für diesen 17. Autobahnabschnitt gebaut, was die Baustelle Ostkreuz verzögert und verteuert hat.
Kein Beitrag zur „Mobilitätswende“ ist auch der Bau der Tagentialverbindung Ost, zumal nicht einmal eine Begrenzung auf insgesamt zwei Fahrspuren vereinbart wurde. Das Trostpflaster „Radweg“ entlang der Tagentiale verspricht wenig Fahrgenuss. Und das Trostpflaster „Schienen-TVO“ ist aus IGEB-Sicht alles andere als sinnvoll. Zumindest in den nächsten 20 Jahren gibt es mit Sicherheit wichtigere Bahnprojekte. Im Übrigen existiert mit der RB 24 schon eine sehr gute „Schienen-TVO“ (siehe Seite 23).
Wirtschaftsverkehr
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Flughäfen und Lärmschutz
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Tegel: Grüne Zukunftstechnologien stehen im Forschungs- und Industriepark im Zentrum. Ein Campus der Beuth-Hochschule wird auf den bereits versiegelten Flächen errichtet. Die Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz muss insgesamt verbessert, eine Straßenbahnerschließung soll vorbereitet werden. Das Kurt-Schumacher-Quartier wird zum ökologisch sozialen Modellquartier. Vorgesehen sind energetisch vorbildliche Gebäude in einem autoarmen Wohngebiet. Die Randflächen zum Forst Jungfernheide werden renaturiert. Das Integrierte Stadtentwicklungskonzept schafft die Grundlage für die Vernetzung mit der Umgebung und die soziale Stabilisierung sowie die städtebauliche Verbesserung der umgebenden Quartiere.
IGEB: Dieses Kapitel, das nicht der Mobilität, sondern der Stadtentwicklung zugeordnet ist, enthält auch eine Aussage zum Verkehr: Nach Aufgabe des Flugbetriebes in Tegel soll der auf dem Flugplatzgelände geplante neue Stadtteil mit der Straßenbahn erschlossen werden. Das ist eine richtige und wichtige Abkehr von der bisherigen Sprechblase „Erschließung mit einer innovativen Trasse“, hinter der sich eine Erschließung mit „innovativen“ Bussen verbarg.
Der Anspruch „Mobilitätswende“ ist hoch. Aber wenn zumindest die Mehrzahl der angekündigten Maßnahmen vorbereitet bzw. realisiert wird, kann der Anspruch eingelöst werden. Die Chancen, dass die neue Koalition den Umweltverbund mehr fördert, als es bisher der Fall war, sind groß, weil in Berlin, Deutschlands Stadt mit der geringsten Motorisierungsrate, dennoch eine sehr agile Autolobby am Werk war und ist. Aber ein bisschen Verkehrswende genügt angesichts der großen Rückstände nicht. Deshalb ist es gut, dass die Koalitionsvereinbarung neben allgemeinen Zielen auch viele konkrete (und richtige) Maßnahmen benennt. Aufgabe der neuen grünen Verkehrssenatorin
SIGNAL-Redaktion
aus SIGNAL 6/2016 (Dezember 2016/Januar 2017), Seite 16-21