Straßenbahn im Westen
Seit Dezember 2016 hat das ZDF Straßenbahnanschluss. Auf die Anbindung der Zentrale des Zweiten Deutschen Fernsehens auf dem Lerchenberg nimmt auch die Namensgebung „Mainzelbahn“ für die neue Strecke der Mainzer Tram Bezug. Aber natürlich war die ZDF-Anbindung nicht der Hauptgrund für die Errichtung dieser Trasse, die zu den größten deutschen Tramneubaustrecken der letzten Jahre zählt. Mit ihr wuchs das Straßenbahnnetz der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt um rund fünfzig Prozent. Und weitere Strecken sind bereits in Bau bzw. in Planung.
7. Mär 2017
Mainz zählt in Deutschland zu den kleineren Großstädten. Im Vergleich zu Potsdam hat Mainz jedoch mehr Einwohner (gut 200 000 Einwohner gegenüber knapp 170 000), allerdings ein kleineres Stadtgebiet (97 gegenüber 188 km²). Die Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz ist Teil der Rhein-Main-Region, liegt aber an deren westlichem Rand. Die S-Bahn führt, von Osten über eine nördliche und eine südliche Rheinbrücke kommend, quasi in einem Halbkreis um den Stadtkern von Mainz herum, wo es drei Stationen gibt: Hauptbahnhof, Nordbahnhof und den seit 2006 „Römisches Theater“ genannten früheren Südbahnhof. Sie dient daher vornehmlich der Verbindung mit Nachbarstädten wie Wiesbaden, Rüsselsheim und Frankfurt am Main, hat aber kaum Bedeutung für den innerstädtischen Mainzer ÖPNV, der folglich weitgehend auf Bus und Straßenbahn ruht.
Die 1884 noch als Pferdebahn eröffnete Tram verkehrt bis heute auf Meterspur. Ihre mit 38,4 km größte Netzausdehnung hatte sie zwar bereits 1927 erreicht, doch schon im selben Jahr kam es zu einer ersten Streckenstilllegung.
Richtig bergab ging es aber auch mit der Mainzer Straßenbahn erst in der Zeit des „Wirtschaftswunders“: Nachdem die Schäden des Zweiten Weltkriegs bemerkenswert schnell behoben worden waren und man bereits 1946 eine neue Strecke zur Universität in Betrieb genommen hatte, wurde selbige schon zehn Jahre später wieder aufgegeben. Bereits 1955 war die Verbindung ins Wiesbadener Zentrum „auf Busbetrieb umgestellt worden“, wie
das Straßenbahnsterben damals so gern schöngeredet wurde. 1958 fuhr die letzte Tram über den Rhein, in jene östlich des Flusses gelegene Mainzer Stadtteile, die durch den Zuschnitt der Besatzungszonen seit 1945 zum Bundesland Hessen gehören und Stadtgebiet von Wiesbaden geworden sind (sich im Alltag aber natürlich weiterhin eher auf das sehr viel näher gelegene Mainz orientieren). Weitere Strecken gab man in den sechziger Jahren auf.
Zwar wurde 1977 im nordwestlichen Stadtteil Finthen eine kurze, zwei Stationen umfassende Verlängerung eröffnet, die das Neubaugebiet Römerquelle anband, und 1989 eine neue Trasse im südlichen Stadtteil Hechtsheim in Betrieb genommen, die 1997 eine Erweiterung um eine Station erfuhr. Aber im selben Jahr kam es auch noch einmal zur Stilllegung einer längeren Strecke, und erst 2003 fasste der Mainzer Stadtrat (das Kommunalparlament) nach mehrjährigem Hin und Her, bei dem der Weiterbetrieb wiederholt ernsthaft zur Diskussion gestanden hatte, den Grundsatzbeschluss zum Erhalt der Straßenbahn.
Von einem Tramnetz konnte da eigentlich keine Rede mehr sein: Übriggeblieben war eine große Nordwest-Süd-Strecke zwischen Finthen und Hechtsheim, Bürgerhaus, die den Hauptbahnhof anbindet, aber die Altstadt nur tangiert. In Finthen gabelt sie sich seit 2007 in zwei kurze Äste mit je zwei Haltestellen: dem alten, 1977 eröffneten, zur Römerquelle und dem neuen zur Poststraße. Hinzu kam ein kurzer, teilweise eingleisiger Abzweig vom Hauptbahnhof Richtung Westen nach Bretzenheim, Bahnstraße, sowie ein noch kürzerer, vollständig eingleisiger im Südwesten nach Hechtsheim, Am Schinnergraben. Da in Bretzenheim, Bahnstraße die einzige verbliebene Stumpfendstelle der Mainzer Straßenbahn existiert, muss die Linie 52, die diese beiden Abzweige bedient, zum größten Teil aber ebenfalls die Nordwest-Süd-Strecke nutzt, mit Zweirichtungsfahrzeugen betrieben werden.
Nachdem sich der Stadtrat zur Straßenbahn bekannt hatte, wurde noch 2003 der eingleisige Streckenabschnitt in Bretzenheim nach Jahrzehnten saniert, im Jahr darauf die vielbefahrene Trasse durch die Gaustraße zweigleisig ausgebaut. Seither reklamiert die Mainzer Verkehrsgesellschaft (MVG) für sich, mit dieser Trasse die steilste Straßenbahnstrecke Deutschlands zu besitzen, welche ohne Steighilfe befahren wird: die Steigung beträgt 9,549 Prozent. Tatsächlich ist die Neigung beeindruckend, und zumindest dem Fremden verschafft insbesondere die Fahrt bergab einen gewissen Nervenkitzel: Was wenn die Bremsen versagen? Oder, noch schlimmer und als wahrscheinlicher anmutend, die Räder nicht mehr greifen sollten?
Mit dem Bau der Mainzelbahn wurde dann die größte Erweiterung des Mainzer Tramnetzes seit Jahrzehnten in Angriff genommen – und so dessen weitere Existenz gesichert, die zwischenzeitlich auch wegen seiner geringen Größe und daraus folgend angeblicher Unwirtschaftlichkeit in Frage gestellt worden war. Der politische Beschluss zur Errichtung der Mainzelbahn fiel 2009 bzw. im Stadtrat 2010. Im März 2010 veröffentlichten die Mainzer Stadtwerke, Muttergesellschaft der MVG, ihre Pläne für die Strecke. Das Planfeststellungsverfahren wurde am 30. Januar 2012 eingeleitet und am 4. September 2013 abgeschlossen.
Die weit nach Westen führende neue Strecke sollte dabei nicht nur die Stadtteile Bretzenheim (besser als dies die Linie 52 vermag), Marienborn und Lerchenberg erschließen, sondern insbesondere auch die Johannes-Gutenberg-Universität mit rund 33 000 Studenten und die Hochschule Mainz, wie sich die frühere Fachhochschule seit 2014 nennt, anbinden. Zudem erhielt das erst vor wenigen Jahren gebaute Stadion des Fußballklubs Mainz 05 auf diese Weise Tramanschluss. Das große Einkaufszentrum Gutenberg-Center wird von der neuen Trasse tangiert.
Mit 9,2 km Länge (durchweg zweigleisig und fast vollständig auf eigenem Gleiskörper), sechzehn Haltestellen und drei Wendeschleifen ist die Mainzelbahn eine der größten deutschen Straßenbahnneubaustrecken der letzten Jahre. Neben den bei solchen Projekten üblichen Aufgaben wie der Veränderung von Straßenquerschnitten kam hier noch die Errichtung mehrerer Brücken hinzu. Dennoch wurde die Strecke, mit deren Bau im Mai 2014 mit einem Bürgerfest begonnen worden war, am 10. Dezember 2016 feierlich eröffnet. Tags darauf begann der Regelbetrieb. Alles wie von Anfang an geplant – neben dem Mainzer Tempo (sieben Jahre vom politischen Beschluss bis zur Einweihung) für alle, die mit dem mittlerweile erreichten Berliner Tempo vertraut sind, fast unglaublich.
Auch die übliche Kostensteigerung hielt sich in Grenzen. Zur Eröffnung errechnete die MVG rund 90 Millionen Euro. Ursprünglich waren 84 Millionen kalkuliert worden, davon rund 44 Millionen vom Bund und über 9 Millionen vom Land. Die 31 Millionen Euro Eigenmittel brachten die Stadtwerke ohne zusätzliche Kreditaufnahme auf, unter anderem durch eine Dividende der Kraftwerke Mainz-Wiesbaden AG.
Natürlich gab es auch gegen dieses Straßenbahnprojekt die üblichen Bedenken und Widerstände: Bäume mussten gefällt werden (dafür wurden neue gepflanzt) und, noch schlimmer, Parkplätze verschwanden (teils ersatzlos). Die Tram könnte Geräusche machen und Erschütterungen verursachen (Dinge, die beim Autoverkehr in der Regel klaglos hingenommen werden), und die eingefleischten Straßenbahnfeinde wussten selbstverständlich auch in Mainz, dass man den Verkehr doch genauso gut weiterhin mit Bussen bewältigen könnte – zur Not müsste die MVG eben einfach noch mehr von denen fahren lassen.
Dass es so eben nicht geht (zwischen Hauptbahnhof und Universität verkehrten bis zur Eröffnung der Mainzelbahn täglich rund 1200 mal Busse), dass das – auch aus ökologischen und volks- wie betriebswirtschaftlichen Gründen – wünschenswerte weitere Wachstum des ÖPNV nur mit der Straßenbahn bewältigt werden kann, legte die MVG detailliert dar. So rechnete sie etwa in Pressemitteilungen mehrmals vor: „Den finanziellen Belastungen durch Abschreibung, Zinsaufwand und für den Betrieb der knapp zehn Kilometer langen Straßenbahnverbindung von insgesamt etwa 2,5 Millionen € im Jahr stehen Einsparungen bei Energie- und Personalkosten, eine bessere Auslastung der vorhandenen Straßenbahninfrastruktur und zusätzliche Fahrgeldeinnahmen durch ein erwartetes Fahrgastplus von rund einer Million Fahrgästen in vergleichbarer Größe gegenüber.“
Mittlerweile erwartet die MVG durch das verbesserte ÖPNV-Angebot sogar einen Zuwachs von jährlich zwei Millionen Fahrgästen, womit der Verkehrsbetrieb – der inzwischen pro Jahr über fünfzig Millionen Menschen befördert – weiteren Rekordzahlen entgegeneilen würde. Die zehn für die Mainzelbahn beschafften Straßenbahnen sollen zwanzig Busse ersetzen.
Schon 2010, also lange vor den Bauarbeiten, begann die MVG eine Bürgerbeteiligung und offensive Öffentlichkeitsarbeit, unter anderem mit einer Infostelle, Workshops und Informationsabenden. Dabei wurden der Nutzen durch die schnelle, komfortable und umweltfreundliche neue Verbindung, deren ökonomische Vorteile und die mit dem Bau verbundene Sanierung und aufwertende Umgestaltung von Straßen ebenso dargestellt, wie auf die zahlreichen Gegenargumente eingegangen wurde. Ein weiteres, permanent präsentes Instrument der Öffentlichkeitsarbeit war eine eigene Website für das Projekt, die auch fortlaufend aktualisiert wurde (mittlerweile aber leider nicht mehr online ist).
So scheint auch der Umgang mit den allgegenwärtigen Tramfeinden vorbildlich gewesen zu sein, jedenfalls konnten sie – so man sie nicht zu überzeugen vermochte – in Mainz nicht die Oberhand gewinnen und das Vorhaben wie andernorts zu Fall bringen.
Das Bemühen um Akzeptanz geht auch nach der Eröffnung der Strecke weiter: So musste die MVG im Januar 2017 auf Beschwerden von Anwohnern reagieren, die Erschütterungen beklagten. Außerdem quietsche die Bahn. Der Verkehrsbetrieb erläuterte nicht nur, dass die Strecke noch nicht eingefahren ist, der Schotter sich noch setzen muss, der Rasen – auch witterungsbedingt – noch nicht verlegt werden konnte. Man begann auch, da die automatischen Einrichtungen noch nicht in Betrieb waren, beispielsweise die neue Wendeschleife Lerchenberg per Hand zu schmieren. In der Ortsdurchfahrt Bretzenheim wurde die Höchstgeschwindigkeit vorerst auf 30 km/h reduziert.
Auch ohne diese Maßnahme braucht die Tram, die eben auch die Stadtteile Bretzenheim und Marienborn erschließt, für die Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Lerchenberg allerdings immer noch einige Minuten länger als der über schnellstraßenartig ausgebaute Trassen verkehrende Bus – so dieser denn nicht im Stau steht.
Mit der Eröffnung der Mainzelbahn wuchs das Mainzer Straßenbahnnetz um rund 50 Prozent auf 29,2 km. Die nächste kleine Streckeneröffnung soll schon im kommenden Frühjahr folgen: Das in der Umgestaltung befindliche Gebiet des ehemaligen Zoll- und Binnenhafens wird durch eine rund 500 Meter lange Wendeschleife in Form einer Blockumfahrung angebunden. Dadurch erhält dann auch der Abzweig zum Betriebshof, erstmals seit 1997, wieder Linienbetrieb. Und das Straßenbahnamt wird wieder mit der Straßenbahn zu erreichen sein.
So werden vom Frühjahr an fünf Tramlinien in Mainz verkehren (bis zum 10. Dezember 2016 waren es nur noch drei gewesen): Die große Nordwest-Süd-Strecke zwischen Finthen, Römerquelle und Hechtsheim, Bürgerhaus befährt inzwischen nur noch die Linie 50. Die Mainzelbahn (Endhaltestelle Lerchenberg, Hindemithstraße) wird von der 51 von und nach Finthen, Poststraße und der neuen Linie 53 von und nach Hechtsheim, Bürgerhaus bedient. Hinzu kommen die unveränderte Linie 52 (Bretzenheim, Bahnstraße—Hechtsheim, Am Schinnergraben) und die neue 59 zwischen Zollhafen und Bretzenheim, Hochschule Mainz. Weiterhin werden alle Linien den Hauptbahnhof berühren, der als zentraler Knotenpunkt des Mainzer ÖPNV dient.
Im Zusammenhang mit dem Streckenneubau beschaffte die MVG von Stadler zehn fünfteilige Dreißig-Meter-Züge vom Typ Variobahn, die sich zu den neun bereits 2011/2012 gelieferten gesellen. Daneben stehen für den Regelbetrieb sechzehn GT6M-ZR von Adtranz, Baujahr 1996, zur Verfügung, sowie sechs, ebenfalls für den Zweirichtungsbetrieb ausgelegte, M8C (Straßenbahnwagen M mit acht Achsen und Choppersteuerung) von Düwag, Baujahr 1984. Letztere werden seit 2015 nacheinander aufgearbeitet.
Womöglich animiert auch durch das Mainzer Vorbild, hat Wiesbaden Interesse bekundet, die 1955 eingestellte Straßenbahnverbindung in die hessische Landeshauptstadt – wo der ÖPNV ebenfalls wächst und mit Bussen kaum mehr zu bewältigen ist – wiederherzustellen. Dabei geht es nicht nur um die Anbindung der rechtsrheinischen Mainzer Stadtteile wie Kastel, die verwaltungstechnisch zu Wiesbaden gehören, sondern um eine Strecke ins Zentrum der Nachbarstadt und über dieses hinaus: Durch eine Reaktivierung der Trasse der Aartalbahn, auf der der reguläre Personenverkehr 1986 eingestellt wurde, würde eine Verbindung bis in die nordwestlich von Wiesbaden gelegene Kreisstadt Bad Schwalbach geschaffen werden, insgesamt eine mehr als 34 km lange Strecke. Dabei würde die Tram auch, erstmals seit den 1960er Jahren, die Mainzer Altstadt wieder durchqueren, statt sie nur zu tangieren. Für die problemlose Anbindung an das Mainzer Netz soll auch diese Strecke in Meterspur ausgeführt werden.
Natürlich läuft das Vorhaben unter dem Begriff „Citybahn“, dem ja ein besseres Image zugeschrieben wird als „Straßenbahn“. Und schon zweimal in den letzten 20 Jahren ist das Projekt einer neuen Wiesbadener Tram gescheitert. Doch wohl nicht nur um den Straßenbahnfeinden zuvorzukommen, wird jetzt aufs Tempo gedrückt: Wiesbaden und Hessen scheinen auch auf GVFG-Mittel zu spekulieren, die eigentlich für Tramprojekte in Bielefeld und Aachen vorgesehen waren, welche per Volksentscheid verhindert worden sind. Die Ausschreibung der Vorplanung der Wiesbadener „Citybahn“ erfolgte jedenfalls schon Ende 2016.
Bilder und Informationen zur Mainzelbahn:
www.mvg-mainz.de/mainzelbahn-videos.html
www.strassenbahnfreunde-mainz.de/html/neubaustrecke_mainzelbahn.html
Jan Gympel
aus SIGNAL 1/2017 (März 2017), Seite 18-21