Brandenburg

Weichenstellungen für die Stammbahn

Land Berlin, Bezirk Steglitz-Zehlendorf und Land Brandenburg – an drei Orten wurden die Weichen zugunsten eines Wiederaufbaus der Stammbahn gestellt. Damit hat die Eisenbahnstrecke Potsdam—Zehlendorf—Berlin, die vor 179 Jahren als erste Eisenbahnstrecke Preußens eröffnet wurde, nicht nur eine große Vergangenheit, sondern sie scheint auch – endlich – eine Zukunft zu haben.


Berliner Fahrgastverband IGEB

6. Aug 2017

Berlin: Weichenstellung im Hauptausschuss

Wer sich die Tagesordnung der Hauptausschuss- Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 29. März 2017 ansieht, kann nicht sofort erkennen, dass unter TOP 23 „Machbarkeitsstudie Radschnellwege – Fortschrittsbericht (Berichtsauftrag aus der 2. Sitzung vom 18. Januar 2017)“ eine wichtige Entscheidung zugunsten der Stammbahn getroffen wurde.

Welche Bedeutung die Stammbahn in den 1930er Jahren für den Verkehr von und nach Berlin hatte, veranschaulicht diese Zeichnung der Bürgerinitiative Stammbahn. BI Stammbahn

Aber als die Ausschussmitglieder über den Bericht diskutierten, der sich auch mit einem Radschnellweg auf der Trasse der nicht befahrenen Stammbahn befasst, vermerkt das Inhaltsprotokoll des Abgeordnetenhauses: „Sven Heinemann (SPD) gibt zu Protokoll, dass seine Fraktion die Verkehrsverwaltung auffordere, die Planungen zur Trasse „Potsdamer Stammbahn“ nicht weiter zu verfolgen. Im Koalitionsvertrag sei festgehalten, dass die Stammbahn reaktiviert werden solle. Harald Wolf (LINKE) schließt sich dieser Aufforderung an. Neben der Koalitionsvereinbarung und der Tatsache, dass es für die Umsetzung eines Radschnellweges auf der Stammbahn erkennbar keine politische Mehrheit gebe, existiere ein deutlich artikuliertes Interesse der Deutschen

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Bahn zur Reaktivierung der Stammbahn. Aus diesem Grund sei Abstand davon zu nehmen, für dieses Vorhaben planerische Ressourcen zu verschwenden.“

Nach der Aussprache über den Bericht beschlossen die Abgeordneten dann, die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz zu bitten, „dem Hauptausschuss [ ] am 20. Oktober 2017 einen weiteren Fortschrittsbericht zu den Radschnellwegen vorzulegen, in dem u. a. die Routenführung der geplanten Radschnellwege deutlicher dargestellt wird und zu folgenden Punkten Stellung genommen wird: […] Welche konkreten Planungen hat die Deutsche Bahn, die Stammbahntrasse zu reaktivieren?“

Wieso sich der Ausschuss hier auf das Abfragen von Planungen der Deutschen Bahn beschränkt und nicht eine Positionierung des Senats zur Stammbahn fordert, ist nicht zu verstehen. Denn immerhin ist das Land Berlin Aufgabenträger des SPNV und könnte mit einer Bestellung von Verkehrsleistungen die Zukunft der Stammbahn absichern. Aber die klare Absage an einen Radweg zu Lasten der Stammbahn ist ein wichtiger Erfolg.

Steglitz-Zehlendorf: Weichenstellung in der Bezirksverordnetenversammlung

Innerhalb Berlins liegt die Stammbahntrasse fast vollständig in den Bezirken Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf. Beide haben sich in den letzten Jahren für einen Radschnellweg auf den nicht genutzten Gleisen engagiert.

Vor diesem Hintergrund ist der Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf vom 17. Mai 2017 ein wichtiger Erfolg: „Das Bezirksamt wird ersucht, sich bei den zuständigen Stellen dafür einzusetzen, dass sowohl die Reaktivierung der Berlin-Potsdamer Stammbahn als auch ein bezirksdurchquerender, möglichst kreuzungsfreier Fahrradschnellweg realisiert werden kann.

Dazu ist erforderlich:

Der Bezirk hat die Hoffnung auf einen attraktiven Radschnellweg also nicht aufgegeben, bekennt sich aber eindeutig zum Wiederaufbau der Stammbahn.

K.O.-Kriterium Schallschutz

Eine „Gesamthafte ÖPNV-Untersuchung” schlägt der VBB für die Stammbahn vor. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, hätte man allerdings keine aufwendigen Korridoruntersuchungen anstellen müssen. Quelle: VBB-Präsentation zum Regionaldialog am 9. Juni 2017 in Bad Belzig

Bemerkenswert ist die Forderung der Bezirksverordneten nach einer „fairen“ Nutzen-Kosten-Untersuchung. Offensichtlich hat es sich herumgesprochen, dass politisch nicht gewollte Strecken über die Nutzen-Kosten- Rechnung schlechtgerechnet werden – und umgekehrt. Bei oberirdischen Bahnstrecken in Siedlungsgebieten ist das besonders einfach durch Einrechnung der extrem hohen Kosten für den Schallschutz.

Hier ist der Gesetzgeber gefordert: Es darf nicht sein, dass der umweltfreundliche Schienenverkehr durch die berechtigte Umweltauflage Schallschutz in der Nutzen-Kosten-Rechnung ausgebremst wird. Diese Absurdität betrifft alle Streckenneubauten ebenso wie die Elektrifizierung vorhandener Bahnstrecken.

Brandenburg: Weichenstellung im Ministerium

Das Land Brandenburg ist gerade dabei, seine jahrelange defensive SPNV-Politik zumindest teilweise aufzugeben, nachdem es sich bisher stets darauf beschränkt hatte, das bestehende Angebot zu bewahren.

Für die Bereitschaft zum Umdenken im zuständigen Ministerium bedurfte es allerdings einiger Anstöße von außen. So beschloss der brandenburgische SPD-Landesvorstand am 4. Mai 2015, „das bestehende Regional- und S-Bahn-System zwischen Brandenburg und Berlin […] gemäß Koalitionsvertrag hinsichtlich der Leistungsfähigkeit zu überprüfen und für die zukünftigen Verkehrsanforderungen weiterzuentwickeln“ (vollständig nachzulesen in SIGNAL 3/2015). In der Begründung zum Beschluss wird dann u. a. ausgeführt: „Für folgende Achsen sind dabei grundsätzliche Entscheidungen zum Infrastrukturausbau bzw. zur Bedienform zu treffen: […] Potsdamer Platz—Zehlendorf—Potsdam“.

Auch die CDU-Fraktion im Landtag Brandenburg setzte ein bemerkenswertes Zeichen und beauftragte im August 2016 die Innoverse GmbH mit der Erarbeitung einer „Entwicklungsstrategie für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in Berlin und Brandenburg“. Erarbeitet wurde das Gutachten von Hans Leister (SPD-Mitglied!) und Detlef Woiwode, beide einst Mitarbeiter der Deutschen Bahn.

Zur Stammbahn schreiben die Autoren der im März 2017 von der CDU präsentierten Arbeit: „Für eine weitere Verbesserung der Anbindung des westlichen Berliner Umlandes sowie zur Entlastung der Berliner Stadtbahn ist der Wiederaufbau der Stammbahn unbedingt erforderlich. Ohne Stammbahn ist es nicht möglich, ausreichend Züge aus dem Westen Brandenburgs nach Berlin anzubieten.“ Mehr zu dem Gutachten s. Seite 19.

Diese Anstöße von außen, nicht zuletzt auch seitens der Fahrgast- und Umweltverbände, scheinen nun in der Landesregierung ein Umdenken ausgelöst zu haben, das auch positive Auswirkungen auf die Stammbahn haben könnte. In der Diskussion zum Landesnahverkehrsplan 2018 bis 2022 hat das Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung Anfang Juni 2017 unter der Überschrift „Infrastruktur für Wachstum entwickeln“ acht Projekte benannt, darunter immerhin auch den „Korridor Potsdamer Stammbahn“.

Fazit

Drei „regierende“ Akteure haben sich im Frühjahr 2017 zumindest grundsätzlich zum Wiederaufbau der Stammbahn bekannt. Hinzu kommt die oppositionelle CDU-Fraktion im Landtag Brandenburg. Das darf nach der bisherigen Entwicklung als großer Fortschritt gewertet werden.

S-Bahnhof Zehlendorf Süd, 1972 gebaut, 1980 stillgelegt. Das „Empfangsgebäude”, ein Bahnsteigschild und die Bahnsteigleuchten zeugen von der einstigen Station. Wenn diebStammbahn als Regionalzugstrecke wiederaufgebaut wird, wofür es gute Gründe gibt, werden in Zehlendorf Süd allerdings nie wieder Züge halten. Foto: IGEB (2016

Doch Euphorie ist nicht angebracht. Berlin und Brandenburg haben sich bisher nicht entschieden, ob die Stammbahn für den Regional- oder S-Bahn-Verkehr aufgebaut werden soll. Die positiven Auswirkungen auf das Eisenbahnnetz im Raum Berlin-Brandenburg mit einer Entlastung der Stadtbahn und die regionale Verkehrsnachfrage sprechen für eine Regionalverkehrsstrecke mit Oberleitung. Deshalb tendiert auch der Berliner Fahrgastverband IGEB zu dieser Variante.

Demgegenüber ist mit einer S-Bahn die Feinerschließung besser, z. B. durch Wideraufbau des S-Bahnhofs Zehlendorf Süd. Und zwischen Zehlendorf und Schöneberg können die vorhandenen S-Bahn-Gleise genutzt werden, so dass die teuren und hässlichen Schallschutzwände entbehrlich wären, die außerdem eine Regionalbahnstrecke in der Nutzen-Kosten-Rechnung schnell unter den erforderlichen Faktor 1 treiben werden.

Die größte Gefahr aber ist, dass die Diskussion um S-Bahn oder Regionalbahn auf der Stammbahn zu einer Wiederholung des Havelland-Desasters führen dürfte. Dort haben sich die Verfechter von Regionalzügen und S-Bahn-Zügen so sehr zerstritten, dass auch mehr als 25 Jahre nach dem Mauerfall diese wichtige Berlin-Umland-Verbindung nicht leistungsfähig ausgebaut werden kann.

Zugang zum ehemaligen Stammbahnsteig Zehlendorf. Mit der heute Stammbahn genannten Strecke begann 1838 die preußische Eisenbahngeschichte. Nicht Nostalgie, sondern verkehrs-und umweltpolitische Argumente sprechen heute für eine schnelle Wiederherstellung dieser Strecke. Foto: Kai-Uwe Thiessenhusen (2016)

Eine ähnliche unendliche Debatte wäre fatal. Aber sie ist zu befürchten, findet vielerorts jetzt schon statt. Hinzukommen werden die Akteure, die einen Wiederaufbau der Stammbahn – für welchen Verkehr auch immer – rundweg ablehnen.

Bis also die ersten Züge auf der Stammbahn fahren können, werden noch sehr viele Jahre vergehen. Dennoch sind die oben zitierten politischen Bekenntnisse ein wichtiger Erfolg. Denn auch und gerade für die Stammbahn gilt die chinesische Weisheit: Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Berliner Fahrgastverband IGEB

aus SIGNAL 3/2017 (August 2017), Seite 16-18