Fernverkehr
Thüringen erhält Gegenleistung für Duldung der Pkw-Maut
6. Aug 2017
Trotz einiger Kontroversen hatte der Bundesrat das Gesetz zur Einführung der Pkw-Maut am 31. März 2017 überraschend gebilligt. Die Empfehlung der Fachausschüsse zur Einberufung des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat entsprechend Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes erhielt keine Mehrheit.
Wesentlich dazu beigetragen hat die Stimmenthaltung von Thüringen. Zwar hätte die Anrufung des Vermittlungsausschusses das Gesetz am Ende wohl nicht verhindert oder nur Detailänderungen bei der Maut für grenznahe Regionen bewirkt, dennoch war es ein unerwarteter Erfolg für Verkehrsminister Alexander Dobrindt und sein CSU-Prestigeprojekt einer „Ausländermaut“. Dieser Begriff wurde von den Kritikern eingeführt, weil die in Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeuge durch diese Maut aufgrund gleichzeitiger Entlastungen nicht zusätzlich belastet werden sollen.
Stoppen können die Pkw-Maut jetzt nur noch Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Österreich bereitet eine entsprechende Klage bereits vor.
Doch ohne einem Urteil vorgreifen zu wollen, sind Dobrindts Pkw-Maut-Pläne überflüssiger nationaler Aktionismus und europarechtlich höchst fragwürdig. Hinzu kommt, dass die EU-Kommission angekündigt hat, auf europäischer Ebene eine
fahrleistungsabhängige Pkw-Maut bis 2019 einführen zu wollen. Das wäre der sehr viel bessere Weg, denn eine erhöhte Beteiligung der Autofahrer an den Kosten der Verkehrsinfrastruktur ist ja grundsätzlich richtig.
Kurios ist, dass nun die Bahnkunden – zumindest ein Teil von ihnen – von der unsinnigen bzw. diskriminierenden Pkw-Maut Dobrindts profitieren. Denn Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat als Gegenleistung zu seiner Stimmenthaltung im Bundesrat erwirkt, dass der 103 km lange Abschnitt Weimar—Gößnitz der Mitte-Deutschland-Verbindung elektrifiziert wird und damit dieses seit langem geplante Projekt endlich umgesetzt wird.
Für insgesamt 46 der in der Anlage des Bundesschienenwegeausbaugesetztes gelisteten Projekte wurde bislang keine Bewertung durchgeführt. Diese Projekte gehören zur Kategorie „Potenzieller Bedarf“ und befinden sich damit in der Warteschleife. Einen verbindlichen Termin für die Bewertung gibt es nicht, obwohl im „Potenziellen Bedarf“ keineswegs zweitrangige Projekte, sondern wichtige Maßnahmen zur Engpassbeseitigung bzw. Kapazitätserhöhung aufgeführt sind, die die Wettbewerbsfähigkeit des Systems Schiene spürbar verbessern würden.
Auch das Projekt der Ausbaustrecke Weimar—Gera—Gößnitz war hier eingestuft. Der Maut-Deal zwischen Ministerpräsident Bodo Ramelow und Verkehrsminister Alexander Dobrindt hat nun zur Folge, dass der Ausbau bzw. die Elektrifizierung dieser Strecke seit dem 2. Juni 2017 in den „Vordringlichen Bedarf” eingestuft ist! Die Finanzierung des Projekts ist damit gesichert und die Planungen können jetzt ohne weiteren Zeitverzug aufgenommen werden.
Auch Thüringen hat für dieses Projekt insgesamt 30 Millionen Euro in den Landeshaushalt eingestellt. Somit kann das Bahnangebot in dieser Relation deutlich verbessert werden. Außerdem wird ein Beitrag zur Elektromobilität geleistet bzw. die Umweltbilanz des Verkehrsträgers Schiene wird weiter verbessert – ein anrüchiger und doch sehr cleverer politischer Deal.
Hatten nicht auch Brandenburg und Sachsen diese Chance, Schienenprojekte aus der Warteschleife zu holen? Dies betrifft insbesondere die Ausbaustrecke (ABS) Cottbus—Görlitz (Projekt-Nr. 2-028-V01 im Bundesverkehrswegeplan) und die Ausbaustrecke (ABS) Dresden—Görlitz—Grenze Deutschland/Polen (Projekt-Nr. 2-029-V01).
Beide Vorhaben sind ebenfalls lediglich als „Potenzieller Bedarf“ eingestuft und die Projektbewertung ist noch nicht abgeschlossen. Angesichts der langjährigen erheblichen Attraktivitätsprobleme des Schienenverkehrs u. a. in der Relation Berlin—Wrocław (Breslau) ist dies nicht nachvollziehbar.
Der Ausbau bzw. die Realisierung würde u. a. die Führung durchgehend elektrisch betriebener Züge in der Relation Berlin—Cottbus—Horka—Węgliniec (Kohlfurt)—Wrocław ermöglichen – und das mit deutlich kürzeren Fahrzeiten von rund 3:20 Stunden zwischen Berlin und Wrocław. Im Auftrag der Industrie- und Handelskammer Cottbus wurde für die Ausbaustrecke Cottbus—Görlitz im August 2016 zudem eine Potenzialanalyse erstellt, die die positiven Impulse für den Schienenverkehr nachweist.
Nicht zuletzt besteht für die Realisierung beider Projekte hoher Handlungsdruck: Nach derzeitigem Planungsstand soll bis Dezember 2020 die Elektrifizierung des 27 km langen polnischen Abschnitts Węgliniec—Zgorzelec abgeschlossen sein, aber der Lückenschluss im elektrifizierten Schienennetz auf deutscher Seite ist bis zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr zu schaffen!
Doch gerade weil beide Elektrifizierungsvorhaben so wichtig sind, dürfen sie nicht zum Spielball irgendwann möglicher und irgendwie anrüchiger Deals werden. Deshalb sollte Brandenburg und Sachsen nicht fehlende Cleverness bei fragwürdigen Deals vorgeworfen werden, sondern höchstens unzureichendes Engagement für die Bahnstrecken nach Polen. Doch wer das Desinteresse des Bundesverkehrsministers am Bahnverkehr Deutschland—Polen kennt, der weiß auch, wie schwer es die ostdeutschen Bundesländer haben.
Deutscher Bahnkunden-Verband (DBV) und IGEB Fernverkehr
aus SIGNAL 3/2017 (August 2017), Seite 24-25