Titelthema Tarife

Quo Vadis VBB-Tarif?

Am 1. April 2017 ist der VBB-Tarif volljährig geworden. Dabei hat das Kind mit den Jahren einiges überschüssige Gewicht angesetzt und ist in letzter Zeit von seinen Erziehungsberechtigten vernachlässigt worden. Wie geht´s weiter?


Berliner Fahrgastverband IGEB

5. Okt 2017

Foto: Holger Mertens

Gerade einmal 6 DIN-A5-Seiten umfasste die Beschreibung des Tarifkonzeptes im Gründungsentwurf des VBB aus dem Jahre 1996. Darin wurden Grundsätze wie Tarifgerechtigkeit und die Einfachheit bzw. Erklärbarkeit des Tarifes festgeschrieben sowie kurz die Wabenstruktur erklärt.

Als der VBB-Tarif dann am 1. April 1999 in Kraft trat, wurde er in einer Broschüre auf 46 Seiten (Teil A bis D) erklärt. Mit allen Anhängen und Anlagen kam die Broschüre auf immerhin 85 Seiten.

Diese wuchsen von Jahr zu Jahr immer weiter an. Heute, 2017, hat der Tarif (Teil A bis D), trotz deutlich schmalerer Schriftart, bereits 102 Seiten – mehr als das Doppelte!. Mit dem neuen Teil E sind es schon 116 Seiten. Und mit allen (unvollständigen) Anhängen kommt die Broschüre auf 149 Seiten.

Darin finden sich dann solch literarisch wertvolle Absätze wie dieser (Teil D, 4.1, Seite 85): „[… ] Einzelfahrausweise und Tageskarten für den Stadtlinienverkehr des Ortes mit Stadtlinienverkehr Eberswalde bzw. Einzelfahrausweise für die Stadtlinienverkehre der Orte mit Stadtlinienverkehr Bernau, Bad Freienwalde oder Zepernick können nur im Vorverkauf auch in Form von Mehrfahrtenkarten ausgegeben werden. [… ]“

Literaturkritisch betrachtet ein Werk, das seinen Leser sicherlich nicht unterfordert, jedoch die selbst gesetzte Messlatte der leichten Erfassbarkeit deutlich reißt. Umgangssprachlich hätte man bestimmt auch

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schreiben können: „Sammelkarten nur im Vorverkauf!“, doch das hätte der Autor womöglich als intellektuelle Beleidigung verstanden.

Irritierende Tarifregelungen

Doch nicht nur das Geschriebene stellt ein Problem dar, sondern im besonderen Maße auch das nicht Geschriebene. So gibt es im Regionalverkehr beispielsweise zwei Arten von Fahrradkarten: die aus dem VBB-Regelwerk und die aus dem DB-Regelwerk. Wer selbst mit einem DB-Ticket unterwegs ist, muss zwingend ein DB-Fahrradticket kaufen, denn dann ist ein VBB-Fahrradticket ungültig. Umgekehrt gilt dasselbe. Diese Regelung ist genauso unnötig wie albern. Oder hat Ihnen schon mal die Supermarktkassiererin verboten, Miracoli-Spaghetti gemeinsam mit Bertolli-Pastasoße zu kaufen, weil das ja zwei verschiedene Marken sind, die man nicht zusammen essen darf?

Als 2004 aus dem 2-Stunden-Ticket ein Einzelfahrschein wurde, bei dem fortan „Rück- und Rundfahrten“ ausgeschlossen waren, wurde die Definition, was „Rückund Rundfahrten“ eigentlich sind, bewusst schwammig gehalten:

„[… ] Rückfahrten sind Fahrten in Richtung auf den Ausgangspunkt auf derselben Strecke, die bei der Hinfahrt benutzt wurde. Rundfahrten sind Fahrten, die auf einem anderen Weg

führen. [… ]“ (Teil B, 5.3.1, Seite 49)

Doch wie nahe muss ein dem „Ausgangspunkt naheliegender Punkt“ liegen, um als „naheliegend“ zu gelten? Ist Berlin Friedrichstraße nahe genug am Alexanderplatz? Oder nur der Hackesche Markt? Oder gar der Zoo? Die Fälle, in denen Verkehrsbetrieb, Kontrollpersonal und Kunde dies unterschiedlich interpretiert haben, sind unzählbar. Wer als Verkehrsunternehmen dann seine Rechtsposition ausnutzt und sich daran bereichert, steht moralisch auf der gleichen Ebene wie Hütchenspieler, Kaffeefahrtbetreiber und Trickbetrüger.

Versprochene Tarifreform blieb aus

Bereits 2007 hatte die damalige Berliner Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge- Reyer diesen Missstand angemahnt und wollte bis zu einer Tarifreform keine einzige Tariferhöhung mehr genehmigen (siehe SIGNAL 3/2017, Seite 16-17). Bereits ein Jahr später hatte jeder Beteiligte dieses Ultimatum bereits wieder „vergessen“. Schade.

Statt reformiert zu werden, stieg der Tarif von Jahr zu Jahr – es sei denn, Wahlen standen an. Das sorgt allerdings dafür, dass sich immer mehr Gruppen die teuren Standardtickets nicht mehr leisten können und einen Ausgleich bzw. einen eigenen Sondertarif fordern. Das ist der eine Grund, weswegen sich der Tarif unaufhörlich aufbläht und sich die Tarifstufen wie Ungeziefer vermehren. Der andere Grund ist die Gier, aus jeder Nutzerschicht das Maximale an Erlös herauszuquetschen. So hält man beispielsweise Fahrradfahrer für etwas zahlungsbereiter als Eltern, ergo teilt man das zuvor für alle geltende Ermäßigungsticket in ein Ermäßigungsticket und ein Fahrradticket auf. Das Fahrradticket ist dann 10 oder 20 Cent teurer als das Ermäßigungsticket, und schon ist eine komplett neue Tarifstufe geschaffen, für die es wieder Einzeltickets, Kurzstrecken, Tageskarten etc gibt. Und damit nicht genug! Inzwischen gibt es für fast jedes touristische Ziel Sondertickets mit Sonderbestimmungen und Sonderpreisen, die mal teurer, mal günstiger als die Standardtickets sind, je nachdem, wie die anvisierte Käuferschicht nach unterschiedlich haarsträubenden Gesichtspunkten finanziell eingeordnet wird.

Gezielt gesteuert wird das alles allerdings so gar nicht mehr. Wer schreit, kriegt seine Extrawurst. Egal, wie sich das auf die Grundsätze Tarifgerechtigkeit, Einfachheit und Erklärbarkeit des VBB-Tarifs auswirkt. Potsdam will, dass die Kurzstrecke künftig bei sich eine oder zwei Stationen weniger weit gilt? Bitte sehr!

VBB ohne Bereichsleiter Tarif

Das wirkt nicht nur kopflos, das ist es auch. Nachdem vor über anderthalb Jahren (2015) herauskam, dass der VBB seine Kunden über die Datenschutzproblematik ihrer elektronischen Fahrcard nachweislich falsch und manipulativ informiert hat, verließ kurz darauf der damalige Leiter des Bereiches „Tarif und Vertrieb“, Matthias Stoffregen, den VBB. Seitdem ist die Position unbesetzt.

Nochmal: Seit über anderthalb Jahren hat das Unternehmen, welches hauptsächlich dafür gegründet wurde und dessen Hauptaufgabe es ist, den gemeinsamen Fahrscheintarif in Berlin und Brandenburg zu verwalten, keinen Bereichsleiter, also keinen Verantwortlichen für eben diese Aufgabe!

Kein Wunder also dass alle Überlegungen zum Tarif inzwischen von außerhalb des VBB kommen. Dabei gehen die Vorstellungen weit auseinander und sind auch häufig von Partikularinteressen vorangetrieben.

Von links kommt das sogenannte „Bürgerticket“. Heißt: Alle Bewohner zahlen ähnlich wie beim Rundfunk zwanghaft in einen Topf ein und dürfen dafür im Gegenzug den ÖPNV kostenlos nutzen. Das Konzept hat mindestens zwei ganz offensichtliche Schwachstellen: Der öffentliche Nahverkehr ist bereits etwa zur Hälfte steuerfinanziert. Finanziert man die andere Hälfte über eine extra zu verwaltende Umlage, hat man zwei Verwaltungsstrukturen geschaffen, die beide das Gleiche machen. Die andere Schwachstelle ist eine ökologisch-ökonomische: Hat jeder Bewohner der Stadt zwanghaft für sein Ticket bezahlt, steigt der Nutzerwillen. Und zwar vor allem bei denen, die bisher viel ökologischer als mit Bahnen und Bussen unterwegs waren: Radfahrer und Fußgänger. Gleichzeitig wären öffentliche Verkehrsmittel als noch weniger wertig betrachtet, die Grenze zum öffentlichen Straßenraum verschwindet und auch die Möglichkeit der Durchsetzung des Anspruchs der Nutzer auf ein verlässliches, qualitatives Verkehrsmittel. Die Nutzer zahlen immer – egal wie schlecht und runtergekommen der ÖPNV wird.

Gefahr durch entfernungsabhängigen Tarif

Die Wirtschaftsseite und digitale Bohème hingegen, welche ihre überteuerten und veralteten Techniklösungen verkaufen wollen, sehen den Heilsbringer im entfernungs- und mondphasenabhängigen Elektroniktarif mit oder ohne Zugangsschranken, wo jeder Kunde nach seiner eigenen ganz persönlichen Zahlungsfähigkeit geschröpft werden kann. Der Kunde kauft die Katze im Sack, denn was die Fahrt kostet, ist bestenfalls nachträglich zu erfahren. Beschriehen wird dies als besonders gerecht, vor allem von den Personen, die es sich leisten können in der Innenstadt nahe ihres Arbeitsplatzes zu wohnen und es als besonders ungerecht empfinden, dass die Menschen, die sie kurz zuvor noch aus der Innenstadt weggentrifiziert haben und die nun weite Pendelstrecken zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen müssen und dabei viel Lebenszeit verschwenden, kaum mehr bezahlen, als sie selbst.

Dasselbe Argument wird auch gern verwendet, um die teuren Berliner Fahrpreise zu rechtfertigen und immer weiter an der Preisschraube zu drehen. Schließlich bekäme man ja als Kunde viel mehr geboten, als in München, Frankfurt oder Wien. So eine schön lange Strecke von Köpenick bis nach Spandau wäre in diesen Städten gar nicht abgedeckt, weil deren Stadtgebiet ja viel kleiner ist. Nur: Der Berliner hat sich die Größe seiner Stadt nicht ausgesucht. Er fährt genau wie der Münchner oder der Wiener zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Oma oder zu Freizeiteinrichtungen. Warum er es als besonderen Vorteil anzusehen hat, dafür besonders viele Kilometer und Zeit aufwenden zu müssen, bleibt dahingestellt. Das als „Tarifgerechtigkeit“ zu definieren, wäre aber mindestens zynisch.

VBB-Tarif: Wohin?

Wohin soll der Tarif in Berlin und Brandenburg also entwickelt werden? Nun, eine Nutzergruppe hat sich in den letzten Jahren einen so einfachen wie genialen Tarif erkämpft: die Senioren. Mit dem Abo 65plus haben sie eine Abokarte, mit der sie überall hinfahren können. In ganz Berlin und Brandenburg. Jederzeit. Zu einem erschwinglichen Preis. Sie müssen nicht auf Uhrzeiten achten, Tarifzonen, Waben oder irgendwelche Sonderregeln. Das ist fair, trotz oder gerade wegen der Freiwilligkeit.

Seniorenticket für alle?

Ja, warum denn nicht! Ein unschlagbar günstiges Monatsticket, was sich jeder leisten kann, würde gleich mehrere Sonderlösungen überflüssig machen, den Tarif vereinfachen und die Abozahlen drastisch steigern. Gleichzeitig sollte ein Senat, der sich die Förderung des ÖPNV auf die Fahnen geschrieben hat, die Fehlentwicklung der Ticketpreise korrigieren. Schließlich hat sich die Beteiligung der Kosten für den ÖPNV in den letzten 20 Jahren stark in Richtung Nutzerfinanzierung verschoben.

Der Nutzeranteil (Fahrgeldeinnahmen) lag in Berlin im Jahr 2007 bei schlechter Haushaltslage bei etwa 50 Prozent. Im europäischen Vergleich war das schon damals ein ziemlich schlechter Schnitt. In Barcelona waren die Nutzer hingegen zu 44 Prozent beteiligt, Madrid zu 40 Prozent, Amsterdam und Paris zu je 39 Prozent und in Brüssel sogar nur zu 32 Prozent.

Trotzdem hat sich das Verhältnis seitdem in Berlin weiter verschlechtert. Inzwischen tragen die Berliner Kunden fast zwei Drittel der Kosten direkt über ihre Fahrgelder. Der Steuerzahler hingegen nur noch knapp über einem Drittel. Damit sind Fahrpreissteigerungen im Tarifgebiet Berlin schon länger nicht mehr gerechtfertigt.

Mehr noch: Dieses Missverhältnis muss schnellstmöglich korrigiert werden. Ein preislich deutlich reduziertes Aboticket für alle wäre ein guter Anfang. Dringend folgen müsste eine drastische Ausholzung der Tariffallen und Sonderregeln, die ungerechtfertigte Schwarzfahrerfälle bei Kunden provozieren, die eigentlich ein Ticket bezahlt haben.

Fazit

Unkontrolliert wuchernde Tarifstufen und zu viele Partikularinteressen haben den sinnvollen VBB-Tarif nach und nach in ein undurchschaubares Etwas verwandelt. Kopflos verrannte man sich in Sonderkonditionen und Ausnahmen sowie in eine veraltete teure E-Ticket-Lösung. Das steht im krassen Gegensatz zu den bei Gründung verordneten Grundsätzen der Tarifgerechtigkeit, Einfachheit und Erklärbarkeit. Um den Gemeinschaftstarif für beide Länder zukunftssicher zu machen, ist es nun notwendig, zu diesen Grundsätzen zurückzukehren. Ein einfacher, niedriger Tarif für alle könnte dies wiederherstellen. Dazu bedarf es aber Mut, alte Zöpfe abzuschneiden und Weitsicht, was gesellschaftlich sinnvoll und vertretbar ist. Wer sich dieser Herausforderung stellt, das Tarifsystem im Sinne der Gemeinschaft und der Fahrgäste zu reformieren, wird sicherlich zunächst zur unbeliebtesten Person der hiesigen Verkehrsbranche. (hm)

Berliner Fahrgastverband IGEB

aus SIGNAL 4/2017 (Oktober 2017), Seite 3-4