Titelthema Tarife
Fallen und Fragen der Chipkarten-Tickets –
Erlebnisse eines Niederlande-Reisenden
Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin hatte
der zum 1. Januar 2018 geplanten nächsten
Erhöhung des VBB-Tarifs eine Absage erteilt – dabei
hatten die Verkehrsunternehmen
schon fest mit einer neuen Runde gerechnet.
5. Okt 2017
Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin hatte der zum 1. Januar 2018 geplanten nächsten Erhöhung des VBB-Tarifs eine Absage erteilt – dabei hatten die Verkehrsunternehmen schon fest mit einer neuen Runde gerechnet. Deshalb wird nun groß gedacht: Anfang Juni wurde die Chefin des VBB, Susanne Henckel, mit der Aussage zitiert, dass die VBBFahrCard perspektivisch auch nach einem kilometergenauen Fahrtarif abrechnen soll. Auch aus der Vorstandsetage der BVG sind solche Äußerungen zu vernehmen. Weg vom „eine Stadt – ein Fahrschein“ – Berlin AB für 120 Minuten in eine Richtung, sondern auf den Meter und Cent genau abgerechnet? Es mag ungerecht erscheinen, wenn eine Fahrt von Wedding nach Mitte genauso viel kostet wie von Staaken nach Schmöckwitz. Dafür ist der bisherige Tarif solidarisch und verständlich – und so einfach und sinnvoll wie eine Flatrate beim Telefonieren oder Fernsehen. Wo die Vorteile und Fallen eines komplett elektronisch berechneten entfernungsabhängigen Tarifes liegen, kann man schon heute in den Niederlanden erleben.
Die Tagung des Europäischen Fahrgastverbandes EPF im März 2017 in Rotterdam war Anlass für eine kleine Gruppe des Berliner Fahrgastverbandes IGEB, den Niederlanden einen Besuch abzustatten. Insofern waren die Teilnehmer im Benutzen von Öffentlichen Verkehrssystemen durchaus vorgebildet. Eine interessante Erfahrung und sogar Herausforderung bestand aber in der von den Teilnehmern bisher noch nicht genutzten „OV-chipkaart“. Diese elektronische
Wir wollen in diesem Beitrag unsere Erfahrung als Nutzer dieser elektronischen Fahrkarte schildern, und wo sie an ihre Grenzen stößt. Dies soll keine vollständige Vorstellung des Hintergrundsystems der OV-chipkaart sein, sondern ein Erfahrungsbericht mit den Augen eines Fahrgastes.
Als Anreise wurde die klassische Strecke mit dem Amsterdamer IC von Berlin über Bad Bentheim nach Amersfoort gewählt, dort umsteigen in einen IC nach Rotterdam. Diese Reiseroute buchten wir als OnlineTicket auf dem Portal der Deutschen Bahn, Sparpreis Europa mit Bahncard25 für erschwingliche 31,95 Euro. So weit, so unspektakulär.
Mit herannahendem Reisetermin versuchten wir, die Reiseroute noch zu verfeinern und kamen auf die Idee, die Anreise über Arnhem zu legen, um dem einzigen O-Bus-Betrieb in den Niederlanden einen Kurzbesuch abzustatten. Da die Zugbindung des Sparpreis Europa nur für den deutschen Fahrtabschnitt gilt, sollte eine Änderung des Weges innerhalb der Niederlande kein Problem sein, solange der Weg auf das Fahrtziel zusteuert. Und eine Fahrtunterbrechung in Arnhem sei damit tickettechnisch sicher auch unkritisch. (Achtung: Wie wir später lernten wird zurzeit die Staatsgrenzen überschreitende Fahrkartenlogik der Bahnen umgestellt, diese richtet sich künftig zunehmend am Verkehrsunternehmen und nicht mehr an der Staatsgrenze aus. Richtung Schweiz z. B. besteht die Zugbindung künftig im ganzen gebuchten Abschnitt des grenzüberschreitenden Zuges, also zum Beispiel im ICE von Deutschland aus bis nach Interlaken.)
Also verließen wir den IC aus Berlin bereits kurz nach der Grenze in Hengelo. Hier gab es nach wenigen Minuten bahnsteiggleichen Anschluss mit einem „Privatbahnzug“ der Syntus (Keolis Group). Auf dem Bahnsteig staunten wir über die vielfältigen unterschiedlich farbigen Eincheck-Stelen auf dem Bahnsteig mit dem großen Leuchtsymbol „overstappen“, also „umsteigen“. Eine dazugehörige Bedienhilfe klärt auf: Beim Umsteigen von einem Verkehrsunternehmen (z. B. NS) zu einem anderen (z. B. Syntus) muss sich der Fahrgast mit seiner OV-chipkaart erst an der NS-Stele auf dem Bahnsteig auschecken und einen Meter daneben an der Syntus-Stele einchecken, um mit dem Syntus-Zug weiterzufahren. So richtig fahrgastfreundlich sieht das nicht aus. Aber uns betrifft es ja erstmal nicht, da wir eine internationale Fahrkarte besitzen und auch keine Stele zum Auschecken aus dem Verkehrsunternehmen DB zu sehen ist.
Also steigen wir einfach in den roten Syntus-Triebwagen nach Zutphen und werden auch von keinem Schaffner nach einer Fahrkarte gefragt. Pünktlich kommen wir im Nebenbahnknoten Zutphen an und staunen erneut, wie durch Doppelbelegung der Gleise fünf Züge gleichzeitig an drei Bahnsteigkanten für Anschluss sorgen können.
Auch hier lassen wir die Overstappen-Terminals unbenutzt. Wir setzten uns in den NS-Intercity nach Arnhem. Hier ernten wir beim Vorweisen unseres selbstgedruckten DIN A4-OnlineTickets bei der Fahrkartenkontrolle durch den Schaffner nur ein zufriedenes „dank u wel“.
Im Bahnhof Arnhem gibt es, wie in den Niederlanden üblich, am Ein- und Ausgang mechanische Durchgangssperren, hier sind es über 20 parallel. Die Fahrgäste halten ihre OV-chipkaart an das Lesegerät und die Schranke gewährt den Durchgang. Aber wie kommen wir ohne chipkaart raus? Personal zum Fragen ist nicht in Sicht. Der Blick auf das online-Ticket fällt auf den QR-Scancode, den die DB-Schaffner im Zug nutzen. Und siehe da, an den Schranken ist auch ein optischer Scanner verbaut, der den Ausgang per QR-Code freigibt. Okay, hat geklappt. Aber was wäre, wenn eine Fahrkarte für mehrere Personen gültig wäre? Lässt die Schranke dann auch mehrere Personen durch? Und vor allem: Kommen wir mit dem QR-Code in ein paar Stunden wieder auf den Bahnsteig?
Im Empfangsgebäude suchen wir das Kundenzentrum des örtlichen Stadtverkehrsbetriebs „breng“ auf, denn wir brauchen ja nun Tickets für unsere O-Bus-Befahrung. Hier bekommen wir unsere OV-chipkaart, eine Plastekarte im Scheckkartenformat mit einem RFID-Chip darin, ähnlich wie die VBB-Fahrcard. Uns wird vom Bediensteten empfohlen, ein Guthaben von 30 Euro aufzuladen. Eine Tageskarte für den Stadtverkehr gibt es, lohnt sich aber preislich für uns nicht. Also werden wir den Kilometertarif nutzen.
In den Arnheimer O-Bussen befinden sich Checkin-Checkout-Geräte, die wir nutzen. Auch Schleifenfahrten und Rückfahrten werden korrekt als „overstappen“ angezeigt, der Fahrpreis wird beim Auschecken angezeigt.
Am Abend wollen wir unsere Eisenbahnfahrt nach Rotterdam fortsetzen und kommen mit unserem QR-Code vom Onlineticket problemlos durch die Bahnsteigsperre und genauso einfach in Rotterdam aus dem Bahnhof heraus.
Am nächsten Tag wollen wir den Bahnhofstunnel nur durchqueren, um vom Hintereingang zum Empfangsgebäude zu gelangen. Also für 20 Euro einchecken und am anderen Ausgang auschecken (hoffentlich wurden die 20 Euro wieder gutgeschrieben … ). Erst später entdecken wir parallel zum Bahnsteigtunnel einen „Fitsentunnel“, einen öffentlichen Tunnel für Fahrräder und Fußgänger, der keine Zugänge zu den Bahnsteigen hat und damit sperrenfrei ist.
Wir erkundigen uns am Kundenschalter des Rotterdamer Stadtverkehrs RET nach einem Tagesticket. Ja, gibt es, kostet 7,50 Euro für alle Busse, Trams und Metros der RET oder 13,50 Euro für fast alle Verkehrsmittel in der Provinz Zuid Holland, aber nicht in den Zügen der NS. Letzteres ist unsere Wahl für diesen Tag. Diese Tageskarten werden nur als Wegwerf-OV-chipkaart ausgegeben. Sie gelten ab dem ersten Einchecken bis Betriebsschluss. Dennoch wird mündlich und schriftlich darauf hingewiesen, dass wir auch mit diesem Pauschalfahrschein im Fahrzeug stets Ein- und Auschecken sollten. Eine augenscheinlich sinnlose, maximal fahrgaststatistisch sinnvolle Maßnahme, deren Einhaltung uns aber noch später auf die Füße fallen sollte.
Beim Nahen der Straßenbahn ist also das Ticket schon bereitzuhalten, damit es im Einstiegsbereich im Fahrzeug nicht zu größeren Stauungen im Fahrgastfluss kommt, weil alle Aussteigenden und dann alle Einsteigenden am Lesegerät an der Tür 1 Sekunde verweilen müssen. Meist sind rechts und links der Tür Lesegeräte installiert. Als besondere Neuerung zur „Beschleunigung des Fahrgastwechsels“ wird auf Plakaten darauf hingewiesen, dass jetzt neu auch abseits der Türen Lesegeräte angebracht seien, wo man sich einchecken kann. Das Auschecken geht ohnehin auch schon im fahrenden Fahrzeug vor dem Aussteigen. In Rotterdam sind die meisten Straßenbahnen mit Pendelschaffnern besetzt (sie „Pendeln“ ohne festen Sitzplatz durch den ganzen Zug), die die ganze Zeit im Fahrzeug mitfahren und ein oder zwei Mal pro Fahrt die Fahrkarten mittels tragbarem Lesegerät prüfen und für Service zur Verfügung stehen.
Die Metro von Rotterdam nach Den Haag ist eine ehemalige Vorortbahn, die in das Rotterdamer Metrosystem integriert wurde und von der RET betrieben wird. Im Bereich von Den Haag wird die gleiche Strecke auch von den Stadtbahnzügen des Den Haager Stadtverkehrs HTM genutzt. So ergibt sich hier wieder tickettechnisch eine Besonderheit: Die RET-Metrozüge haben Bahnsteigsperren und keine Lesegeräte im Fahrzeug, die HTM-Stadtbahnzüge haben als „Straßenbahn“ nur Lesegeräte im Fahrzeug, aber keine Bahnsteigsperren. Auf den gemeinsam bedienten Stationen (fünf Stück) stellt sich für dem einsteigenden Fahrgast die Frage: Einchecken an der RET-Stele auf dem Bahnsteig oder im HTM-Fahrzeug? Für den unbedarften Fahrgast ist die schnelle optische Unterscheidung schwierig. Ein Einheimischer gab uns den Tipp: Wenn der Wagen am Hochflurteil des Bahnsteigs hält: RET-Metro, an der Bahnsteigstele einchecken. Hält der Wagen am Niederflurteil des Bahnsteigs: HTM-Stadtbahn, Einchecken im Fahrzeug.
Alleine diese Falle und Fragestellung zu erkennen und formulieren zu können, braucht schon Expertenwissen, die „Lösung“ allemal.
Nach diversen Fahrten mit Metro und Straßenbahn wollten wir mit der NS, die im Stadtgebiet von Rotterdam mehrere Halte hat, von Rotterdam Blaak nach Centraal fahren. Die für den Stadtverkehr genutzte Tageskarte gilt hier nicht, das ist klar, aber wir können unsere OV-chipkaart aus Arnhem zum nationalen Kilometertarif für diese kurze Strecke nutzen. Meine Mitreisenden durchschreiten die Bahnsteigsperre und gelangen auf den Bahnsteig. Bei mir erscheint eine Fehlermeldung an der Schranke: „Guthaben nicht ausreichend“. Wie kann das sein? Wir haben die gleichen Fahrtguthaben aufgebucht und genau die gleichen Fahrten durchgeführt. Der Kontostand auf der chipkaart müsste also gleich sein und deutlich über 20 Euro liegen.
Zurück zum OV-chipkaart-Terminal am Bahnhofseingang, an dem ich die Karte auflege und mich durch das Menü zur Anzeige der letzten Transaktionen tippe. Tatsächlich: Es sind an diesem Tag drei mal 4 Euro von HTM als Check-In abgebucht worden, obwohl ich doch eine Tageskarte habe! Des Rätsels Lösung ist eigentlich simpel, aber man muss drauf kommen: Beide OV-chipkaarts, die allgemein gültige aus Arnhem zum Kilometertarif und die Wegwerf-Tageskarte für Zuid Holland hatte ich ins Portemonnaie gesteckt und hatte beim Ein/Auschecken ganz lässig nur das Portemonnaie ans Lesegerät gehalten, ohne die Karten herauszunehmen. So wurde zufällig mal die Tageskarte ohne Transaktion erkannt, mal von der allgemein gültigen Karte der Einchecktarif abgebucht. Böse Falle! 12 Euro abgebucht für Nichts – ärgerlich. Genau genommen hätte auch noch meine VBB-Fahrcard aus Berlin mitspielen können, denn die funktioniert nach demselben technischen Lesesystem und steckte auch im Portemonnaie …
Dieses Problem der zufälligen Auswahl gültiger Karten beim Einchecken ist Insidern unter dem Namen „Card-Clash“ bekannt, wie wir später erfuhren.
In diesem Fall blieb mir erst einmal nicht anderes übrig, als von meiner EC-Karte 10 Euro auf die OV-chipkaart zu laden, damit ich über 20 Euro Guthaben komme, um die Schranke zu durchschreiten.
Am nächsten Morgen schilderten wir das Missgeschick an dem Fahrkartenschalter, wo wir schon gestern die Tageskarte gekauft hatten. Meine Geschichte scheint keine große Verwunderung oder Misstrauen beim Mitarbeiter hervorzurufen. Er schaute sich die Daten meiner Karte in seinem Terminal an und bestätigte zwei offene Eincheckvorgänge. Ja, man könne auf einer speziellen Website (uitcheckgemisst.nl, also „auscheckenvergessen“) solche Fälle nachträglich auschecken und bekomme den Differenzbetrag dann auf die OV-chipkaart gutgeschrieben. Allerdings dauere es bis zur Bereitstellung des Gutschriftbetrages eine Woche, und die Gutschrift müsse an einem OV-chipkaart-Terminal in einem Bahnhof auf meine Karte übertragen werden. Auf meinen Einwand, dass ich ja schon morgen wieder nach Berlin zurückreisen werde und dann lange Zeit nicht mehr an einen niederländischen Bahnhof mit Automaten gelange, ließ der Mitarbeiter nach etwas Bedenkzeit Kulanz walten. Er machte von den beiden Karten Fotokopien (!) und buchte manuell 8 Euro auf meine Karte. Der dritte Eincheck-Vorgang war mit einem Auschecken geschlossen worden – hier wurden mir 1,46 Euro als Fahrtkosten belastet. Die Erstattung auch dieses Betrages verfolgte ich nun nicht weiter. Ich war doch erfreut, dass eine praktikable Lösung gefunden wurde. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre mit einem ähnlichen Anliegen an die Berliner BVG herangetreten: „Ihre Schuld, da kann ick ooch nüscht machen“.
Nebenbei: Das nachträgliche Auschecken per Website wird einem Fahrgast pro Halbjahr drei Mal gewährt. Und überall in den Fahrzeugen hängen Plakate, die ans Auschecken erinnern, und in nervender Häufigkeit kommt eine entsprechende Ansage vor dem Erreichen von Umsteigehaltestellen.
Der Tag der Rückreise ist gekommen. Mein EuropaSpezial der DB ist gebucht von Rotterdam nach Amsterdam mit einem ICD (InterCityDirekt) und von Amsterdam mit dem IC nach Berlin. Auf den Bahnsteig in Rotterdam komme ich bekanntlich per QR-Scancode, aber auf dem Abfahrtbahnsteig entdecke ich noch eine besondere Checkin Stele: für einen ICD-Zuschlag. Dieser ist zusätzlich fällig, wenn man den Zug auf der Neubau-Schnellstrecke Rotterdam—Schiphol nimmt. Für mich ist es inklusive.
In Amsterdam habe ich noch Zeit, um mir die Metro und Straßenbahn anzusehen. Ich entschließe mich, keine spezielle Tageskarte für den Stadtverkehr GVB zu kaufen, sondern mit meiner OV-chipkaart per Kilometertarif zu fahren. Immerhin habe ich ja noch Guthaben darauf. Nach Durchschreiten der Bahnsteigsperre am Metrobahnhof fährt mich die Metrolinie 51 ganz in den Süden nach Amstelveen. Dabei geht die Linie vom Metrosystem ins Stadtbahnsystem über. Hier fährt sie gemeinsam mit der Straßenbahn auf denselben Gleisen, und ob man an der Stele auf dem Hochbahnsteig für den Metrozug oder in der Niederflurstraßenbahn 10 Meter weiter einchecken muss – wir erinnern uns an Den Haag – erkennt der Fachmann am Halteplatz des Zuges. Nur mit dem Unterschied, dass hier tatsächlich beide Züge vom selben Betreiber sind.
An der Endstation in Westwijk angekommen will ich wieder zurückfahren und überlege: Was passiert, wenn ich mich an der Stele auf dem Bahnsteig (keine mechanische Sperre) nicht auschecke, sondern gleich wieder zurückfahre? Mache ich dann wieder Fahrpreis „gut“? Wie kann die Rückfahrt geprüft werden? Oder ist das nach Tarif einfach verboten? Schaffner in der Metro gibt es hier nicht, würde es also niemand bemerken? Ich entscheide mich doch fürs Aus- und neu Einchecken.
Auf dem Fahrplanaushang der Metro entdecke ich noch im Kleingedruckten ein interessantes Detail der Fahrgastinformation:
An der Perlschnur stehen nicht nur die Bahnhofsnamen und Reisezeiten bis dorthin, sondern auch die Fahrpreise zu den einzelnen Stationen. Der Preis pro Station bewegt sich zwischen 0,06 Euro und 0,35 Euro, offenbar je nach Stationsabstand. Die Preise finde ich auch auf einem Metrofahrplan-Faltblatt wieder, hier differieren sie aber um einzelne Centbeträge gegenüber dem Aushang. Mir geht die Frage durch den Kopf: Wie wird mit gefahrenen Umwegen verfahren? Werden Umleitungen teurer berechnet? Wer legt das fest, und wo erfahre ich so etwas?
Später fahre ich ein Stück mit dem Stadtbus und bemerke ein großes Plakat: „Ab 26. März keine Barzahlung mehr im Bus“. Man kann mit dem OV-chipkaart-Guthaben einchecken oder man kann beim Busfahrer seine OV-chipkaart per EC-Karte aufladen, um auf mindestens 4 Euro zu kommen. Aber die Aufwertung mit Bargeld ist jetzt vorbei.
Mit der Straßenbahn will ich zum Centraal- Bahnhof zurückfahren. In Amsterdam fahren alle Straßenbahnen mit Schaffner, die in einem speziellen Dienstabteil sitzen. Einstieg in die Straßenbahn ist nur an der ersten Tür beim Fahrer oder an der vorletzten Tür beim Schaffner gestattet. Dieser passt auf, dass alle Einsteigenden am Lesegerät vorbeidefilieren. Der Vorteil in Rotterdam mit dem Pendelschaffner besteht darin, dass dort alle Türen zum Einstieg genutzt werden dürfen und der Schaffner beim Gehen durch den Zug auch mal eine liegengelassene Zeitung wegräumt. In Amsterdam verließ der Schaffner sein Abteil die ganze Fahrt nicht, beschäftigte sich die meiste Zeit mit seinem Smartphone und wurde dabei nur ein mal von einer kurzen Frage eines Fahrgastes unterbrochen.
Am Bahnhof dann die Auswertung der gespeicherten Tarif-Transaktionen am Terminal: Nach Kilometertarif wurden mir in Amsterdam 11,12 Euro berechnet, eine zu Beginn gebuchte Tageskarte hätte 7,50 Euro gekostet. Eine Bestpreisabrechnung bzw. Kappung am Maximalpreis findet also trotz technischer Möglichkeit nicht statt. Schade.
Der Öffentliche Verkehr in den Niederlanden macht einen sehr attraktiven Eindruck. Das dichte Schienennetz und der enge Takt der Eisenbahn, moderne und saubere Bahnhöfe sowie flotte Anschlüsse und hohe Pünktlichkeit sind sehr angenehm. Auch die Stadtverkehre mit Metro, Straßenbahn und Bus mit dichtem Takt machen einen sehr guten Eindruck. Und es scheint, dass der ÖV und die umfänglichen Fahrradverkehrsanlagen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich ergänzen. Etliche gute Beispiele, die man auch auf andere Orte übertragen könnte. Aber der gewöhnungsbedürftige elektronischen Tarif schmälert den positiven Eindruck nicht unerheblich.
Die Einführung einer metergenauen Tarifabrechnung in Berlin kann gerechter für die in Anspruch genommene Leistung sein, sie kann aber auch viele Fallen, Fragen und Probleme durch ihre Komplexität und hohen technischen Voraussetzungen bringen. Das Ein- und Auschecken ist für den Fahrgast lästig und führt zu Staus an den Fahrzeugzugängen. Eine riesige Anzahl von Lesegeräten muss angeschafft, installiert und vor allem instandgehalten werden. Das nötige elektronische Hintergrundsystem ist äußerst komplex und mit einer enormen Zahl von Sonderregelungen aufgrund verkehrsgeografischer Besonderheiten zu bestücken, die wiederum auch nachvollziehbar dem Fahrgast kommuniziert werden müssen. Bei Änderungen im Verkehrsnetz (Linienänderungen, spontane Umleitungen) entstehen eine Vielzahl von neuen Sonderfällen, die sofort in der Tarifberechnung abgebildet werden müssen, was eine Heerschar von spontan einsetzbaren Tarifprogrammierern erfordert. Und es wird eine Vielzahl von Verständnisfragen und Beschwerden von Fahrgästen über eventuell falsch berechnete Tarife geben.
Letztlich ist der komplizierte elektronische Tarif ein ungerechter, denn er behindert weniger gebildete, weniger sprachkundige und viele alte Fahrgäste, aber auch Gelegenheitsfahrgäste, und er schließt Fahrgäste aus, die aus welchen Gründen auch immer nur über Bargeld verfügen.
Ein Vorteil für die Verkehrsplaner ist eine lückenlose Erhebung aller getätigten Fahrten in großer Detailschärfe.
Ist das die Aufgabe des bewährten Prinzips „eine Stadt – ein Fahrschein“ wert? Ich meine nein.
Florian Müller
aus SIGNAL 4/2017 (Oktober 2017), Seite 6-11