Stadtverkehr
50 Jahre Straßenbahntod in West-Berlin
Am 2. Oktober 1967 wurde in West-Berlin feierlich die Einstellung des Straßenbahnbetriebs begangen. Ein Abschied für immer, wie man damals meinte, und die Vollendung einer Verkehrspolitik, die ganz dem autoverliebten Zeitgeist entsprach. Im Ostteil der Stadt wurde die Tram „nur“ soweit wie möglich aus dem Zentrum entfernt. Ansonsten fehlten die ökonomischen Möglichkeiten, den gleichen Unfug zu machen wie im Westen. So eröffnete sich mit der Wiedervereinigung 1990 die Riesenchance, den Riesenfehler der Nachkriegszeit zu korrigieren – auch aus ökonomischen Gründen. Doch bisher gab es dazu mehr schöne Worte und Pläne als Taten.
5. Okt 2017
Es soll ja Menschen geben, die einem Ausbau des Berliner Straßenbahnnetzes skeptisch gegenüberstehen. Ihnen sei ein Ausflug zum U-Bahnhof Osloer Straße empfohlen, am Nachmittag eines x-beliebigen Werktags: Dann ist dort selbst der Straßenbahnsteig Richtung Virchow-Klinikum meist mit Wartenden gut gefüllt – obwohl es bis zur Endstation nur noch fünf Haltestellen sind und auf dem Weg noch der U-Bahnhof Seestraße liegt, der auch einige Verkehrsbedürfnisse abdecken dürfte.
Wenn man zur selben Zeit in der Gegenrichtung einen Sitzplatz bekommt, hat man Glück: Am U-Bahnhof Osloer Straße kommen insbesondere die Züge der M 13 schon voll an, und etwas leerer werden sie frühestens in Weißensee.
Weshalb diese Beschreibungen? Weil die Tramstrecke über die Osloer Straße und die Seestraße bis heute die einzige ist, die einige Kilometer weit in den ehemaligen Westteil der Stadt hineinführt. Wieder dorthin führt. Denn auf dieser Trasse verkehrten schon einmal Züge. Bis 1964/65, als sie im Zuge der Zerstörung des West-Berliner Straßenbahnnetzes aufgegeben wurde.
Man sollte in diesem Zusammenhang unbedingt Begriffe wie „Zerstörung“ oder „Vernichtung“ verwenden, nicht so harmlos und elegant klingende Vokabeln wie „Abbau“, das friedlich anmutende „Stilllegung“ oder gar das schönfärberische „Rückbau“: Den meisten Menschen ist kaum mehr bewusst oder auch nur bekannt, welch ein Wahnsinn sich damals abgespielt hat.
Am Ende des Jahres 1953, in dessen Sommer der Beschluss zur Aufgabe des Straßenbahnbetriebs fiel, hatte das betriebsfähige West-Berliner Netz (von dem das Ost-Berliner im Januar 1953 abgetrennt worden war) eine Streckenlänge von rund 267 Kilometern – weit mehr als heute, mit rund 192 Kilometern, in ganz Berlin existiert, weit mehr auch, als (selbst bei günstiger Entwicklung) 2053 existieren dürfte, wenn das hundertste Jubiläum des Beginns der Straßenbahnschlachtung begangen werden kann.
Die Straßenbahn fuhr mit ihren 37 Linien nach Buckow und nach Lichtenrade, nach Rudow und nach Lichterfelde bis an die Stadtgrenze, sie fuhr nach Marienfelde und Waidmannslust, nach Heiligensee und Tegelort, zum Johannesstift und nach Hakenfelde, durch Spandau, Grunewald, Dahlem, Reinickendorf, Steglitz, Britz und alle Innenstadtbezirke, auf nahezu allen großen Verkehrsadern, und dort nicht selten auf straßenunabhängigen Gleiskörpern.
Der Beschluss, dies alles, das nach den verheerenden Kriegsschäden gerade erst mühsam und doch in enormem Tempo wiederaufgebaut und auch, mit der Umstellung auf Scherenstromabnehmer, modernisiert worden war, aufzugeben, fiel eher beiläufig: Der BVG-Beirat stimmte zu, den im Februar 1953 gestellten und bewilligten Kreditantrag der BVG-Direktion statt für vierzig Großraum-Straßenbahnzüge und zwanzig Busse lieber für 140 Doppeldecker zu verwenden. Im August wurde diese Entscheidung noch einmal, mit knapper Mehrheit, bestätigt. Der Senat segnete sie im Januar 1954 ab.
Als Vorwand dienten die schlechten Erfahrungen mit den beiden Prototypen neuer Tramzüge. Nicht nur wurde so getan, als sollten Prototypen gerade dazu dienen, Probleme und Mängel im Praxisbetrieb aufzuspüren. Geflissentlich wurde auch ignoriert, dass zahlreiche der Schwierigkeiten daher rührten, dass die BVG mit den neuen Zügen den Fahrgästen ein ganz neues Verhalten anerziehen wollte: Einstieg nur hinten, Ausstieg nur in der Mitte und vorn, im Gänsemarsch vorbei am Sitzschaffner (der weiterhin auch die Abfertigung übernehmen sollte), und bitte immer schön weiter durchtreten ins Vordere des Großraumwagens.
Völlig überraschenderweise klappte das nicht auf Anhieb, führte zu Verzögerungen und Ärger und diente dann als eine wichtige Begründung, gleich das ganze System Straßenbahn zu beseitigen. Beim Bus hingegen begann die BVG erst in den späten sechziger Jahren, den Fahrgastfluss flächendeckend einzuführen (Pendelschaffner gab es dort noch in den Siebzigern). Bei der Tram spricht davon heute niemand mehr.
Wie sehr es in Wahrheit einfach darum ging, sich der Straßenbahn zu entledigen, zeigt auch der Umstand, dass als erstes, 1954, die Strecke auf dem Kurfürstendamm stillgelegt wurde (dies war die Geburtsstunde der Omnibuslinien 19 und 29): Der Kalte Krieg tobte, der einstige „Neue Westen“ rund um die Gedächtniskirche wurde nun zur City West-Berlins und der Kudamm avancierte von der mondänen Luxusmeile zum Boulevard für alle, zur Bühne der (halben) Stadt und zur schönsten Auslage in jenem „Schaufenster der freien Welt“, das die Westsektoren sein sollten. Eine Straßenbahn hatte da nichts mehr zu suchen. Ihr Gleisbereich wurde zu Parkplätzen umgewandelt.
Die Busverbindung zum Flughafen Tempelhof, die nun der 19er herstellte, hatte die BVG übrigens schon zuvor eingerichtet: Westlicher Endpunkt der Sonderlinie war die Ecke Kurfürstendamm und Knesebeckstraße gewesen. Auf der gesamten Strecke verkehrte auch die Straßenbahn. Aber sie zu benutzen, hatte man jenen, die durch die Luftkorridore eingeschwebt waren, nicht zumuten wollen.
West-Berlin, die bedrängte „Frontstadt“ und politische Insel, meinte, seine Modernität und Leistungsfähigkeit auch mit der Abschaffung der Tram unter Beweis stellen zu müssen. Und schließlich: London, Paris und New York, mit denen man sich in der gleichen Liga sehen wollte, hatten sich der Straßenbahn ebenfalls entledigt.
Wie sehr sich diese Politik im Einklang mit dem Zeitgeist befand, zeigt auch die Tatsache, dass sich gegen sie kaum Widerspruch regte. Dies hat eben nicht nur mit dem noch vorherrschenden autoritären Denken zu tun: So verhinderten massive (auch Bürger-) Proteste in jenen Jahren etwa, dass der Hauptturm der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche abgerissen wurde.
Das Verschwinden der Straßenbahn wurde zwar wehmütig ein wenig beweint, aber gemeinhin als unvermeidlich angesehen: Immer wieder hieß es, die Zeit dieses Verkehrsmittels wäre eben vorüber und das Alte müsse weichen. Im Juni 1959 führte das Institut für Markt- und Verbraucherforschung der FU eine repräsentative Umfrage durch, bei der 70 Prozent der tausend Teilnehmer die Abschaffung der Tram befürworteten. Nur 22 Prozent sprachen sich dagegen aus.
So kam denn auch über die genaue „Abwicklung“ des Straßenbahnsterbens keine große Debatte auf: Die erste großflächige Stilllegung am 1. Juni 1958, mit der fast der gesamte Bezirk Reinickendorf tramfrei gemacht wurde, konnte noch mit der Eröffnung der U-Bahn nach Tegel begründet werden. Doch abgesehen davon, dass diese eben nicht wie die Tram weiter bis nach Heiligensee und Tegelort fuhr: Eine solche „Umstellung auf U-Bahn-Betrieb“ sollte in Zukunft die Ausnahme bleiben.
Der Senat hat in seiner Sitzung am 11. Juli 2017 Folgendes besprochen: Der Senat führt eine eingehende Aussprache über die Verkehrsentwicklung in Berlin und die für die Beförderungsleistungen vorzusehenden Verkehrsmittel anhand der von Senatorin Günther erläuterten Besprechungsunterlage der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz vom 26. Juni 2017. Dabei besteht Einvernehmen im Senat, die Priorität für den Ausbau von Verkehrsmitteln – wie zwischen den Koalitionspartner vereinbart – weiterhin auf die Straßenbahn und den Ausbau der Fahrradwege zu legen. Es besteht außerdem Übereinstimmung, dass eine Verlängerung der U-Bahn bis zum Flughafen BER keine sinnvolle Verkehrsinvestition ist, da die Anbindung des BER durch die Dresdener Bahn und die S-Bahn sichergestellt sei.
Der Regierende Bürgermeister hält es im Rahmen einer vorausschauenden Verkehrspolitik für die wachsende Stadt für geboten, auch über eine Ergänzung des bestehenden U-Bahn-Netzes nachzudenken und einzelne Streckenabschnitte vertieft zu prüfen, selbst wenn eine mögliche Realisierung frühestens in der nächsten Wahlperiode erfolgen könne. Auf dieser Grundlage bittet der Senat Senatorin Günther, die Verlängerung der U 8 ins Märkische Viertel, eine Verlängerung der U 9 oder der U 2 in den am stärksten wachsenden Bezirk Pankow, eine Verlängerung der U 1 bis zum Adenauerplatz und eine Verlängerung der U 7 zur Erschließung der Wohngebiete südlich des U-Bahnhofs Rudow bis zur Stadtgrenze oder zum S-Bahnhof Berlin-Schönefeld zu prüfen und dem Senat das Prüfergebnis zur Besprechung vorzulegen.
Bald verlief die Straßenbahnschlachtung chaotisch, überstürzt, getrieben von blindem Zerstörungswillen. Obwohl sich die West-BVG durch den S-Bahn-Boykott, der nach dem Mauerbau am 13. August 1961 ausgerufen worden war, in höchster Not befand, ihr dutzende Busse westdeutscher Betriebe aushelfen mussten, sie weitere teuer anmietete und schnell neue kaufte (derweil es viele überzählige Tramwagen gab), wurden am 1. September und am 1. Oktober 1961 weitere Straßenbahnstrecken „auf Busbetrieb umgestellt“. Auch die Einrichtung neuer Tramlinien lehnten Senat und BVG strikt ab.
Lieber hielt die BVG in der ersten Hälfte der Sixties viele Kilometer lange Strecken unter Strom, auf denen keine Fahrgäste mehr befördert, die wegen des kopflosen Vorgehens aber aus betrieblichen Gründen noch gebraucht wurden. So dienten zwei Jahre lang, von Oktober 1964 bis Oktober 1966, auch die Gleise in der Tauentzienstraße nur noch internen Zwecken. Gerade erst gebaute oder erneuerte Trassen gab man nach zwei Jahren und weniger auf, stellte Fahrzeuge trotz eben erst durchgeführter Hauptuntersuchung oder gar Modernisierung ab, bekam Probleme mit der Umsetzung des viel zu schnell freiwerdenden Personals.
Ab Oktober 1964, rund zehn Jahre nach den ersten Stilllegungen, verkehrten nur noch vier, teils voneinander isolierte Linien im Süden, außerdem gab es die drei Verbindungen (mit fünf Linien) zwischen Spandau und Charlottenburg. Letztere, so hieß es, sollten noch bis Anfang oder gar Mitte der siebziger Jahre bestehen bleiben. Der verbliebene Fuhrpark wurde entsprechend sorgsam gepflegt.
Dann ging auch hier alles holterdiepolter: Im Januar 1966 gab man die Strecke über die Heerstraße (modern ausgebaut wie manch andere in den Außenbezirken) auf und stellte die neuesten Fahrzeuge ab. Mit dem Fahrplanwechsel am 1. Oktober 1967 war dann ganz Schluss. Tags darauf gab es noch die Abschiedsfeier.
Die Feindseligkeit gegen die Straßenbahn war aber nicht nur eine Folge des falsch verstandenen Fortschrittsrauschs. Hinter ihr steckte auch die handfeste Konkurrenz um den Straßenraum. Und der blinde Glaube an die Aussagen von Fachleuten: In den fünfziger Jahren prophezeiten praktisch alle Experten einen baldigen totalen Verkehrskollaps, würden die Straßen nicht schleunigst den wachsenden Kfz-Massen angepasst. In West-Berlin wurde die Stilllegung von Tramstrecken oder gleich ganzer Linien oft veranlasst durch Baumaßnahmen auf Hauptverkehrsstraßen. Nach dem Aus für das angebliche Verkehrshindernis konnte man dann den Straßenquerschnitt neu gestalten: Aus dem breiten, teils von Hecken oder gar Bäumen gesäumten Gleiskörper wurden zwei Fahrspuren für Autos. Oder wenigstens Parkplätze.
Der Omnibus wurde zumindest von den Verkehrsplanern auch als (vorläufiger) Ersatz für den eigenen Pkw betrachtet. Nicht von ungefähr sprach die West-BVG seit Anfang der fünfziger Jahre konsequent vom „Autobus“. Seinen Liniennummern stellte man ein „A“ voran, um sie von denen der vermeintlich veralteten, also minderwertigen Straßenbahn zu unterscheiden. Als Ende November 1958 der erste Abschnitt der Stadtautobahn eingeweiht wurde, fuhren bereits in der Eröffnungskolonne auch Doppeldecker der BVG mit. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass der Linienbusverkehr über die Stadtautobahn erst mit dem S-Bahn-Boykott 1961 eingeführt worden wäre. Vielmehr lautete die offizielle Begründung dafür, auf diese Weise sollten auch all jene Menschen in den Genuss der schönen neuen „Straßen von morgen“ kommen, die sich noch keinen eigenen Wagen leisten könnten.
Das damals entworfene Netz von Stadtautobahnen mit Ring, vier die ganze Stadt durchquerenden Tangenten und einigen Ergänzungsstrecken galt als dringende Sofortmaßnahme. Nur ein Bruchteil davon ist realisiert worden – und 60 Jahre später der Verkehr in Berlin noch immer nicht zusammengebrochen.
Obgleich die Treibstoffpreise bis zur Ölkrise 1973 sehr niedrig waren – ökonomischer Unsinn war die Umstellung von der heute vielbeschworenen „Elektromobilität“ auf anfangs ungefiltert ihre Abgase verbreitende Dieselfahrzeuge schon damals: Man wusste, dass die Betriebskosten für Busse höher liegen als für Straßenbahnen, und die BVG (West) machte dies auch deutlich, indem sie von 1952 bis 1976 für eine Busfahrt einen höheren Preis verlangte als für eine Fahrt mit der U- oder Straßenbahn. So brachte deren Verschwinden, neben dem Verlust vieler Direktverbindungen, für die Fahrgäste auch noch Mehrkosten. (Übrigens kämpfte die West-Berliner BVG in jenen Jahrzehnten mit stetig sinkenden Fahrgastzahlen und einem ebenso stetig steigenden Defizit.)
Die Koalition will den Ausbau der Straßenbahn vorantreiben. Unter Beteiligung der Öffentlichkeit wird sie innerhalb der nächsten fünf Jahre ein Zielnetz für den Ausbau der Straßenbahn festlegen, dieses in den StEP Verkehr einarbeiten und im Flächennutzungsplan verankern. […]
Für die folgenden Strecken wird die Koalition die Vorplanungen und Planfeststellungsverfahren sofort einleiten, so dass die bauliche Umsetzung innerhalb der Wahlperiode 2016 bis 2021 beginnen kann: Alexanderplatz Kulturforum—Kleistpark—Rathaus Steglitz (M 48 und M 85); Turmstraße—Mierendorffplatz; S+U-Bahnhof Warschauer Straße Hermannplatz (unter Prüfung alternativer Routen zur Querung des Görlitzer Parks); Erschließung des Neubaugebiets Blankenburger Pflasterweg (Verlängerung M 2 ab Heinersdorf) und die Tangentialstrecke Pankow—Heinersdorf—Weißensee.
Auszug aus der Berliner Koalitionsvereinbarung von SPD, Linken und Grünen für die Legislaturperiode
2016 bis 2021Es spricht manches dafür, dass man sich auch in Ost-Berlin gern der Straßenbahn entledigt hätte – nur fehlten dort die ökonomischen Möglichkeiten, den gleichen Blödsinn zu machen wie auf der anderen Seite der Mauer (was schließlich ganz Berlin das Schicksal Hamburgs ersparte).
Aber wenigstens aus dem Stadtzentrum sollte die Tram weitgehend verbannt werden: Ob in der Leipziger Straße oder rund um den Alexanderplatz – wo die DDR modernen Städtebau nach dem (westlichen) Lehrbuch realisierte, hatte eine Straßenbahn genausowenig etwas zu suchen wie Altbauten. Beim Stilllegen ging es dann ähnlich unsinnig zu wie im Westen: Die 1960/61 neugebaute Strecke über die Alexanderstraße etwa existierte nur sechs Jahre lang, die benachbarte Schleife Wallnerstraße nur wenige Monate mehr (die neue Gleisschleife auf dem Dönhoffplatz brachte es sogar bloß auf dreieinhalb Jahre). Grund dafür war die Umgestaltung des Alexanderplatzes, und im Fahrplanheft Winter 1966/67 erläuterte die BVG-Ost, wie sehr dort vor allem die Tram den Verkehr behindere und für haufenweise Unfälle sorge.
Unter diesem Vorwand wurde die bis auf weiteres unentbehrliche Straßenbahn ab Anfang 1967 um das neue „sozialistische Stadtzentrum“ in großem Bogen herumgeführt und am Schönhauser Tor beispielhaft der von allen Experten seinerzeit gepriesene „gebrochene Verkehr“ vorexerziert: Tagtäglich stiegen hier gewaltige Menschenmassen zwischen der Straßenbahn und der (ohnehin überlasteten) U-Bahn um, auf ihrem Weg vom und zum Alex oder zur Friedrichstadt rund um die Leipziger Straße, die ab Sommer 1970 ohne Tram war.
Erst die Ölkrise 1973 und der darauffolgende dauerhafte Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt brachten die Abkehr von der verfehlten Verkehrspolitik, der Anfang der siebziger Jahre neben der Straßenbahn in Treptow auch noch das Ost-Berliner Obusnetz zum Opfer gefallen war: Die 1975 eröffnete neue Tramtrasse durch die östliche Herzbergstraße, die Allee der Kosmonauten und die Rhinstraße war nur ein Ersatz für die Stilllegung auf der heutigen B 1/5, die autobahnartig ausgebaut wurde. Aber unmittelbar darauf begann der Bau neuer Strecken in die im Entstehen begriffenen Trabantenstädte. Von 1979 bis 1991 wurden gut 30 Kilometer eröffnet – soviel wie seit der Zeit der Weimarer Republik nicht mehr. Von diesem in der DDR erreichten Tempo kann man heute nur träumen.
Es war ja auch weniger verkehrspolitische Einsicht und Vernunft als wirtschaftliche Not, die die Renaissance der Straßenbahn in der gesamten DDR brachte. Dem wiedervereinten Berlin scheint es dagegen immer noch viel zu gut zu gehen: Die Riesenchance, die sich mit der Wiedervereinigung bot, den Riesenfehler von 1953 zu korrigieren (wie groß er war, zeigt auch ein Blick darauf, wie schwierig es mittlerweile ist, neue Strecken zu bauen), wurde kaum genutzt.
Dabei ist der Wiederaufbau der Tram über die Osloer und die Seestraße wie eingangs erwähnt ein voller Erfolg. Gleiches gilt für die Strecke durch die Bernauer Straße, wo die Straßenbahn immerhin ganz am Rande des ehemaligen Westteils der Stadt entlangfährt – in Gestalt der M 10 teils im Fünf-Minuten-Takt. Es gilt ebenso für den kurzen Abstecher, den die Tram über die einstige Sektorengrenze hinweg zum neuen Hauptbahnhof macht – mit drei Linien und ebenfalls oft vollen Zügen. Es gilt aber auch für die Strecken, die nach 1990 wieder zum Alexanderplatz gebaut wurden.
Nicht nur in Berlin, sondern praktisch überall, wo neue Straßenbahnstrecken eröffnet wurden, werden diese von mehr Fahrgästen genutzt als erwartet. Woran das wohl liegt? Auch dies mal auszuprobieren, sei Tramskeptikern und -feinden empfohlen: Vergleichen Sie eine ruckelige Busfahrt mit viel Stop-and-Go, Geschaukel, Hin- und Herschlenkern mit dem ruhigen Dahingleiten einer Straßenbahn!
Zudem existieren im einstigen Westteil Berlins zahlreiche Buslinien, deren hohe Auslastung schon aus ökonomischen Gründen eine Umstellung auf Straßenbahnbetrieb dringend notwendig macht. Aber seit 1990 gab es neben vielen schönen Plänen vor allem deren erfolgreiche Verschleppung – die Tramgegner in Politik und Verwaltung haben wenigstens in dieser Frage sehr effizient gearbeitet.
Allerdings ging es in den Neunzigern mit dem Ausbau der Straßenbahn noch relativ zügig voran. Immerhin wurde in jenen Jahren auch das bestehende Netz umfassend saniert und modernisiert. Der Bau neuer Strecken kam erst im neuen Jahrtausend fast zum Erliegen – unter dem rot-roten Senat.
Angesichts der Erfahrungen der letzten anderthalb Dekaden erwartet man schon gar keine kühnen Pläne mehr, die dann auch angegangen würden. Keinen großen Wurf, etwa den Wiederaufbau eines Straßenbahnnetzes in Spandau, das mit seinen massiven Problemen heute ein besonders erschütterndes Beispiel für die Folgen der verfehlten Verkehrspolitik ist.
So darf es denn schon als Erfolg verbucht werden, dass die Pläne zur Stilllegung diverser Strecken, die seit 1990 immer wieder lanciert wurden, anscheinend endgültig vom Tisch sind. Man gibt sich zufrieden mit der im Koalitionsvertrag bekundeten Absicht, bis zu den nächsten Abgeordnetenhauswahlen immerhin endlich die Streckenverlegung am Ostkreuz zu bauen, die kleine Verlängerung vom Hauptbahnhof zur Turmstraße, den Lückenschluss zwischen Adlershof und Schöneweide. Und die Planung weiterer, teils ebenfalls seit Jahrzehnten vorgesehener Strecken so voranzubringen, dass es schon nach den Wahlen 2021 heißen könnte: „Jetzt fang wa gleich an.“ – Wenn der dann regierende Senat noch will.
Den amtierenden haben derweil die U-Bahn-Fans (oder auch die Straßenbahngegner und Autofreunde) dazu gebracht, die ohnehin unzureichenden personellen Kapazitäten der Verkehrsverwaltung für die „Prüfung“ aller möglicher U-Bahn-Verlängerungen zu vergeuden. Man kann sich ausmalen, wie intensiv manche Politiker „bearbeitet“ worden sein dürften, damit es zum Senatsbeschluss vom 11. Juli 2017 (siehe Kasten) gekommen ist. Faktisch wandte sich der Senat damit von der im Koalitionsvertrag vereinbarten Linie ab, hatte man dort doch zahlreiche Straßenbahnprojekte ausdrücklich aufgeführt, aber auf eine Erweiterung des U-Bahn-Netzes kein Wort verschwendet. Angesichts dieses Umfelds und angesichts auch des Zustands, in dem sich die Berliner Verwaltung mittlerweile befindet, wäre man in Sachen Tramnetzausbau schon mit kleinen Brötchen zufrieden, wenn diese auch wirklich gebacken würden.
Jan Gympel
aus SIGNAL 4/2017 (Oktober 2017), Seite 17-21