Fernverkehr

Bahnsteighöhenchaos bei der Deutschen Bahn
Bundesverkehrsminister muss endlich das Regelwerk ändern

In Deutschland sind die Bahnsteige in der Regel 0,38 Meter, 0,55 Meter, 0,76 Meter oder 0,96 Meter hoch. Das Maß gibt die Höhe über Schienenoberkante an. Die Anforderungen an Barrierefreiheit sind damit allzu oft nicht gewährleistet. Auch die Festlegung des Bundesverkehrsministeriums auf einheitlich 0,76 Meter hohe Bahnsteige im Eisenbahnnetz ist keine Lösung.


Deutscher Bahnkunden-Verband (DBV) und IGEB Fernverkehr

14. Mai 2018

Deutschland gegen Europa

Bahnhof Frankfurt (Oder). Die Nutzung u. a. auch der Regionalexpresslinie 1 (Magdeburg—Berlin—Cottbus) ist durch die 0,76 Meter hohen Bahnsteige für Fahrgäste, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, nur mit fremder Hilfe möglich. Foto: Christian Schultz

In der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) sind in Deutschland in § 13 „Bahnsteige, Rampen“ derzeit folgende Regelungen zu finden: Bei Neubauten oder umfassenden Umbauten von Personenbahnsteigen sollen in der Regel die Bahnsteigkanten auf eine Höhe von 0,76 Meter über Schienenoberkante gelegt werden; Höhen von unter 0,38 Meter und über 0,96 Meter sind unzulässig. Bahnsteige, an denen ausschließlich Stadtschnellbahnen halten, sollen auf eine Höhe von 0,96 Meter über Schienenoberkante gelegt werden. In Gleisbogen ist auf die Überhöhung Rücksicht zu nehmen.

Die Eisenbahnbau- und Betriebsordnung in Österreich enthält in § 20 „Bahnsteige, Rampen“ demgegenüber folgende, von Deutschland abweichende Regelung: Bei Neubauten von Bahnsteigen müssen in der Regel die Bahnsteigkanten auf eine Höhe von 0,55 Meter über Schienenoberkante gelegt werden; Höhen von unter 0,38 Meter und über 0,76 Meter sind unzulässig. In Gleisbogen ist auf die Überhöhung Rücksicht zu nehmen.

Nicht nur in Österreich, sondern beispielsweise auch in Italien, Frankreich, Dänemark, Tschechien, der Slowakei und der Schweiz wird eine Bahnsteighöhe von 0,55 Metern bei Neu- und Umbauten konsequent umgesetzt.

Deutschland verzichtet auf Barrierefreiheit

Mit der Festlegung des Bundesverkehrsministeriums auf einheitlich 0,76 Meter hohe Bahnsteige beschreitet Deutschland also einen Sonderweg in Europa, der außerdem das Ziel des barriere- bzw. stufenfreien Ein- und

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Ausstiegs in die Züge in vielen Fällen für Jahrzehnte verhindert. Denn so lange wird es auch noch Bahnsteige mit anderen Höhen, insbesondere 0,55 Meter über Schienenoberkante, geben.

Leipzig Hauptbahnhof. Wäre hier die Bahnsteighöhe mit 0,55 Meter ausgeführt, wäre die gesetzlich geforderte Barrierefreiheit beim Talent 2 gegeben! Foto: Christian Schultz
Fürstenwalde (Spree). Auch die Ein- bzw. Ausstiegsverhältnisse bei Doppelstockwagen sind an Bahnsteigen mit 0,76 Metern unbefriedigend und behindern zudem in unnötiger Weise den Fahrgastwechsel. Foto: IGEB

Aber selbst wenn für sehr viel Geld eine schnellere Vereinheitlichung auf 0,76 Meter hohe Bahnsteige gelänge, wäre damit der Einstieg z. B. in ICE-Züge keineswegs barrierefrei bzw. ohne Hilfe Dritter möglich. Der Einsatz eines fahrzeuggebundenen Hublifts, so wie er derzeit bei den neuen ICE 4 realisiert wird, oder anderer Hilfsmittel wäre weiterhin erforderlich!

Der niveaugleiche Fahrgasteinstieg ist ein wesentlicher Baustein für den barrierefreien Zugang zum Bahnsystem. In § 4 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) wird gefordert, dass die selbstständige Nutzung u. a. der Bahn ohne fremde Hilfe möglich sein muss. Ein niveaugleicher Einstieg ist dafür wichtigste Voraussetzung, aber nur möglich, wenn Bahnsteig- und Fahrzeughöhen zumindest annähernd identisch sind und der Spalt zwischen Bahnsteigkante und Fahrzeug ein definiertes Maß nicht überschreitet.

In der Technischen Spezifikation für die Interoperabiliät (TSI) „Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung und Menschen mit eingeschränkter Mobilität“ (PRM) wird für einen niveaugleichen Einstieg Folgendes gefordert: Der Spalt zwischen der Kante der Türschwelle (oder des ausgefahrenen Schiebetritts) dieser Türöffnung und dem Bahnsteig beträgt horizontal nicht mehr als 75 mm und vertikal nicht mehr als 50 mm. Zwischen Türschwelle und Fahrzeugvorraum ist keine Stufe vorhanden.

Barrierefreiheit nutzt allen Fahrgästen

Hannover Hauptbahnhof. Selbst bei ICE-Zügen ist mit der von Bundesverkehrsministerium und Deutscher Bahn favorisierten Bahnsteighöhe von 0,76 Metern ein barrierefreier Einstieg nicht möglich. Foto: Christian Schultz

Ein niveaugleicher Einstieg nutzt aber nicht nur mobilitätseingeschränkten Fahrgästen: Die stufenfreie Einstiegsmöglichkeit vom Bahnsteig in das Fahrzeug trägt zu einem bequemen und schnelleren Fahrgastwechsel und damit zu einer kürzeren Haltezeit bei bzw. erhöht die Leistungsfähigkeit des Bahnsystems! Dies ist schwerpunktmäßig für Ballungsraumverkehre von Bedeutung.

Diese Rahmenbedingungen wurden seinerzeit im Gebiet der ehemaligen DDR berücksichtigt, indem bei der Deutschen Reichsbahn Doppelstockwagen mit Niederflureinstieg eingesetzt und passend dazu Bahnsteige mit einer Regelhöhe von 0,55 Metern eingeführt wurden. Auch die nach der Wende beschafften Fahrzeuge (z. B. Niederflur-Doppelstockwagen, Talent) sind für diese Bahnsteighöhe optimiert.

Vor diesem Hintergrund ist das Festhalten des Bundesverkehrsministeriums an einer Regelhöhe der Bahnsteige von 0,76 Metern unverständlich. Absurd bzw. inakzeptabel sind darüber hinaus Mischformen von 0,76 Meter und 0,55 Meter hohen Bahnsteigen an den Zugangsstellen einer Strecke bzw. Linie, wie sie beispielsweise an der jüngst in weiten Teilen sanierten Strecke Berlin—Dresden realisiert wurden bzw. noch geplant werden.

Bahnsteighöhen von 0,76 Metern behindern zudem Transporte mit Lademaßüberschreitung (LÜ-tief-Netz, z. B. bei Transporten von Großtransformatoren) und sorgen damit für vermeidbare infrastrukturelle Zwangspunkte.

0,55 Meter muss Regelmaß werden

Der vom Bundesverkehrsministerium zu verantwortende deutsche Irrweg muss endlich beendet werden. Korrekturen am Konzept für einheitlich 0,76 Meter hohe Bahnsteige sind dringend erforderlich, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung.

Folgendes Bahnsteighöhen-Konzept wäre demgegenüber aus Fahrgastsicht umzusetzen:

Am Bahnhof Rangsdorf ist in diesem Fall die Barrierefreiheit im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes durch 0,55 Meter hohe Bahnsteige und den ausfahrbaren Schiebetritt am Fahrzeug realisiert. Foto: Christian Schultz
Bahnhof Rangsdorf. Auch bei Doppelstockwagen ist ein stufenloser Einstieg an 0,55 Meter hohen Bahnsteigen möglich. Nicht vorhanden ist in diesem Fall allerdings ein ausfahrbarer Schiebetritt zur Spaltüberbrückung zwischen Fahrzeug und Bahnsteigkante. Foto: Christian Schultz

Das Maß 0,55 Meter ist als europäischer Standard anerkannt und muss endlich als Regel-Bahnsteighöhe bei Neu- und Umbauten auch in Deutschland umgesetzt werden! In vielen unserer Nachbarländer wird dies bereits, wie oben beschrieben, konsequent realisiert. Der Ein- bzw. Ausstieg in ICE-Züge ist auch mit dieser Bahnsteighöhe gewährleistet. Beispiele sind hierfür Coburg oder Wien Hauptbahnhof.

Die technisch bedingte Notwendigkeit von Einstiegshilfen, z. B. in Form von fahrzeuggebundenen Hubliften bei ICE-Zügen, ist dabei angesichts der deutlich geringeren Fahrgastzahlen im Fernverkehr im Vergleich zum Regionalverkehr ein akzeptabler Kompromiss.

0,76 Meter nur noch in Sonderfällen!

In Sonderfällen muss diese Bahnsteighöhe allerdings bestehen bleiben, ggf. auch neu errichtet werden. Dies betrifft Bahnhöfe, wo beispielsweise S- und Regionalbahnzüge am selben Bahnsteig halten müssen. Nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand bzw. letztlich nur sehr langfristig veränderbar sind auch Sonderformen, wie z. B. auf der Berliner Stadtbahn durch den Einbau der „Festen Fahrbahn“ verursacht.

0,96 Meter für Stadtschnellbahnsysteme

Bei reinen S-Bahn-Netzen, z. B. in Berlin, Hamburg, Stuttgart und München sollten die Bahnsteige (weiterhin) 0,96 Meter hoch sein.

DB wirbt mit barrierefreiem IC-Einstieg bei 0,55-Meter-Bahnsteigen

Die Deutsche Bahn, die sich einerseits die 0,76-Meter-Vorgabe des Bundesverkehrsministeriums zu eigen gemacht hat, widerspricht sich andererseits mit ihrer eigenen Werbung selbst.

Im Fall der neuen doppelstöckigen Intercity 2-Züge wird ausdrücklich mit der vollumfänglichen Barrierefreiheit bzw. dem niveaugleichen Ein- und Ausstieg bei einer Bahnsteighöhe von 0,55 Metern geworben (beschränkt allerdings ausschließlich auf die Steuerwagen).

Hannover Hauptbahnhof. Für Bahnkunden, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ist bei ICE-Zügen grundsätzlich z. B. eine fahrzeuggebundene Einstieghilfe und zusätzlich die Hilfe des Personals notwendig, um in das bzw. aus dem Fahrzeug zu gelangen. Foto: Christian Schultz

Mittels der Spaltüberbrückung bzw. des ausfahrbaren Schiebetritts ist nämlich gewährleistet, dass z. B. ein Rollstuhlfahrer oder ein Fahrgast mit Rollator selbstständig, also ohne fremde Hilfe (!), in den Zug hineinbzw. wieder herauskommt. Umständliche Ersatzlösungen mittels Rampen sind in diesem Fall nicht erforderlich.

Aber auch für alle anderen Fahrgäste ist diese Lösung ideal und sollte daher selbstverständliches Ziel sein!

Umsetzung

Die Regelungen des §13 in der deutschen Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung müssen im Sinne des oben beschriebenen Konzeptes umgehend geändert werden.

Eine sukzessive Umsetzung einer Regel-Bahnsteighöhe von 0,55 Metern ist dabei in vielen Fällen sogar ohne teure Um- und Neubauten möglich. Die Lösung liegt im Hochstopfen der Gleise, wie z. B. im Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe an den Bahnsteiggleisen 7 bis 10 bereits realisiert, was allerdings auch eine Höhenanpassung der Oberleitung erfordert.

Deutscher Bahnkunden-Verband (DBV) und IGEB Fernverkehr

aus SIGNAL 2/2018 (Mai/Juni 2018), Seite 20-22