Titelthema Tickets
Ein Blick nach Japan
29. Jul 2018
Wer zum ersten Mal in diesem fernöstlichen Land ist, wird vom Stand der Technik begeistert sein; insbesondere die japanische Fahrgastinformation ist in den Ballungsräumen der deutschen weit voraus, aber darum soll es in einer späteren SIGNAL-Ausgabe gehen.
Doch nicht alles, was dort praktiziert wird, ist darum auch besser als hierzulande. Neben dem fast völligen Fehlen eines Nachtverkehrs fällt dem Betrachter sofort auch das Fehlen eines Tarifverbundes ins Auge. Beide Mängel haben denselben Hintergrund: In den sehr verkehrsintensiven Ballungsräumen verdienen die Bahnunternehmen zu viel (Busse spielen zu Recht nur eine Nebenrolle; da sind Berlins Verkehrsplaner und -politiker noch Jahrzehnte hinterher).
Fast alle der zahlreichen, nach der japanischen Bahnreform ausschließlich privaten Eisenbahnunternehmen schreiben schwarze Zahlen. Viele erwirtschaften sogar sehr ansehnliche Gewinne, wenn auch nicht nur mit dem Bahnverkehr. Sie nutzen die dort übliche Integration von Bahnbetrieb und Infrastruktur zum Betrieb von Hotels, Kaufhäusern und Vergnügungsparks auf eigenem Land. In einigen Fällen werden sogar Universitäts- und Verwaltungsgelände zusammen mit der Bahn geplant und gebaut.
Und im Gegensatz zum autoverliebten Deutschland und Europa wurde der Neubau von Bahnstrecken in Japan nicht in den
1960er Jahren eingestellt, sondern entsprechend dem ungebrochenen Wachstum der Metropolen bis in die 1990er Jahre fortgeführt. Danach war schlicht kein freies Land mehr da, das man noch bebauen könnte!
Weil aber die Nachfrage nach neuen Flächen weiter besteht, werden die kommenden Projekte durch Aufschüttungen in den Meeresbuchten realisiert – und selbstverständlich ebenfalls durch neue Schienenstrecken erschlossen.
Da diese neuen Vorhaben wegen der kleinen Flächen nur noch eine begrenzte Verkehrsnachfrage erzeugen, hat sich der Schwerpunkt weg von der klassischen Vorort-Eisenbahn hin zu modernen Leichtmetros, meistens fahrerlos und vollautomatisch, verlagert.
Die stabile Erwirtschaftung von Gewinnen führt dazu, dass die öffentliche Verwaltung keine Subventionen in das Verkehrsnetz geben muss und darum auch kaum Gestaltungsmöglichkeiten für das Angebot hat. Wer nicht bezahlt, kann nichts bestellen. Und da alle Züge, in wichtigen Verkehrskorridoren auch auf parallelen, konkurrierenden Strecken, immer voll werden, besteht für die Bahnunternehmen auch kein Grund, ihre Einnahmen durch einen Verbundtarif zu schmälern.
Trotzdem denken die verschiedenen Verkehrsbetriebe auch an die Bedürfnisse ihrer Kunden und arbeiten mit den regionalen Verkehrsplanern in den zuständigen Ämtern zusammen.
Das wichtigste Mittel, um die Pendler dauerhaft an sich zu binden, sind bequeme, weil umsteigefreie Verbindungen. Seit den 1960er Jahren wurden aus den ehemals kleinen, historisch gewachsenen privaten Vorortbahnen, den städtischen und privaten Metrobetrieben und seit den 1990er Jahren auch aus den ehemals staatlichen japanischen Bahnstrecken zusammenhängende Netze geflochten, auf denen die Züge ohne Umsteigezwang durchgehend verkehren.
In den Außenbereichen von Tokio, Osaka und Kyoto wurden Verbindungsrampen gebaut, die die durchgehenden Verbindungen ermöglichten, ohne die alten Kopfbahnhöfe der Privatbahnen stillzulegen – das dort gewachsene Kundenpotenzial wurde weiter gepflegt und nicht irgendwelchen Schreibtisch-Spielchen der Verkehrsplaner geopfert.
Auch aus Fehlern wird in Japan gelernt: Nach nur wenigen Unfällen in den ersten Jahrzehnten des durchgehenden Betriebes, die unter anderem auf mangelnde Streckenkenntnis des Fahrpersonals in fremden Netzen zurückgeführt werden konnten, wurde landesweit auf ein System des konsequenten Personalwechsels an den Infrastrukturgrenzen umgestellt – der Zug mit den Fahrgästen fährt durch, das Personal wechselt je nach Besitzer der Trassen.
Mit der zunehmenden Verflechtung der Netze mussten auch neue Tarifangebote entwickelt werden, die einerseits das Kundenbedürfnis nach einer bequemen Handhabung und andererseits das kaufmännische Interesse an einfacher Abrechnung zwischen den vielen Geschäftspartnern berücksichtigen. Und dafür ist elektronisches Ticketing das Mittel der Wahl. Dabei kann man grundsätzlich drei Arten in Japan beobachten, die allesamt den Vorteil haben, dem zahlenden Kunden klar anzuzeigen, wo er tariflich steht.
Vorauszuschicken ist allerdings, dass der gesamte großstädtische Bahnverkehr in Japan über Zugangssperren an den Stationen verfügt, die ein Lesen der Fahrscheine beim Betreten und Verlassen der Bahnhöfe erzwingen. Die Betreiber brauchten sich also keine Gedanken machen, wie man die Anwesenheit eines Kunden im System feststellt.
Das erste und älteste Angebot ist der klassische Papierfahrschein. Die Bahnsteigsperren können deshalb auch die maschinellen Aufdrucke lesen, und der Kunde mit einer solchen Fahrkarte hat durch eben diesen Aufdruck denselben Kenntnisstand wie das System. Mithilfe dieser technischen Auslegung konnte die elektronische Abrechnung eingeführt werden, ohne auf die Kunden einen Kaufzwang für neue Chipkarten auszuüben.
Neben den Lesegeräten in den Bahnsteigsperren zählen aber auch die Verkaufsgeräte davor und dahinter dazu. Sie sind es, die die lesbaren Aufdrucke erzeugen und sowohl den einfachen Erwerb als auch das unkomplizierte Nachlösen ermöglichen. So werden Japaner und Touristen mit mangelnder Ortskenntnis nicht sofort und pauschal als Schwarzfahrer betrachtet und als Kriminelle behandelt, wenn sie weiter gefahren sind, als das Ticket erlaubt, sondern sie erhalten die Möglichkeit, ohne Strafgebühr den noch fehlenden Fahrpreis nachzuzahlen. Die Information darüber erhalten sie an eben diesen Bahnsteigsperren, und die extra angebrachten Fahrscheinautomaten innerhalb des abgesperrten Bereichs geben ihnen dann den benötigten Nachlösefahrschein, um den Bahnhof verlassen zu können.
Man mag die nicht vollständige Umstellung auf nur elektronisch lesbare Chipkarten für unzeitgemäß halten, aber die Verkehrsbetriebe ziehen durchaus auch ihren Nutzen daraus: Papiertickets sind, gerade bei Einmal- und Gelegenheitskunden, sowohl ökonomisch als auch ökologisch günstiger als die aufwendigen Karten mit integrierten Schaltkreisen.
Das zweite Angebot sind die elektronischen Aufladekarten. Die meisten japanischen Verkehrsunternehmen einigten sich schon sehr früh auf gemeinsame Standards zum Lesen und Beschreiben dieser Karten, und so kann auch der Tourist, der mehrere Städte bereist, davon profitieren, dass er nur in einer Stadt diese Karte kaufen braucht,
aber auch in vielen anderen benutzen kann.Deshalb gibt es auch den gemeinsamen Oberbegriff „IC-Card“ für alle diese Angebote, auch wenn sie lokal unter verschiedenen Markennamen angeboten werden: Pasmo in Tokio, Icoca in Osaka und so weiter.
Obwohl die Funktion einer Prepaid-Karte auch hierzulande schon seit Jahren bekannt ist, findet sie mangels firmenübergreifender Speicher- und Lesetechnik keine Anwendung außerhalb der mobilen Telefonie. Die japanischen Eisenbahngesellschaften aber haben begriffen, dass sie von den Fahrgästen nicht als isolierte Marken wahrgenommen werden, sondern als Teil eines landesweiten Netzes. Dieses ist nur noch vergleichbar mit dem Straßennetz für den Autoverkehr, was ebenfalls von allen Fahrzeugen ohne technische Umbauten an den Gebietsgrenzen genutzt werden kann.
Die Prepaid-Technik kommt auch der Neigung der Japaner zum Bargeld statt Abbuchen entgegen. Da sie den Deutschen in diesem Punkt ähneln, könnten auch hier die Vorteile dieses Systems greifen, wenn es eingeführt würde. Die Karten sind erstens unpersönlich, und der Besitzer kann damit wie mit Bargeld anonym bezahlen. Sie sind zweitens bares Geld wert, weil man damit nicht nur Fahrscheine bezahlen, sondern auch kleine Einkäufe in vielen Kiosken erledigen kann, die sich ebenfalls dieser Technik angeschlossen haben. Mittlerweile gehen auch immer mehr große Geschäfte dazu über, diese Karten zum Bezahlen zuzulassen.
Das dritte Angebot sind die Zeitkarten für Stammkunden, die es regional unterschiedlich sowohl als elektronisch lesbare Chipkarte als auch als klassische Pappkarte mit Magnetfeld gibt. Auf jeden Fall sind auch diese Karten maschinenlesbar und selbst in Fällen, wo der Preis mit dem Kauf unveränderbar feststeht, werden dem Fahrgast die mit der Karte gemachten Transaktionen zugänglich gemacht: als Aufdruck bei den Papp-Exemplaren oder zum elektronischen Auslesen an den Fahrscheinautomaten bei den Chipkarten.
Beim Auslesen der Nutzungshistorie fällt auch noch eine andere clevere Lösung ins Auge: die Stundenzählung am Betriebstag. Dieser weicht ja wie in Deutschland vom Kalendertag ab, reicht also bis 3 Uhr des Folgetages. Wenn also der Fahrschein nach Mitternacht benutzt wird, dann erscheinen die Stundenangaben 24, 25, 26 Uhr plus die Minuten bis 27 Uhr, womit nachvollziehbar ist, ob der Fahrschein zum neu beginnenden Tag oder zum abgelaufenen gehört, je nach schon vorhandenen Einträgen.
Bei der Nutzung der IC-Cards ist interessant, dass sie sowohl an den Fahrscheinautomaten zur Bezahlung klassischer Fahrscheine als auch an den elektronischen Zugangssperren der Bahnhöfe zum direkten Übertragen des Fahrpreises an die Bahngesellschaft verwendet werden. Im letzteren Fall hat der Kunde keinen eigentlichen Fahrschein (auch keinen elektronisch gespeicherten) mehr bei sich, sondern nur noch den Lesevermerk des Zustiegsbahnhofs von der dortigen Zugangssperre, und beim Auslesen am Zielbahnhof wird lediglich der fällige Betrag abgebucht. Es fallen weder für die Bahn noch für ihre Kunden irgendwelche Papiere an.
Selbstverständlich kann der Kartenbesitzer jederzeit die damit gemachten Transaktionen nachvollziehen, denn die Fahrscheinautomaten an den Bahnhöfen haben einen entsprechenden Menüpunkt, der dies alles geordnet anzeigt.
Alles in allem ein seit Jahren gut funktionierendes System mit hoher Zuverlässigkeit – nur zwei Einschränkungen sind zu machen: Noch immer sind nicht alle großen Städte mit dem technischen Gemeinschaftsstandard ausgestattet, so dass in einigen Ballungsgebieten noch separate Karten nötig sind. Zwischen den drei größten Metropolregionen des Landes (Tokio/Yokohama, Nagoya, Osaka/Kyoto/Kobe) sind die Aufladekarten aber kompatibel.
Außerdem benötigt man beim Übergang zum Fernverkehr der Eisenbahn ebenfalls noch einen separaten Fahrschein. Das mag auch mit den dort üblichen höheren Fahrpreisen zusammenhängen.
Das gewählte System mit den Bahnsteigsperren ist für einen Verbundtarif natürlich hinderlich, denn wenn jeder Umstieg, der mit einem Wechsel des Verkehrsmittels verbunden ist, neues Einchecken erfordert, dann wird der Gedanke eines durchgehenden Tickets (einmal stempeln, beliebig weit fahren) ad absurdum geführt.
Die gebaute Form der Netzverknüpfung bietet für die so ausgestatteten Relationen aber den viel größeren Vorteil, dass die Fahrgäste gar nicht mehr umsteigen müssen, denn nun wechseln die Züge statt der Kunden die Strecken und fahren durch. So steigt man bei Gesellschaft A ein und an einem Bahnhof von C aus, obwohl zwischen beiden Teilnetzen noch ein Abschnitt der Gesellschaft B liegt. Und für diese Reise über drei „Territorien“ benötigt man nur einen Fahrschein.
Japan, das Land der Roboter – das ist selbstverständlich nur ein Klischee, denn in kaum einer westlichen Industrienation gibt es so viel Servicepersonal wie in Japan. Und nebenbei bemerkt bieten diese Mitarbeiter dort auch Service im Wortsinn! Die Qualifikation „Kunden vergraulen“, die bei uns noch allzu oft anzutreffen ist, gibt es dort quasi nirgends. Nicht alles machen also Maschinen, schon gar nicht Roboter.
Aber wenn die Japaner Maschinen arbeiten lassen, dann richtig. Das fängt mit der Anzahl der Automaten an: Es ist ganz selten, dass an einer Fahrscheinausgabe eine Schlange steht, in den meisten Stationen befinden sich an jedem Zugang eine ganze Batterie von Automaten, die auch stets das volle Sortiment verkaufen.
Es geht weiter mit der guten Wartung (oder der robusten Konstruktion) der Automaten, denn sie sind immer alle in Betrieb. Wenn mal einer nicht arbeitet, dann wird an ihm zur Reparatur gearbeitet (das Gleiche gilt auch für Rolltreppen, Aufzüge und so weiter).
Und es setzt sich fort mit dem Service, der beim Bezahlen geboten wird. Die völlig richtige Philosophie der Geschäftsleute dort lautet: Wenn schon ein Kunde sein Geld bei mir lassen will, dann soll er so bezahlen können, wie er möchte!
Also akzeptieren alle Automaten dort neben Münzen auch Scheine, und zwar alle Werte! Und sie geben bei größeren Wechselgeldbeträgen auch Scheine wieder heraus.
Das gilt im Übrigen auch für die dort weit verbreiteten Getränke-Automaten. Kein Japaner macht sich Sorgen, dass er für den Automaten nicht das passende Geld dabei hat – würde man Japanern die unfassbaren Probleme der BVG mit Automaten in der Straßenbahn erzählen, würden sie sicher ungläubig staunen oder höflich lächeln.
Fahrkartenautomaten in Japan akzeptieren natürlich auch Kreditkarten und die IC-Karten.
Das war nur ein kurzer Überblick über die „Benutzeroberfläche“ des japanischen Bahn- und Metro-Tarifwesens, aber er zeigt doch deutlich, dass die Verantwortlichen hierzulande noch einiges besser machen können und müssen, wenn sie eine ähnlich hohe Nutzungsrate ihrer öffentlichen Verkehrsmittel anstreben, wie ihre Reden und gedruckten Programme versprechen. (af)
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 3/2018 (August 2018), Seite 8-11