Titelthema Tickets
Anfang 2018 überraschte die Nachricht, die neue Bundesregierung erwäge die Einführung eines kostenlosen Personennahverkehrs. Sofort meldeten sich die Bedenkenträger, die erläuterten, weshalb so etwas erstens völlig unmöglich wäre, zweitens auch noch total ungerecht, und überhaupt: So etwas haben wir ja noch nie gemacht! Dabei lehrt ein Blick in die Verkehrsgeschichte, auch jener der Stadt Berlin: Vieles, das in der Tarifgestaltung und der Form des Fahrkartenverkaufs einst buchstäblich undenkbar war, ist heute selbstverständlich.
29. Jul 2018
„Neue Bundesregierung plant Nulltarif im ÖPNV.“ Die Meldung, noch vor dem Amtsantritt der jetzigen Großen Koalition verbreitet, klang sensationell – und stimmte so natürlich nicht: CDU/CSU und SPD wollten nicht plötzlich eine alte, vor allem von der politischen Linken vorgebrachte Forderung flächendeckend erfüllen. Vielmehr waren einige Politiker bei ihren verzweifelten Versuchen, Fahrverbote für den motorisierten Individualverkehr (MIV) in Orten mit starker Luftverschmutzung zu verhindern, auf die Idee verfallen, so den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu fördern. Versuchsweise in einigen ausgewählten Gemeinden.
Dort winkte man rasch ab, zumal der Einfall wenig durchdacht wirkte. Das Übrige taten
jene Experten, die sogleich erklärten, weshalb das Konzept eines kostenlos nutzbaren ÖPNV ein Ding der Unmöglichkeit und eigentlich Teufelszeug wäre.
Das darf man natürlich so sehen. Man kann in diesen Reaktionen aber auch Denk- und Verhaltensmuster erkennen, welche es in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten immer wieder gegeben hat – und die letztlich immer wieder überwunden wurden.
So kam die schnell beiseite geschobene Initiative kurz vor einem wenig beachteten Jubiläum, das für Berlins Stadtentwicklung von entscheidender Bedeutung war:
Gern zugeschrieben wird dieser Einfluss der Einführung jenes Vororttarifs bei der preußischen Eisenbahn, welcher ab 1. Oktober 1891 Fahrten im Großraum Berlin stark verbilligte.
Noch wichtiger war jedoch, dass am 1. April 1893, also vor jetzt 125 Jahren, Zeitkarten hinzukamen, die noch günstiger waren. Erst damit konnte die weitere Randwanderung und damit auch Expansion der Industrie erfolgen – etwa von Borsig nach Tegel, der AEG nach Oberschöneweide, von Siemens an den Nonnendamm –, erst damit konnte Berlin in den folgenden zwanzig Jahren explosionsartig wachsen.
Wobei sich leider die Hoffnung, die elenden Wohnbedingungen vieler Menschen in der alten Kernstadt könnten durch den Bau neuer Siedlungen an der Peripherie beseitigt werden, kaum erfüllte: Zuwanderung und die gestiegenen Platzansprüche der Wohlhabenden neutralisierten den Wohnraumzuwachs, für den ein attraktiver ÖPNV – zu einer Zeit, als Autos noch teure Spielzeuge darstellten – dennoch bedeutend war.
Weil die meisten Menschen auf ihn angewiesen waren, konnten die Betreiber von Bussen und Bahnen aber lange Zeit gegenüber ihren Kunden auch eine gewisse Arroganz an den Tag legen und ihnen die Nutzung unnötig erschweren. So erging man sich in Konkurrenz zueinander statt zu kooperieren. An einen Tarifverbund etwa war nicht zu denken. In Berlin änderte sich dies erst, als sich endlich eine offensive Verkehrspolitik durchsetzte, die 1918 zum Erwerb der den hauptstädtischen ÖPNV beherrschenden Großen Berliner Straßenbahn AG und ein Jahrzehnt später zur Gründung der BVG führte. Der gemeinsame Tarif für alle stadteigenen Verkehrsmittel wurde schon 1927 eingerichtet und umfasste auch einen Fahrschein zum „Überstieg“ auf die Stadt-, Ring- und Vorortbahn (die spätere S-Bahn).
Diese umständliche Prozedur (erst 1949 wurden Stempel eingeführt, dank derer dann auch nicht mehr für jeden Betriebshof eigene, nur auf bestimmten Linien ausgegebene Fahrscheine zu drucken waren) sollte dafür sorgen, dass der BVG auch ja kein einziger ihr zustehender Groschen entging. Und es waren viele Groschen und andere Münzen, die die Schaffner mit sich herumschleppen mussten, ebenso wie rund ein halbes Dutzend Sorten von Fahrscheinen. Ein erklecklicher Teil der täglichen Arbeitszeit ging drauf mit der mühseligen Abrechnung im Betriebshof.
So sehr war man in einem überkommenen Denken gefangen, welches uns heute völlig fremd erscheint, dass diese aufwendigen Prozeduren auch noch fast den gesamten Zweiten Weltkrieg über durchgehalten wurden: Da mochten die immer weniger werdenden Straßenbahnen und Busse von immer mehr Menschen gestürmt werden, da mochten dienstverpflichtete und eilig angelernte Schaffnerinnen Verkauf und Kontrolle der Fahrscheine kaum mehr bewältigen können – es wurde weiter verfahren wie bisher. Auch der 1942 unternommene Versuch, die Zahl von gerade einmal rund 100.000 BVG-Zeitkartenbesitzern (in einer Vier-Millionen-Stadt, Ende 2017 zählte die BVG über 484 000 Abonnenten) zu steigern, brachte nur wenig Erleichterung. Zumal neben Zeitkarten, wie wir sie heute kennen, noch immer auch eine „Monatsgrundkarte“ angeboten wurde, die nur zur Benutzung eines verbilligten Einzelfahrscheins berechtigte, also ebenfalls bei jeder Fahrt einen Verkaufsvorgang auslöste.
Erst ganz am Ende, mit Einführung des Kriegseinheitstarifs zum 1. September 1944, kam es zu einer radikalen Vereinfachung der angebotenen Fahrscheinsorten und damit auch der Abfertigung. Nebenher brachte diese (vom Reichsverkehrsministerium angeordnete) Maßnahme erstmals eine Zeitkarte für das BVG-Gesamtnetz. Übrigens wurde auch bei der S-Bahn der einfachere, bis 1991 geltende Zonentarif erst 1944 eingeführt.
Die heute unvorstellbar hohe Zahl von Verkaufsvorgängen, die zudem fast alle durch Personal ausgeführt wurden, ergab sich vor allem aus dem Umstand, dass Vielfahrern nur ein möglichst geringer Rabatt gewährt werden sollte und Zeitkarten entsprechend unattraktiv waren: So kostete beispielsweise von Juni 1952 bis Juni 1956 bei der BVG-West eine Einzelfahrt mit U- oder Straßenbahn (ohne Umsteigeberechtigung) 25 Pfennig. Bei der damals noch üblichen Sechs-Tage-Arbeitswoche ergab das bei zwölf Fahrten drei Mark. Die Wochenkarte für eine Linie kostete 2,50 Mark, die Monatskarte 11 Mark. Die Monatskarte für das Gesamtnetz verschlang mit 40 Mark schon so viel wie die Miete für eine einfache kleine Wohnung.
So wenig wie heute der damals betriebene Personalaufwand oder die damals weitverbreiteten Zeitkarten nur für einzelne Linien vorstellbar sind, so albern erscheint das damalige Streben der BVG, die Umsteigevorgänge zu zählen: Ursprünglich hatte der normale Einzelfahrschein zum einmaligen Umsteigen innerhalb des BVG-Netzes berechtigt – wobei ein Busticket ab Ende 1931 30 statt 25 Pfennig kostete, weil man schon damals wusste, dass der Bus höhere Betriebskosten verursacht als U- und Straßenbahn. Busfahren war deshalb bei der BVG-West auch zwischen 1952 und 1976 teurer als Bahnfahren. Mitte 1949 wurde die mit dem Kriegseinheitstarif abgeschaffte Umsteigeberechtigung jedoch nicht generell wieder eingeführt. Stattdessen gab es fortan einen Umsteigefahrschein für 30 Pfennig, derweil die einfache Fahrt weiterhin 20 Pfennig kostete – wie in Ost-Berlin noch bis Mitte 1991.
Aus diesen Gründen erzeugte die von 1953 bis 1967 eifrig betriebene Zerstörung des West-Berliner Straßenbahnnetzes, die sonst gleichgültig hingenommen oder sogar begrüßt wurde, auch mal Murren: Wo eine Tramlinie „auf Busbetrieb umgestellt wurde“, wie man damals gern sagte, bedeutete dies eine Preiserhöhung um 5 Pfennig beim Einzelfahrschein (die natürlich mit dem Hinweis auf das „modernere“ Verkehrsmittel „Autobus“ gerechtfertigt wurde). Weitere 5 Pfennig teurer wurde die Fahrt in den zahlreichen Fällen, wo mit der Straßenbahn Direktverbindungen verschwanden.
Auch das damals verfochtene Konzept des „gebrochenen Verkehrs“, bei dem der Bus vor allem als Zubringer zur Schnellbahn dient, führte naturgemäß zu einer Steigerung der Umsteigezwänge. Bei der ersten großen Straßenbahnstilllegungsaktion sah sich die BVG deshalb tarifmäßig zu Verrenkungen gezwungen: Als mit der Fertigstellung der U-Bahn nach Tegel 1958 fast ganz Reinickendorf seine Tram verlor, führte man eigens den „Tegel-Umsteiger“ ein. Gegen Zahlung von 10 Pfennig mehr (ermäßigt 5 Pfennig) wurde Fahrgästen der Buslinien 13 (zwischen Heiligensee und U-Bahnhof Tegel, heute Alt-Tegel), 14, 15 und 20 auf dem Weg über den U-Bahnhof Tegel sowie Fahrgästen der Linie 13 auf dem Abschnitt zwischen U-Bahnhof Tegel und Weinmeisterhornweg über den U-Bahnhof Holzhauser Straße zweimaliges Umsteigen erlaubt!
Allerdings war dieses Zugeständnis nur dazu gedacht, die Gemüter kurzzeitig zu beruhigen: Gelten sollte es lediglich bis zur Eröffnung der heutigen U-Bahn-Linie U 9, durch die zwar nicht die durch die Einstellung der Straßenbahn entstandenen Umsteigezwänge entfielen, aber die BVG eine neue Möglichkeit hatte, die Aufmerksamkeit abzulenken.
Freilich verzögerte sich die Fertigstellung der Strecke zwischen Leopoldplatz und Spichernstraße (deren Bau gleichwohl in dem heute bei Berliner Tunnelbauten unvorstellbaren Tempo von sechs Jahren erfolgte), und als sie 1961 anstand, wurde die Mauer gebaut. Nun führte die BVG-West einen „Doppel-Umsteiger“ für ihr gesamtes Netz ein. Diese Maßnahme erleichterte zudem neben der Umfahrung des Ostsektors auch den Boykott der von der DDR-Reichsbahn betriebenen S-Bahn, die mit niedrigeren Fahrpreisen lockte. Beliebig häufiges Umsteigen mit einem Ticket erlaubte die BVG-West erst 1969 – wobei der Wegfall des Fahrscheins mit einfacher Umsteigeberechtigung zugleich eine indirekte Preiserhöhung bedeutete.
Hinzu kam, dass sich die Einhaltung der komplizierten Regeln (einst waren sich die Tarifbestimmungen gar in ausgiebigen Erläuterungen ergangen, wann wo wie umgestiegen und zu diesem Zweck womöglich auch ein Fußweg zurückgelegt werden durfte – den ebenfalls die BVG festgelegt hatte) immer schwerer überprüfen ließ: So hatten die West-Berliner Verkehrsbetriebe Mitte 1964 begonnen, die Zugangskontrollen an den U-Bahnhöfen aufzugeben.
Davon, jeden Fahrgast zu kontrollieren, träumt manch einer ja noch heute. Die BVG-West verabschiedete sich davon aus finanziellen Gründen, allerdings nur langsam: Um die Personalkosten zu reduzieren, wurde ab 1960 bei vielen U-Bahnhöfen nach 20 Uhr und sonntags ganztägig einer von zwei Zugängen einfach geschlossen. Das bedeutete für viele Fahrgäste einen längeren Weg? Egal, die BVG musste sparen und benahm sich, als wenn es die Konkurrenz durch den wachsenden MIV (der ihre Fahrgastzahlen und damit auch ihre Einnahmen schrumpfen ließ) nicht gab.
Während der schweren Grippewelle des Winters 1969/70 war es dann Personalmangel, der zur tage- oder auch wochenlangen Schließung zahlreicher U-Bahn-Eingänge führte. Und noch Jahre später hingen mancherorts Schilder mit Hinweisen wie: „Dieser Eingang ist nur von 7 bis 23 Uhr geöffnet.“
Heute ist das nicht mehr zulässig – aus Sicherheitsgründen. Nach einem Feuer im U-Bahnhof Deutsche Oper im Sommer des Jahres 2000 wurde entschieden, dass dieser und alle weiteren Tunnelbahnhöfe, die nur einen Ausgang haben, einen zweiten bekommen müssen. Wohl selten hatte eine Regelung des vorbeugenden Brandschutzes so unmittelbare positive Auswirkungen für die Fahrgäste.
Schaffner in Straßenbahnen und Bussen, Fahrkartenverkäufer und Sperrenpersonal auf den Bahnhöfen, Zugabfertiger, Stationsaufsichten und Zugbegleiter – sie alle wurden einst als unentbehrlich erachtet. Sie verschwanden, weil Arbeitskräfte fehlten oder zu teuer wurden und die öffentlichen Verkehrsbetriebe nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter ins Minus fuhren: Ehedem war ÖPNV nicht nur kostendeckend gewesen, er sollte sogar Gewinne erwirtschaften. Nun wuchs das Einnahmendefizit beständig und wurde zum Politikum. Dass Hunderte Millionen Mark an Steuergeldern für den ÖPNV ausgegeben wurden, galt vielen in West-Berlin nicht als Selbstverständlichkeit, da Teil der Daseinsvorsorge der öffentlichen Hand mit ökologischem, sozialem, volkswirtschaftlichem Nutzen für die Allgemeinheit, sondern als Problem, das beseitigt werden sollte.
Wie beim Personal (und damit oft beim Service) wurde auch beim Angebot gespart. Hinzu kamen Preiserhöhungen, bei der BVG-West ab den siebziger Jahren fast jährlich. Zeitweise erhielt man für immer mehr Geld immer weniger. Der ÖPNV wurde so unattraktiver, die Fahrgastzahlen sanken weiter, das BVG-Defizit stieg weiter.
Wieder dauerte es Jahrzehnte, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass man diesen Teufelskreis durchbrechen müsste – und welcher Weg dafür nahe lag: Ein angebotsorientierter ÖPNV, der nicht die Bedürfnisse all jener, die sich (noch) kein eigenes Auto leisten können, gerade mal so abdeckt, sondern mit einem attraktiven Angebot auch Umsteiger vom MIV anlockt. Dies auch aus Gründen des Umweltschutzes, der Energieeinsparung (heute würde man sagen „Effizienz“), zwecks Reduzierung des Autoverkehrs – alles schon vor dreißig, vierzig Jahren ebenso diskutiert und als notwendig erkannt wie heute.
Wieder spielte dabei die Tarifgestaltung eine wesentliche Rolle: Die „Umweltkarte“ bedeutete eine radikale Preissenkung und eine radikale Vereinfachung des Fahrscheinverkaufs. Eine Monats- oder Jahreskarte für das Gesamtnetz, zu bis dahin unvorstellbar niedrigem Preis, und dann auch noch (was viel unvorstellbarer war) übertragbar.
Es war ein weiterer Schritt auf dem lange immer wieder von Denkblockaden versperrten Weg, Tarif und Fahrscheinverkauf immer kundenfreundlicher, aber auch für das Unternehmen effizienter zu gestalten: Nicht mehr kleinkariert jede Fahrt möglichst genau berechnen, sondern möglichst viele Menschen dazu animieren, einmal im Monat eine erschwingliche Pauschale im Voraus zu zahlen. Was auch bedeutet: Die Leute zur möglichst häufigen Benutzung von Bussen und Bahnen zu animieren statt sie abzuschrecken. Zugleich entspricht dies dem in vielen Bereichen anzutreffenden Trend, Artikel in immer größeren Gebinden zu kaufen oder günstige Pauschalen anzubieten. Dabei änderte sich allerdings auch die Position vieler ÖPNV-Nutzer: Wer bereits bezahlt hat, erwartet um so mehr eine möglichst optimale Leistung der Verkehrsbetriebe.
Bemerkenswerterweise war man selbst in Ost-Berlin nicht in der Lage, sich von den alten Denkmustern zu verabschieden: Ob Arbeitskräfte und Papier knapp waren, ob Fahrgäste in die Zahlboxen statt einer Münze einen Knopf warfen oder sich dort ganz ohne „Gegenleistung“ einen Fahrschein nahmen, ob der Preis von 20 Pfennig für einen Einzelfahrschein ohnehin nur wie ein symbolischer Obolus wirkte – an die Einführung eines kostenlos nutzbaren ÖPNV wurde nicht einmal gedacht. Stattdessen schlug man sich weiter mit einer hohen Zahl von Verkaufsvorgängen herum, an der wiederum auch die Tarifgestaltung schuld war: So kostete eine S-Bahn-Monatskarte für die Preisstufe 1 mit 10 Mark so viel wie fünfzig Einzelfahrscheine. Bei der BVG-Ost zahlte man 9 Mark im Monat für eine einzige Linie. Entsprechend unattraktiv und relativ wenig verbreitet waren Zeitkarten.
Im West-Berlin der achtziger Jahre, das jeden Winter durch die vielen Ofenheizungen in Schwefeldioxidwolken eingehüllt war und wo es wiederholt Smogalarm gab, hörte man auf die Forderung nach einer Umweltkarte jenes Argument, das heute stets einem kostenlosen ÖPNV entgegengestellt wird: Nicht finanzierbar.
Ähnliches galt für die Wiedereinführung des 1944 abgeschafften Kurzstreckentarifs: Den immer happigeren Preis für einen Einzelfahrschein auch dann berappen zu müssen, wenn man nur ein paar Stationen fahren wollte, machte Busse und Bahnen noch unattraktiver. Erst ab 1988 gab es in West-Berlin wieder einen flächendeckenden Kurzstreckentarif. Dabei war die Idee nicht neu gewesen: Schon der 1933 bei der BVG eingeführte Teilstreckentarif (der bei der U-Bahn wie heute die Fahrt bis zur dritten Station erlaubte) sollte die Fahrgastzahlen und damit auch die Einnahmen erhöhen.
Richtig ernst mit der Umweltkarte machte erst der 1989/90 amtierende rot-grüne Senat. Welchen Effekt ihre Einführung (für damals 65 Mark im Monat oder 600 Mark im Jahr, bei Einmalzahlung 580 Mark, zuvor: 99 bzw. 990 bzw. 970 Mark) auf die Fahrgastzahlen hatte und ob sie wie erhofft auch Mehreinnahmen generierte, ließ sich allerdings nicht ermitteln, da der Fall der Mauer die Verhältnisse völlig veränderte.
Heute ist die einst „nicht finanzierbare“ Umweltkarte eine Selbstverständlichkeit. Allerdings wurde sie vom Preisniveau her ziemlich weit vom ursprünglichen Gedanken entfernt: 81 Euro im Monat für ganz Berlin statt umgerechnet 32,33 Euro anno 1989 für den Westteil der Stadt.
Überhaupt hat sich die Benutzung von Bussen und Bahnen im Laufe der letzten fünfzig Jahre stark verteuert. Für einen U-Bahn-Fahrschein zahlte man im West-Berlin des Jahres 1968 40 Pfennig, also aus heutiger Sicht unglaubliche 20,5 Cent. Eine Sammelkarte für fünf U-Bahn-Fahrten kostete 2 Mark = 1,02 Euro, ein Einzelfahrschein mit zweifacher Umsteigeberechtigung wie erwähnt 70 Pfennig = 35,8 Cent. Heute schlägt ein vergleichbares Ticket mit 2,80 Euro zu Buche, also rund dem Achtfachen. Und nein, das Geld hat in diesen fünfzig Jahren nicht so viel an Kaufkraft verloren, vor allem aber hat sich das Durchschnittseinkommen nicht verachtfacht. Die Kostenexplosion bei den ÖPNV-Fahrpreisen ist allenfalls mit jener bei den Mieten zu vergleichen.
Stets wird dann angeführt, heute stünden ja modernere Fahrzeuge zur Verfügung, gäbe es ein größeres Angebot. Gibt es das wirklich? Und ist es wirklich komfortabler, mit schaukelnden Gelenkbussen und (mittlerweile sogar auf Metrolinien) kurzen Eindeckern durch Berlin zu fahren, weil die BVG sich heute nur noch rund vierhundert Doppeldecker leisten mag, derweil allein durch West-Berlin einst rund tausend fuhren? Hält außer BVG-Chefin Nikutta noch jemand Plastiksitze für bequemer als Polsterbänke? Ist es ein Fortschritt, wenn auf Bahnhöfen das einzige Personal die Betreiber von Kiosken sind, die oft bis tief in die Nacht hinein die Stellung halten und so den Fahrgästen zumindest die Illusion verschaffen, jemand könnte ihnen im Notfall zu Hilfe eilen? Und liegt eine regelmäßige Modernisierung des Fahrzeugparks (die in Berlin bekanntlich in den letzten zwanzig Jahren sträflich vernachlässigt wurde) nicht auch im ureigensten Interesse des Verkehrsbetriebs, Stichworte Instandhaltungskosten, Ersatzteilbeschaffung?
Vor allem: Schreckt ein hoher Preis für einen Einzelfahrschein nicht Gelegenheitskunden ab, also insbesondere Autobenutzer, die zum häufigeren Umstieg auf den ÖPNV angeregt werden sollten? Wirkt auf sie das Angebot einer Monatskarte für 81 Euro besonders verlockend? Die Wochenkarte ist gar mit 30 Euro so teuer, dass sie sich nur rentiert, wenn man an jedem ihrer sieben Geltungstage mindestens zwei Sammelkartenabschnitte im Wert von 2,25 Euro verbraucht hätte.
Deutlich anders macht man es in Wien, das wie Berlin wächst: In Österreichs Hauptstadt, die bald wieder zwei Millionen Einwohner zählen dürfte, kostet das ÖPNV-Jahresabo einen Euro pro Tag. Jedenfalls bei der per Einmalzahlung erworbenen, nicht übertragbaren Jahreskarte (in Teilzahlung 396 Euro). Der Preis in Berlin liegt mit 761 Euro mehr als doppelt so hoch.
Da kommt natürlich der Einwand, dass die Stadt kleiner wäre. Tatsächlich umfasst das Wiener Stadtgebiet nur rund 415 Quadratkilometer, das Berliner rund 891. Aber bewegt sich der durchschnittliche Berliner wirklich auf diesem gesamten Areal oder gibt es nicht viele Ecken der Stadt, in die er jahrelang nicht kommt? Hätte er also etwas davon, wenn – der Logik „größeres Stadtgebiet, höherer Preis“ entsprechend – viele Vororte inklusive Potsdam eingemeindet würden und dann der Zeitkartenpreis um weitere zwanzig oder dreißig Prozent stiege? Wäre es nicht kundenfreundlicher, auch wieder Zeitkarten nur für einzelne Segmente des Stadtgebiets anzubieten? Und unterbleibt dies wirklich nur, um den Tarif nicht unübersichtlicher zu machen, oder doch vor allem, um nicht die Einnahmen zu reduzieren?
In Berlin scheint man sowieso sehr auf Einnahmenmaximierung bedacht: Also wurde der simple Zeittarif (zwei Stunden lang fahren wie und wohin man will) wieder abgeschafft, obwohl er auch Diskussionen bei Kontrollen ersparen würde. Stattdessen klammern sich BVG und S-Bahn noch immer wie in der Zwischenkriegszeit ans Verbot von „Rund- und Rückfahrten“.
Treuherzig wirbt die BVG: „Eine Tageskarte lohnt ab der dritten Fahrt.“ Was allerdings nur stimmt, wenn man keine Sammelkarte mit vier Fahrten (9 Euro) benutzt: Drei Fahrten mit der kosten zusammen 6,75 Euro und damit weniger als die Tageskarte für 7 Euro. Und während diese in Berlin lediglich bis drei Uhr morgens gilt, werden in anderen Städten 24-Stunden-Karten angeboten.
So auch in Wien, wo es außerdem 48- und 72-Stunden-Tickets gibt, man zum Preis von letzterem (17,10 Euro) aber auch schon eine Wochenkarte bekommt. Zugegebenermaßen besitzt das dortige U-Bahn-Netz nur eine Streckenbetriebslänge von 83 Kilometern, also etwa jene Größe, die das Berliner bereits 1930 erreicht hatte. Aber anders als in Berlin wird am Bau neuer U-Bahn-Strecken in Wien eifrig gearbeitet. Allein in diesem Jahrhundert sind bisher fünf neue Abschnitte mit insgesamt über 20 Kilometer Länge eröffnet worden. Dabei geht der U-Bahn-Bau nicht (mehr) zu Lasten der Straßenbahn, deren Netz fast so groß ist wie das ihrer Berliner Schwester, sich aber natürlich über die gesamte Stadt erstreckt.
Beim Ausbau der Schienennetze hat man in Wien erklärtermaßen auch den demographischen und den Klimawandel im Auge: Bei 35 Grad im Schatten oder anderen Wetterextremen träumen wohl nur hartgesottene Fahrradfans von Siebzig- und Achtzigjährigen, die mit dem Drahtesel längere Strecken zurücklegen.
Es gibt also viele Gründe, über einen kostenlos nutzbaren ÖPNV nachzudenken, wie auch immer man ihn nennen und wie auch immer man ihn finanzieren möchte. Natürlich wäre die Umsetzung nicht von heute auf morgen möglich, zumal die Verkehrsbetriebe schon mit dem Fahrgastwachstum der letzten Jahre ringen. Außerdem befinden sich BVG und Berliner S-Bahn bekanntlich nicht in bestem Zustand.
Doch schon heute kann man über neue Formen der Tarifgestaltung und der ÖPNV-Finanzierung nachdenken (auch in einem Land, wo es manche für eine Zumutung halten, monatlich 17,50 Euro pro Haushalt für einen nicht an Kommerzinteressen orientierten Rundfunk zu zahlen), kann nachrechnen, was sich durch einen Verzicht auf den Verkauf, die Entwertung und die Kontrolle von Fahrscheinen einsparen ließe und was ökologisch und volkswirtschaftlich zu gewinnen wäre.
Vielleicht wird ein voll durch Steuern oder Abgaben finanzierter ÖPNV in dreißig, vierzig Jahren so selbstverständlich sein wie es heute die Umweltkarte ist. Und vielleicht wird man dann über das ganze Theater mit Fahrscheinautomaten, Kartenlesegeräten, Entwertern und Kontrolleuren so den Kopf schütteln, wie wir heute beim Gedanken an drei Schaffner in einem Straßenbahnzug, die jeden Fahrschein viermal lochen und kiloweise Kleingeld mit sich herumschleppen mussten.
Jan Gympel
aus SIGNAL 3/2018 (August 2018), Seite 17-21