EU-Hochgeschwindigkeits-Schienennetz

Ein unwirksamer Flickenteppich ohne realistischen langfristigen Plan

Einem neuen Bericht des Europäischen Rechnungshofs zufolge hat der derzeitige langfristige Plan der EU für den Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr nur geringe Chancen auf Verwirklichung, und es gibt keinen tragfähigen EU-weiten strategischen Ansatz. Im Bericht wird ausgeführt, dass es sich beim europäischen Hochgeschwindigkeitsschienennetz lediglich um einen Flickenteppich aus Strecken der einzelnen Mitgliedstaaten handelt, die mangels einer sachgemäßen grenzübergreifenden Koordinierung jeweils isoliert geplant und gebaut werden. Das Ergebnis sind schlechte Verbindungen. Die Europäische Kommission verfügt weder über rechtliche Instrumente noch über Befugnisse im Rahmen der Entscheidungsfindung, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten bei der Schaffung des Kernnetzes rasche Fortschritte erzielen.


Europäischer Rechnungshof

4. Nov 2018

Seit dem Jahr 2000 hat die EU 23,7 Milliarden Euro für die Kofinanzierung von Investitionen in Hochgeschwindigkeitsstrecken bereitgestellt. Die Prüferinnen und Prüfer besuchten sechs Mitgliedstaaten (Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, Portugal und Österreich) und analysierten Ausgaben für über 5000 km Hochgeschwindigkeitsstrecken, was rund 50 Prozent aller dieser Strecken in der EU entspricht. Sie stellten fest, dass – auch wenn die Länge der Hochgeschwindigkeitsnetze in den einzelnen Mitgliedstaaten wächst – das Ziel der EU, bis 2030 die Länge der Hochgeschwindigkeitsstrecken auf 30 000 km zu verdreifachen, voraussichtlich nicht erreicht wird.

„Was gebaut wurde, entspricht einem ineffizienten Flickenteppich aus Strecken der einzelnen Mitgliedstaaten, die nur unzureichend miteinander verbunden sind“, so Oskar Herics, das für den Bericht zuständige Mitglied des Europäischen Rechnungshofs. „Hochgeschwindigkeitsstrecken, welche die Staatsgrenzen überschreiten, zählen nicht zu den Prioritäten bei den Bauvorhaben der einzelnen Mitgliedstaaten, und der Kommission fehlen die Befugnisse, diese Projekte durchzusetzen. Das bedeutet, dass mit der EU-Kofinanzierung ein geringer europäischer Mehrwert erzielt wird.“

Baugrube für das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Dieses Projekt hat mit seinen steigenden Kosten inzwischen einen zweifelhaften Spitzenplatz erreicht. Der Europäische Rechnungshof schreibt dazu: „Infrastruktur für Hochgeschwindigkeitsstrecken ist teuer: Im Durchschnitt kosteten die geprüften Strecken 25 Millionen Euro pro km. Bei vier der zehn geprüften Strecken werden sich pro eingesparter Minute Fahrzeit Kosten von mehr als 100 Millionen Euro ergeben. Am höchsten fällt dieser Wert für die Strecke Stuttgart—München aus, wo sich die Kosten pro eingesparter Minute auf 369 Millionen Euro belaufen werden.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Foto: IGEB/hm

Entscheidungen zum Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken beruhen oftmals auf politischen Erwägungen, und Kosten-Nutzen-Analysen werden nicht systematisch eingesetzt, um Grundlagen für Entscheidungen zu schaffen, bei denen die Kosteneffizienz berücksichtigt wird. In vielen Fällen verkehren die Züge derzeit auf besonders schnellen Hochgeschwindigkeitsstrecken mit Durchschnittsgeschwindigkeiten, die mit nur 45 Prozent der Höchstgeschwindigkeit wesentlich niedriger sind als die Geschwindigkeiten, die auf den Strecken gemäß Auslegung gefahren werden könnten. Wenn die Durchschnittsgeschwindigkeiten so weit unter den Auslegungsgeschwindigkeiten liegen, ergeben sich nach Auffassung des Hofes Fragen hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung.

Infrastruktur für Hochgeschwindigkeitsstrecken ist teuer: Im Durchschnitt kosteten die geprüften Strecken 25 Millionen Euro pro km. Bei vier der zehn geprüften Strecken werden sich pro eingesparter Minute Fahrzeit Kosten von

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mehr als 100 Millionen Euro ergeben. Am höchsten fällt dieser Wert für die Strecke Stuttgart—München aus, wo sich die Kosten pro eingesparter Minute auf 369 Millionen Euro belaufen werden. Demgegenüber könnte eine ausreichende Berücksichtigung der alternativen Lösung, bestehende herkömmliche Strecken aufzurüsten, Einsparungen in Milliardenhöhe ermöglichen.

Kostenüberschreitungen und Verzögerungen waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Aus Kostenüberschreitungen bei Investitionen für den Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr ergibt sich kein Schaden für den EU-Haushalt, da die Kofinanzierung gedeckelt ist; die Kostenüberschreitungen gehen zulasten des Haushalts des jeweiligen Mitgliedstaats. Die Kostenüberschreitungen insgesamt beliefen sich für die geprüften Projekte und Strecken auf 5,7 Milliarden Euro auf Projektebene bzw. 25,1 Milliarden Euro auf Streckenebene. Bei acht der 30 geprüften Projekte kam es zu Verzögerungen von mindestens einem Jahr, und bei fünf der zehn geprüften Strecken waren Verzögerungen von mehr als 10 Jahren zu verzeichnen.

Wie der Hof unter Verweis auf einschlägige Richtwerte darlegt, sollte eine Hochgeschwindigkeitsstrecke im Idealfall neun Millionen Fahrgäste pro Jahr befördern, um erfolgreich zu sein. Auf drei der sieben vom Hof geprüften fertiggestellten Strecken war die Anzahl der beförderten Fahrgäste jedoch wesentlich niedriger. Das bedeutet, dass bei diesen Strecken ein hohes Risiko einer unwirksamen Verwendung der EU-Kofinanzierungsmittel in Höhe von 2,7 Milliarden Euro besteht. Darüber hinaus war bei neun der 14 geprüften Strecken und grenzübergreifenden Verbindungen die Anzahl an potenziellen Fahrgästen innerhalb ihres Einzugsgebiets nicht hoch genug, als dass sie erfolgreich sein könnten.

Bereits im Jahr 2010 rief der Hof dazu auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um die technischen, administrativen und sonstigen Hindernisse zu beseitigen, die der Interoperabilität im Schienenverkehr entgegenstehen. Er musste jedoch feststellen, dass diese Hindernisse im Jahr 2018 immer noch vorhanden sind. Dies führt dazu, dass ein wirklich nahtloser und wettbewerbsfähiger grenzübergreifender Hochgeschwindigkeitsbetrieb in der EU nicht möglich ist. In Frankreich und Spanien gibt es noch keinen freien Zugang zum Markt für den Schienenpersonenverkehr. In Italien sowie – in geringerem Maße – in Österreich, wo Wettbewerb zwischen verschiedenen Eisenbahnunternehmen auf einer Strecke besteht, wurden die Dienste häufiger und in höherer Qualität angeboten, während die Fahrpreise niedriger waren. Die Wirksamkeit der Hochgeschwindigkeitsdienste insgesamt könnte durch integrierte Fahrkartensysteme sowie durch eine bessere Zugänglichkeit der Bahnhöfe und verbesserte Verbindungen gesteigert werden.

Die Prüfer empfehlen der Europäischen Kommission

Der Europäische Rechnungshof stellt seine Sonderberichte dem Europäischen Parlament und dem Rat der EU sowie anderen betroffenen Parteien wie nationalen Parlamenten, Wirtschaftsakteuren und Vertretern der Zivilgesellschaft vor. Der weitaus größte Teil der Empfehlungen, die der Hof in seinen Berichten ausspricht, wird umgesetzt. Dieses hohe Maß an Umsetzung macht deutlich, welchen Nutzen die Arbeit des Hofes für die Bürgerinnen und Bürger der EU hat.

Der Sonderbericht Nr. 19/2018 „Europäisches Hochgeschwindigkeitsschienennetz: keine Realität, sondern ein ineffizienter Flickenteppich“ ist auf der Website des Hofes (www.eca.europa.eu) abrufbar.

Europäischer Rechnungshof

aus SIGNAL 4/2018 (November 2018), Seite 28-29