Titelthema i2030
Seit der Eröffnung der ersten preußischen Eisenbahn 1838 war die Branche von zügellosem Wachstum geprägt. Nach Erlass des Gesetzes über Kleinbahnen und Privatanschlussbahnen am 28. Juli 1892 war fast jedermann in der Lage, Anschlussverbindungen zum königlich preußischen Eisenbahnnetz herzustellen. Überall wurden Strecken gebaut. Kaum ein Städtchen, das etwas auf sich hielt, konnte auf einen Bahnanschluss verzichten. Noch heute zeugen in vielen Orten Straßennamen von Bahnhöfen und Bahndämmen, wo schon lange keine Räder mehr rollen. Erst der Zweite Weltkrieg setzte dem ein jähes Ende. Viele Nachschubwege wurden entweder von den Alliierten zerbombt oder von den sich zurückziehenden deutschen Truppen zerstört. Viele der Schäden wurden nach dem Krieg zunächst nur notdürftig repariert. Je relevanter eine Strecke für den alliierten Truppentransport, desto besser und schneller.
15. Jan 2019
Jedoch ging beim Wiederaufbau nicht jede Besatzungsmacht gleichermaßen nachhaltig vor. Eher im Gegenteil. Insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone wurden viele intakte Gleisanlagen als Reparationsleistung abgebaut und gen Osten abtransportiert. Viele Stecken verschwanden dabei zeitweise gänzlich von der Landkarte. Etliche wurden zunächst teilweis eingleisig, später dann zweigleisig wieder aufgebaut. Bisweilen zog sich das bis in die 1980er Jahre hin. Noch heute leiden insbesondere S-Bahn-Teilstrecken, aber auch Regionalzug-Linien unter der Eingleisigkeit.
Nach 1945 kam der Kalte Krieg. Dieser mündete schließlich in die Teilung der Besatzungszonen in zwei deutsche Staaten und letztendlich in die Abschottung durch eine Mauer. Am 13. August 1961 wurden viele noch bzw. wieder bestehende Verbindungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland nebst West-Berlin gekappt. Da die Deutsche Reichsbahn im Osten schon in den 1950er Jahren einen Eisenbahn-Außenring um West- Berlin zog, war ein Anbinden von Ost-Berlin an die im Westen der DDR befindlichen Bezirke Schwerin, Magdeburg, Potsdam, Halle und Leipzig ohne weiteres möglich.
Das S-Bahn-Netz wurde zweigeteilt. Während man im Osten den Verkehr stückchenweise ausbaute, wurde in West-Berlin die S-Bahn regelrecht boykottiert, um den Devisenfluss durch Fahrgeldeinnahmen in den Osten zu behindern. Parolen wie „Der S-Bahn-Fahrer zahlt den Stacheldraht“ bewegten die Menschen zur BVG, die ab 1961 umfangreich Parallelverkehre einrichtete, um die Menschenmengen der S-Bahn
„abnehmen“ zu können. Der Umbau West-Berlins in eine „autogerechte Stadt“ tat sein Übriges zum Niedergang. Die S-Bahn schrieb Verluste in dreistelliger Millionenhöhe, verwahrloste zusehends und nach dem Eisenbahnerstreik stellte die Deutsche Reichsbahn 1980 diverse Strecken (z. B. Wannseebahn und Siemensbahn) ein. Als 1984 die West-Berliner BVG den Betrieb der wenigen übriggebliebenen Strecken in den Westsektoren übernahm, waren diese nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Dann kam 1989 die Wende und eiligst wurden Provisorien geschaffen und große Pläne geschmiedet. Der Bund versicherte, die finanziellen Lasten der Beseitigung von infrastrukturellen Teilungsschäden zu übernehmen. Prima! Die großen Verkehrsprojekte Deutsche Einheit liefen dann auch zentral geplant und gesteuert verhältnismäßig zügig an. Die Stadtbahn wurde saniert, das S-Bahn-Netz im Westteil Berlins wieder auf Vordermann gebracht. Sogar einen neuen Hauptbahnhof hat man fertiggestellt und letztendlich Berlin mit dem Rest der Welt verbunden. Nur nicht so recht mit Brandenburg. Allenfalls dort, wo bereits Strecken existierten oder fernverkehrsrelevante Strecken neu gebaut wurden, rollt heute der Regionalverkehr. An einigen Stellen hat man lediglich mit der S-Bahn den Sprung über die Stadtgrenze zum nächsten Städtchen geschafft, um dort mit dem Regio den weiteren Weg ins Land zu bestreiten.
Hauptursache dafür sind unterschiedliche lokale Präferenzen. Während das Land Brandenburg gern seine Städte mit dem Regionalexpress an die Berliner Innenstadt anbinden will, favorisiert Berlin die Umlandanbindung mit der S-Bahn. Da jedes Bundesland für sich nur bis zur Landesgrenze planen kann, ist dort mancherorts Schluss. Entweder muss man umsteigen oder lange Umwegfahrten in Kauf nehmen. Beste Beispiele sind hier der RE 5 aus Rostock, der hinter Oranienburg die Biege über das Karower Kreuz machen muss, oder der RE 6, der seine Fahrgäste aus Wittenberge, Neuruppin, Velten nach Hennigsdorf zur S-Bahn bringt, umkehrt und dann einen großen Umweg über Falkensee und Spandau macht, um zum Bahnhof Gesundbrunnen zu gelangen. Die Fahrgäste mit der S-Bahn aus Hennigsdorf sind derweil schon längst angekommen.
Erst langsam wächst die Einsicht, dass die Verkehrsprobleme nur zu lösen sind, wenn beide Verkehrsmittel sich ergänzen: Die S-Bahn mit der feinen Erschließung des Umlandes und der Regionalexpress mit der schnellen Verbindung der regionalen Zentren.
Erschwert wird die aktuelle Verkehrssituation nicht nur durch lokalpolitische Befindlichkeiten, sondern auch durch schwerwiegende bundespolitische Entscheidungen in der Vergangenheit: Die Bahnreform. Seitdem wird mit spitzem Bleistift gerechnet, jede Ausgabe wiederholt auf den Prüfstand gestellt. So kam es, dass ganze Strecken stillgelegt und vielerorts Gleisanlagen zurückgebaut wurden, die nicht zwingend erforderlich schienen. So manche Weichenverbindung und Ausweichmöglichkeit verschwand, und die Streckenkapazität sank. Ein Beispiel ist der Bahnhof Kremmen, der dank der dort endenden RB 55 neben einem einzigen durchgehenden Gleis für den RE 6 nur noch eine Weiche und ein Stumpfgleis behalten hat (mehr dazu siehe Seite 15).
Der zweite große Kampfplatz mit dem Kleingeld sind die Regionalisierungsmittel. Der Bund finanziert damit die Regionalverkehre der Bundesländer. Bedauerlicherweise haben deren Sparzwänge und Haushaltslöcher teilweise zu Zweckentfremdungen geführt (siehe Signal 4/2014). Folglich standen weniger Mittel für die Bestellung und Entwicklung von SPNV-Angeboten zur Verfügung. Im Falle Brandenburgs summieren sich die Fehlbeträge auf über eine Milliarde Euro. Damit hätte man recht einfach zahlreiche Verbesserungen vornehmen können.
Kleinere Verbesserungsmaßnahmen ließen sich vielleicht mit Landesmitteln bestreiten. Da Berlin im Zentrum mehrerer Transeuropäischer Korridore liegt, könnten für Projekte mit Verbesserungspotenzial bei internationalen Verbindungen auch EU-Fördermittel angezapft werden. Doch die finanzielle Hauptlast würde beim Bund liegen. Die Sonderzuwendungen für Ost-West-Lückenschlüsse gibt es nicht mehr, sie müssten über die begrenzten Mittel des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes bzw. des Entflechtungsgesetzes kompensiert werden. So manche enthusiastische Bauplanung könnte da am Geldmangel scheitern.
Mit den Fernverkehrs- und Nahverkehrszügen ist man ja schon recht schnell unterwegs, wenn es direkt geht. Der Geschwindigkeitsvorteil gegenüber dem Individualverkehr schwindet jedoch oft, wenn man Umsteigen muss und es mit den Anschlüssen der Züge nicht funktioniert. Daher hat sich das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur auf die Fahnen geschrieben, einen integralen Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild zu etablieren: den Deutschland-Takt. Das heißt, dass an allen relevanten regionalen Knotenpunkten eine feste 15-, 30- oder 60-Minuten-Taktung aller Linien so ausgerichtet sein soll, dass ein unmittelbarer Linienwechsel möglich ist.
Die Vor- und Nachteile eines solchen Systems werden heftig diskutiert und sollen hier nicht näher erörtert werden. Unstrittig ist jedoch, dass dieses politisch priorisierte Ziel bereits seine Schatten voraus wirft und Einfluss auf die aktuellen regionalen Planungen nimmt. Denn aktuelle Fahrplanlagen, die sich an den örtlichen Gegebenheiten – insbesondere infrastrukturellen Engpässen – orientieren, könnten in dem bundesweiten Fahrplankontext morgen schon nichtig sein. Hier entsteht eine weitere Herausforderung, die Eisenbahninfrastrukturen in Berlin und Brandenburg so flexibel zu gestalten, dass Verschiebungen von Fahrplanlagen nicht beispielsweise durch Eingleisigkeiten blockiert werden. Auch die Fahrgeschwindigkeiten spielen eine immer wichtigere Rolle. Eine 70-minütige Streckenfahrzeit passt schlecht in ein Halbstunden- bzw. Stundenraster. Hier müsste dann also be- oder entschleunigt werden, um die gewünschte Punktlandung zu erzielen. Das aktuelle Beispiel RE 2 Berlin—Cottbus zeigt deutlich, dass der sogenannte Nullknoten Cottbus derzeit nur haltbar ist, wenn Zwischenhalte ausfallen.
Doch wie soll man nun im Rahmen von i2030 auf den Deutschland-Takt eingehen, wenn dieser selbst noch in der Findungsphase steckt? Es gibt zwar schon einen recht detaillierten Entwurf, jedoch ist der mitunter weitergehender im Verkehrsleistungsumfang, als so mancher Landesnahverkehrsplan es mit seinem beschränkten Regionalisierungsmittelbudget zuließe.
Mehr zum Deutschland-Takt u. a. unter www.deutschland-takt.de
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 5-06/2018 (Dezember 2018/Januar 2019), Seite 7-8