Ausgrenzung von Reisenden

Bahn streicht weitere Fernzüge zur Ostsee

Fernzüge im Taktverkehr von Berlin und Brandenburg zur Ostsee gibt es nur noch auf der Strecke nach Stralsund. Aber auch dieses Angebot will die Deutsche Bahn 2011 weiter einschränken. Reisenden, die auf Sitzplätze oder Platz für Gepäck und Kinderwagen angewiesen sind, wird damit die Möglichkeit genommen, künftig noch mit der Bahn zur Ostsee zu fahren.

IC
IC von Berlin zur Ostsee. Im Sommer 2010 fahren die Züge letztmalig im Zwei-Stunden-Takt. Im Sommer 2011 werden die meisten Reisenden auf die schon jetzt oft überfüllten Regionalexpesszüge ausweichen oder zuhause bleiben müssen. Foto: Marc Heller

Berlin-Gesundbrunnen oder Bernau bei Berlin an einem schönen Sommermorgen. Der RE 3 nach Stralsund fährt ein. Alle Sitzplätze und die meisten Stehplätze sind belegt. Einzelreisende und kleine Gruppen quetschen sich noch in den Zug hinein. Familien mit kleinen Kindern und großem Gepäck, alte Menschen mit kleinem Gepäck und junge Menschen mit großem Fahrrad müssen zurückbleiben. Mit einem Sitzplatz dürfen Zusteiger nördlich des Berliner Hauptbahnhofs ohnehin nicht rechnen, aber an bestimmten Tagen schaffen sie es nicht einmal, in den Zug zu kommen.

Bisher können Reisende von Berlin und Brandenburg zur Ostsee wenigstens noch auf einige Fernzüge ausweichen. Dort gibt es mehr Platz für Gepäck, und bei Reservierung gibt es einen garantierten Sitzplatz. Einige haben die Fernzüge Berlin—Stralsund sogar genutzt, um nach Rostock zu kommen, weil dorthin von Berlin aus schon seit Jahren fast nur noch Regionalexpresszüge fahren. Zwar gibt es ein ICE-Zugpaar, aber dieses ist mit seiner Fahrplanlage (Ankunft in Rostock erst 20.33 Uhr, Abfahrt bereits 7.24 Uhr) für Reisen von Berlin zur Ostsee unattraktiv. Günstiger liegt das Angebot des privaten Interconnex-Zugpaares.

Ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2010 soll das Angebot der Fernzüge von Berlin nach Stralsund auf zwei Zugpaare zusammengestrichen werden. Und ob die noch lange verkehren, ist auch ungewiss. Das bedeutet, dass noch mehr Fahrgäste damit rechnen müssen, in den Regionalzügen keinen Sitzplatz zu bekommen oder sogar zurückzubleiben. Unter diesen Umständen wird keine Familie und kein alter Mensch eine Urlaubsreise mit der Bahn machen. Da aber viele Menschen in Berlin kein Auto haben, auf das sie ausweichen können, werden sie gezwungen sein, sich andere Ziele oder andere Tage zu suchen. Da Letzteres insbesondere für an die Schulferien gebundene Familien ausgeschlossen ist, wird so manche Ostseereise ausfallen müssen.

Kurswagen
Kurswagen nach Kaliningrad (Königsberg) am Zug Berlin—Kiev in Berlin-Lichtenberg. In Poznań (Posen) wird der Kurswagen das erste Mal umgehängt. Nach einer zweiten Umhängung erreicht er Russland mit dem polnischen Nachtzug Gdynia (Gdingen)—Kaliningrad. Erfreulich ist, dass es dieses zum Fahrplanwechsel im Dezember 2009 eingestellte Angebot nun wieder gibt (s. SIGNAL 1/2010). Ärgerlich sind die fehlende Information und Bewerbung sowie die Befristung bis 3. Oktober 2010. Im Aushangfahrplan in Lichtenberg wird der Kurswagen überhaupt nicht erwähnt. Foto: Florian Müller

Die Streichung von Fernzügen zur Ostsee führt zu einer Ausgrenzung zahlreicher Menschen vom öffentlichen Reiseverkehr. Alle Bundesländer und hier besonders Berlin und Brandenburg sind aufgefordert, gegen eine solche vorrangig betriebswirtschaftlichen Kriterien unterworfene Angebotsplanung im Fernverkehr vorzugehen. Schließlich haben die Bundesländer der Bahnreform 1993 zugestimmt, die jetzt diese Folgen hat.

Da eine solche grundsätzliche Änderung aber Jahre dauern wird, muss kurzfristig beim Regionalverkehrsangebot reagiert werden. Das Land Brandenburg plant, durch zusätzliche Züge nach Prenzlau tagsüber einen Stundentakt von Berlin in die Uckermark zu gewährleisten. Das ist richtig, hilft aber den Reisenden zur Ostsee nicht.

Deshalb darf es kein Tabu sein, dass die Länder Berlin, Brandenburg und Mecklenburg- Vorpommern in einer solchen Sondersituation auch einmal Fernzugverkehr bestellen. Kritiker werden sofort einwenden, dass damit die DB-Politik im Fernverkehr noch unterstützt werde. Doch soll den Berlinern und Brandenburgern eine Urlaubsreise per Bahn zur Ostsee nur deshalb erschwert oder unmöglich gemacht werden, damit das Prinzip der Aufgabentrennung zwischen Nah- und Fernverkehr gewahrt wird? Sind die von den Ländern bestellten RE-Angebote von Berlin und Brandenburg zur Ostsee nicht längst ein kombiniertes Nah- und Fernverkehrsangebot? Natürlich. Nur der Reisekomfort ist weit von dem eines modernen Fernzuges entfernt.

Im Übrigen müssten die bestellten Fernverkehrsleistungen auch ausgeschrieben werden, so dass es keineswegs sicher ist, dass die DB aufgegebene Fernverkehrsangebote nach einer Bestellung noch selbst fahren würde. Die bevorstehende Ausschreibung der Regionalexpresslinien RE 3 und RE 5, die beide Berlin und Brandenburg mit der Ostsee verbinden, bietet die Möglichkeit, schon kurzfristig neue Wege zu beschreiten.

Berliner Fahrgastverband IGEB

aus SIGNAL 3/2010 (Juli 2010), Seite 5

 

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